Leonid Sabanejews Aufsatz „Prometheus von Skrjabin“ im Almanach „Der Blaue Reiter“


Trabajo, 2007

40 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Alexander N. Skrjabin und Leonid Sabanejew – Ein Komponist und sein Sprachrohr

3. Der Aufsatz „Prometheus von Skrjabin“ von Leonid Sabanejew
3.1. Die Kunstidee Skrjabins
3.2. „Prometheus“
3.2.1. Das „Farbenspiel“
3.2.2. Die Musik

4. Der Aufsatz im Kontext des Almanachs und seiner Zeit

5. Schlussbemerkung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Jahre 1912 erschien im Piper Verlag München der Almanach „Der Blaue Reiter“. Die beiden Maler Wassily Kandinsky und Franz Marc waren die Herausgeber. Der Band enthält neben Aufsätzen zur bildenden Kunst, Bühnenkunst und Musik 161 Reproduktionen von Kunstwerken europäischer wie außereuropäischer Herkunft, von antiken bis zu zeitgenössischen Werken. Außerdem ist dort erstmals Kandinskys Bühnenkomposition „Der gelbe Klang“ abgedruckt, und am Ende des Almanachs befinden sich Kompositionen Schönbergs, Bergs und Weberns. „Der Blaue Reiter“ war die einflussreichste Programmschrift der künstlerischen Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Autoren proklamierten die Freiheit der Formen, denen sich alle Künste bedienen: Der wahrhaftige künstlerische Ausdruck stehe über Formvorschriften, „das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht.“[1] Die abstrakte Malerei und die atonale Musik werden durch die Schrift mit einem Programm versehen. Die Grenzen zwischen den Kunstrichtungen werden durch die Idee des Gesamtkunstwerks, die einige Autoren in ihren Beiträgen thematisieren, geöffnet.

Einer dieser Artikel ist Leonid Sabanejews Beitrag „Prometheus von Skrjabin“. Der russische Musikschriftsteller Sabanejew erläutert darin die Kunstidee Skrjabins und wie er diese in seiner Orchesterkomposition „Prometheus“ umzusetzen versucht hat. Er geht dabei auf den „Versuch einer teilweisen Vereinigung der Künste“[2] durch Skrjabin ein: Dieser lässt im „Prometheus“ ein Farbenklavier tönen und setzt damit seine eigenen synästhetischen Erlebnisse in Farblichtprojektionen um. Außerdem erläutert Sabanejew das neuartige harmonische Konzept, das der Komposition zugrunde liegt: der sechstönige „mystische“ Akkord, der in Transpositionen die Harmonik des „Prometheus“ konstituiert. Skrjabins von verschiedenen Philosophien und Weltanschauungen getränkte Kunst- und Lebensauffassung ist dabei Grundlage der Interpretation Sabanejews.

In meiner Arbeit möchte ich betrachten, wie Sabanejew als Vermittler der Kunstidee Skrjabins fungiert und dabei auch andere Schriften Sabanejews über den Komponisten hinzuziehen. Darüber hinaus möchte ich darauf eingehen, welche Stellung der Artikel Sabanejews im Sammelband des „Blauen Reiters“ einnimmt, welche Funktion ihm zukommt und wie er im Verhältnis zu den anderen Arbeiten steht. Diese Punkte werden ein Kapitel über das Verhältnis Skrjabins zu Leonid Sabanejew, eine Analyse der Struktur und sprachlichen Mittel des „Prometheus“-Aufsatzes, und die Verortung des Aufsatzes im Kontext des „Blauen Reiters“ beleuchten.

Die Forschungsliteratur thematisierte bisher nur sehr unzureichend den Sabanejew-Aufsatz als Teil des Almanachs. Einzig die Arbeit von Jessica Horsley, eine Betrachtung des „Blauen Reiters“ als Gesamtkunstwerk, beschäftigt sich mit dem Aufsatz Sabanejews als Bestandteil dieses Kunstprojekts.[3] Ansonsten liegen viele Untersuchungen zu den Ausstellungen und der Veröffentlichung der „Blauen Reiter“-Redaktion vor, die allerdings nur oberflächlich die Funktion der einzelnen Beiträge behandeln. Auch die Sekundärliteratur zu Skrjabins „Prometheus“ erwähnt zwar fast durchgängig den Aufsatz Sabanejews als ersten Versuch einer analytischen Betrachtung dieses komplexen Werkes, integriert ihre Thesen über diesen Aufsatz jedoch nicht in den Kontext seiner Veröffentlichung. Dennoch demonstriert der Umstand, dass sich die Musikwissenschaft seit dem Erscheinen des Aufsatzes im „Blauen Reiter“ an Sabanejews Thesen abarbeitet, den großen Einfluss, den die Arbeit auf die Skrjabin-Rezeption genommen hat. Wenige Forschungsarbeiten – zumindest jenseits des russischen Sprachraums – widmen sich der Person Leonid Sabanejews und seiner musikschriftstellerischer Arbeit. Doch die deutschen Übersetzungen seiner Hauptwerke „Erinnerungen an Alexander Skrjabin“ und „Alexander Skrjabin – Werk und Gedankenwelt“, die in den letzten Jahren vorgelegt wurden,[4] weisen den Weg zu einer intensiveren Beschäftigung mit diesem einflussreichen Musikkritiker in der Skrjabin-Forschung außerhalb dessen Heimat.

2. Alexander N. Skrjabin und Leonid Sabanejew – Ein Komponist und sein Sprachrohr

Nach Leonid Sabanejews eigener Aussage lernte dieser Skrjabin als Dreizehnjähriger, also 1894 oder 1895,[5] auf einer der „musikalischen Versammlungen“ im Hause Sergej Tanejews kennen.[6] Anwesend waren bei diesen Zusammenkünften immer zahlreiche Musiker, „mit denen Wagners Werke durchgespielt wurden.“[7] Sabanejew wurde von Tanejew seit 1890 in Kontrapunkt und Komposition unterrichtet. Daneben erhielt er eine Klavierausbildung bei Nikolai Swerjew und studierte am Moskauer Konservatorium bei Pawel Schloezer Klavier. Parallel dazu absolvierte er ein Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Moskauer Universität. Als Musikkritiker betätigte er sich seit 1908, ab 1910 widmete er sich in besonderem Maße Aufsätzen über Alexander Skrjabin.[8] Sabanejew hatte engen persönlichen Kontakt mit seinem „Favorit[en] unter den Komponisten“.[9] Er schreibt euphorisch über die Zeit zwischen 1910 und 1915 in seinen Erinnerungen: „Darüber hinaus waren diese Jahre auch ein Höhepunkt in meinem eigenen Leben, denn es steht außer jeden Zweifel, daß diese Zeit […] für mich voll und ganz von Skrjabin, d.h. von der engen Freundschaft mit einem Genie, geprägt war.“[10] Weiter heißt es über die Jahre, die er in voller Hingabe zu Skrjabin verbrachte:

„Von nun an [ ab ca. 1910 ] stand mir das Haus Skrjabins nahe, wurde zu meinem eigenen. Ich selbst war wohl sein häufigster Besucher. Ich war geradezu süchtig auf ihn, und diese Sucht dauerte die ganzen fünf Jahre unserer näheren Bekanntschaft. Ich konnte keinen Tag ohne ihn sein, mußte ihn sehen, wenn auch nur für ein paar Minuten. So trafen wir uns also fast täglich, und nur die Tage seiner Konzertreisen oder die Sommerferien unterbrachen diese Symphonie des geistigen Austausches...“[11]

Dass es sich um keinen wirklichen „geistigen Austausch“ handelte, wenn er mit Skrjabin zusammenkam, dokumentieren viele Gespräche, die Skrjabin aus der Erinnerung niederschrieb. Vielmehr dozierte „das Genie“ über seine musikalischen und weltanschaulichen Ideen, während Sabanejew die Rolle des Schülers einnahm, der fast ausschließlich auf die Rolle fixiert ist, die Genialität der Gedanken zu bestätigen. Versuche des Widerspruchs wurden von Skrjabin diskussionslos zurückgewiesen. Sabanejew erinnert sich beispielsweise an folgenden Dialog während ihrer ersten Unterhaltung über synästhetische Prinzipien:

„,Als was empfinden Sie eigentlich dieses C-Dur?’, fragte er z. B. etwas herausfordernd und antwortete dann selbst, ohne die Antwort abzuwarten: ,Natürlich als rot, ganz klar, keine Frage […]’

,Mir aber erscheint dieses C-Dur doch eher weiß’, versuchte ich zu protestieren.

,Nein, das ist falsch,’ behauptete Alexander Nikolajewitsch, der Sache sehr sicher, ,das kann schon deshalb nicht sein, weil die weiße Farbe aus vielen anderen zusammengesetzt ist und eigentlich alle Spektralfarben enthält, während die Tonarten den Grundfarben des Spektrums entsprechen. C-Dur ist rot, und sofort sehen Sie auch, wie sich dann alles zusammenfügt. Das allein beweist schon, daß ich Recht habe.’“[12]

Sabanejew bezeichnet sich selbst als „voll in seinen [ Skrjabins ] Bann gezogen“ und beschreibt das innere Feuer des Komponisten, das auf seine Anhänger überschlug, sehr anschaulich im Zusammenhang mit dem ersten „Gedankenaustausch“ der beiden Freunde:

„In diesem Moment schien mir, es fehle nicht viel, und man würde meinen, daß dieser Verrückte, für den alles so klar und von Prinzipien untermauert war, der Einzige sei, der noch seine Gedanken beisammen hatte, während wir anderen alle, überflutet von Chaos und Unbekanntem, die Verrückten wären, denn wir waren ja von der Existenz des Einheitlichen und Prinzipiellen noch nicht überzeugt. Zum ersten Male hatte ich also mit den Untiefen der philosophischen Schemata Skrjabins zu tun – eine Begegnung, die mich völlig aus der Fassung brachte, so wie Skrjabin auch alle anderen durch seine Geradlinigkeit und wilde Verwegenheit, mit der er aus grundlegenden Prämissen bis zu den allerverstiegensten logischen Ableitungen vorzudringen pflegte, einfach Schachmatt setzte.“[13]

Diesen Äußerungen stehen andere unvereinbar gegenüber. So behauptet er an anderen Stellen für sich eine geistige Distanz zu den Theorien Skrjabins und stellt die Überzeugtheit – und damit auch die Überzeugungskraft – Skrjabins grundlegend in Frage:

„Skrjabin hatte Recht, als er mich einen Positivisten nannte. Ich interessierte mich für ihn wie für eine gewisse psychologische Gegebenheit. Seine Mystik blieb mir fremd, und ich zweifelte, daß sie von ihrer Machart her letztlich überzeugen würde. Andererseits muß gerechterweise eingeräumt werden, daß Skrjabin selbst mit seiner raffinierten Eleganz und seinem Unvermögen, auch nur die geringsten Unannehmlichkeiten zu ertragen, dieser Mystik ziemlich fernstand. ,Ist das etwa ein Mann mit ,der Weisheit des Geistes’?, fragte ich mich.“[14]

Diese Diskrepanzen lassen sich erklären, wenn man die Entstehungsumstände der „Erinnerungen“ heranzieht. In der Zeit nach der Oktoberrevolution in Russland war Sabanejew gezwungen, sich mit dem neuen System zu arrangieren, wollte er weiterhin in seinem Heimatland arbeiten und leben. Die 1925 veröffentlichten „Erinnerungen an Skrjabin“ konnten „nur mit einer gewissen inneren Selbstzensur geschrieben werden […]: D. h., dem mystischen Skrjabin-Bild mußte widersprochen werden“.[15] Ab 1921 war er Gremiumsmitglied und Verwalter des Musiksektors der Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften und Vorsitzender des wissenschaftlichen Rates des Staatlichen Instituts für Musikwissenschaft. Auch erwogen werden muss natürlich, dass Sabanejew möglicherweise in den Jahren der Niederschrift der „Erinnerungen“ von seiner uneingeschränkten Begeisterung und Hingabe für Skrjabin abrückte bzw. abgerückt war. Immerhin lagen 10 Jahre zwischen dem Tod des Komponisten und Sabanejews „Erinnerungen“. Unstimmig bleibt dennoch, dass Sabanejew im Nachhinein für sich Sachverhalte beansprucht wie etwa:

„Ich persönlich wurde ständig als ,Positivist’ bezeichnet, übrigens auch von Skrjabin selbst, und so war es mir nicht schwer, in Bezug auf seine Ideen Objektivität zu wahren. Ich neigte eher dazu, in ihnen den relativ seltenen Fall einer chronischen psychischen Erregung und eines ununterbrochenen Affektzustandes zu sehen […]. Ich selbst war nicht im geringsten von seiner Mystik angesteckt. Sie war mir damals genauso fremd wie heute.“[16]

Denn vergleicht man die Behauptungen dieser Art mit dem euphorischen Duktus eines Aufsatzes, wie er ihn 1912 für den „Blauen Reiter“ verfasste oder einer Äußerung aus dem Jahr 1913 wie:

„Dies ist eine endgültig entkörperte Musik, eine Musik ohne Materielles, die beinahe ihre physische Hülle verloren hat und fast irreal wirkt. […] Skrjabins Musik beabsichtigt, die physische Hülle zu verlassen; ich bin fast überzeugt, dass sie sie tatsächlich bald verlassen wird und wir werden die erstaunliche, jedoch unvermeidliche und erwartete Tatsache der Entmaterialisierung der Kunst miterleben“[17],

kann es sich bei den späteren Äußerungen nur um nachträgliche „Reinwaschungen“ vor der mystikfeindlichen Parteilinie der Bolschewiki handeln.[18]

1926 verließ Sabanejew die Sowjetunion. Ob es wirklich eine „heftige[n] Hetzjagd seitens der ,proletarischen Musiker’, die Sabaneev als ,dekadent’, ,formalistisch’ und ,fremd’ attackierten“,[19] war, die Sabanejew nach Frankreich trieb, oder ob er „die Sowjetunion keineswegs im Zorn verlassen“ hat und möglicherweise „nur einen vorübergehenden Auslandaufenthalt im Sinn“ hatte[20] – über die Begleitumstände dieser Emigration ist sich die Forschung nicht ganz einig. Als Tatsache ist hingegen anzunehmen, dass Sabanejew sich durch seine polemische Art viele Feinde machte.

„Er kann Dir das eine ins Gesicht sagen, während er gleich darauf Deinem Nachbarn so böse Scherze über Dich ins Ohr flüstert, daß man zeitlebens daran laboriert. Seine Feder ist ungewöhnlich gehässig und es macht ihm nichts, Konzerte zu versäumen und morgen die Interpreten auf aller gehässigste Weise zu beschimpfen. […] So hat er viele gegen sich aufgebracht und wurde […] aus dem Komponistenverband ausgeschlossen und mit Schreibverbot für Presse und Periodika belegt. Fragst Du, wer Sabanejew ist, wird man Dir sagen, er sei ein amoralischer Mensch, aber das stimmt ganz und gar nicht: Er ist ein guter Mensch, allerdings ein Flattergeist mit Teufelszunge, durch die er alle gegen sich aufgebracht hat.“[21]

So der Pianist Pawel Kowaljow in einem Brief im Jahr 1922. Sabanejew lebte nach seiner Emigration zunächst in Paris, wo er Auslandskorrespondent für russische regierungstreue Periodika war, und siedelte dann 1933 nach Nizza über. Dort begann er zu komponieren und war nur noch wenig journalistisch tätig. Sabanejew starb 1968 in Antibes.

Aufgrund der Tatsache, dass Sabanejew einen ungewöhnlich engen Kontakt zu Skrjabin pflegte, und dies über Jahre hinweg bis zu dessen Tod, kann er wohl – zumindest zu Skrjabins Lebzeiten – als dessen authentisches Sprachrohr gelten. Entgegen seinen späteren Behauptungen war er zu dieser Zeit von Skrjabins mystischen, okkulten und theosophischen Ansichten mitgerissen und zutiefst überzeugt und teilte der Nachwelt diese Weltanschauung, die nahezu unzertrennlich mit den musikalischen Ideen Skrjabins sind, mit größter Authentizität mit. Auch was Skrjabins Musikkonzepte betrifft, war Sabanejew ein unverzichtbarer Zeuge: Skrjabins synästhetischen Prinzipien, die Genese seiner revolutionär neuen Harmonik, seine Gedanken über die Emanzipation vom Dissonanzbegriff, viele Details des Plans seines Hauptwerkes, des „Mysteriums“, und vieles andere wären ohne die Aufzeichnungen und Publikationen Sabanejews in Vergessenheit geraten. Und auch den Zeitgenossen Skrjabins wäre der Zugang zu dessen avantgardistischen Kunstkonzept weitgehend verschlossen geblieben, hätte Sabanejew nicht dessen Hauptpostulate in verschiedenen Organen verbreitet.

Dennoch war Sabanejew ein nicht unumstrittener Biograph Skrjabins. Neben den erwähnten Gründen, die offenbar auf Sabanejews Charakter zurückzuführen sind, gab es auch rigide Abgrenzungen der offiziellen Musikwissenschaft nach der Oktoberrevolution von den geistigen Grundlagen des Skrjabinschen Werkes, dessen mystisch-okkulte Ausrichtung freilich nicht der sozialistischen Kulturpolitik entsprach, und im Rahmen dieses „marxistischen Exorzismus“ – die „Austreibung des Satans oder der Dämonen“ aus dem Werk Skrjabins[22] - musste man sich naturgemäß auch von frühen Schriften Sabanejew abgrenzen, die dieses Ideengut an die Öffentlichkeit transportiert hatten. Neben Anfeindungen, wie die Polemik eines Heinrich Neuhaus, der behauptete, [s]olche Mystiker und Obskuranten wie L. Sabanejew und B. F. Schloezer haben Skrjabin riesigen Schäden [ sic! ] zugefügt“,[23] war eine andere Methode, diese frühe musikschriftstellerische Phase in Sabanejews Werk totzuschweigen, wie es beispielsweise Boris Assafjew in seinem Buch „Die Musik in Rußland“ tut.[24] Dazu kam die Ablehnung im engsten Skrjabin-Kreis, den Skrjabinisten, gegenüber der von Sabanejew betriebenen „Rekonstruktion der geistigen Welt des Komponisten“ in der ersten Auflage der Skrjabin-Monographie Sabanejews aus dem Jahre 1916, „enthielt sie doch vermeintlich ,empörende Unrichtigkeiten’, insofern der Autor ,einzelne Gedanken Skrjabins ohne Anführungsstriche zitiert, und diese unmerklich mit seinen eigenen Ideen vermengt.’“[25] Diese Vermengung von eigenem und fremden Gedankengut kann ihm in vielen seiner Arbeiten zum Vorwurf gemacht werden, und auch die besonders in seinen „Erinnerungen“ vorkommende „Fülle an ,wörtlichen’ Skrjabin-Zitaten könnte Argwohn erwecken“[26] – doch Wehrmeyer verweist in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung auch darauf, dies als Merkmal von Sabanejews ganz spezifischer Darstellungsform und „der Bedingtheit der Quelle“ zu werten und plädiert dafür, „in dieser Art von ,Authentizität’ etwas durchaus Eigenes und Wertvolles“ zu erkennen, „eröffnen die Erinnerungen doch im Idealfall tiefe, sonst nirgends zu gewinnende Einblicke in Wesen und Werk des Künstlers.“[27]

In die Rezeptionsgeschichte der Schriften Sabanejews spielen auch die Polemiken Boris de Schloezers, dem Schwager Skrjabins, und Marina Skrjabina, Skrjabins Tochter, hinein. Sie richteten sich vor allem gegen Sabanejews Schriften, die Skrjabin als Mystiker abwerteten, indem sie Widersprüche und Ungereimtheiten im Gedankengebäude des Komponisten aufzeigte. Auch die Dokumentation der Gedanken Skrjabins in Form von wörtlicher Rede wird von ihnen kritisiert. So schrieb Marina Skrjabina im Vorwort zu Schloezers Skrjabin-Biographie:

„[…] beaucoup de ceux qui ont écrit sur Scriabine et notamment Sabanéev, ont déformé en les rapportant les propos du compositeur, ou les ont interprétés dans un sens erroné, soit en ne faisant pas la part de flottement dû au langue parlé, soit en prenant pour contradiction ce qui n’était qu’approches différentes d’un contenu difficilement formulable. B. de Schloezer est sans doute le seul qui ait pu nous restituer dans leur complexité et leur unité […].“[28]

[...]


[1] Wassily Kandinsky: Über die Formfrage, in: Der Blaue Reiter, hrsg. v. Wassily Kandinsky und Franz Marc, München 1912, dokumentarische Neuausgabe, hrsg. v. Klaus Lankheit, München 2002, S. 132 – 182, hier: S. 142.

[2] Leonid Sabanejew: Prometheus von Skrjabin, in: Der Blaue Reiter, S. 107 – 124, hier: S. 111f.

[3] Jessica Horsley: Der Almanach des Blauen Reiters als Gesamtkunstwerk. Eine interdisziplinäre Untersuchung, Frankfurt a.M. 2006.

[4] Leonid Sabanejew: Erinnerungen an Alexander Skrjabin. Mit einem Essay von Andreas Wehrmeyer. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ernst Kuhn, Berlin 2005 (Originaltitel: Leonid Sabaneev: Vospominanija o Skrjabine, Moskau 1925). Leonid Sabanejew: Alexander Skrjabin. Werk und Gedankenwelt. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ernst Kuhn, Berlin 2006 (Originaltitel: Leonid Sabaneev: Skrjabin, Moskau und Petrograd ²1923. Hierbei handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der ersten Skrjabin-Biographie Sabanejews aus dem Jahr 1916).

[5] Leonid Sabanejew wurde1881 in Moskau geboren. Über das genaue Datum ist man sich uneins. In der Sekundärliteratur findet man den 19. November (7. November der alten Zeitrechnung) (Andreas Wehrmeyer: Alexander Skrjabin und Leonid Sabanejew, in: Sabanejew: Erinnerungen, S. XIII – XXIV, hier: S. XV.) und den 1. Oktober (19. September) (Marina Lobanova: Sabaneev, Leonid Leonidovič, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Band 14, Kassel u.a. 2005, Sp. 739f., hier: Sp. 739 und Rita McAllister / Iosif Rayskin: Sabaneyev, Leonid Leonidovich, in: The New Grove dictionary of music and musicians, 2. Auflage, hrsg. von Stanley Sadie, New York 2001, Bd. 22, S. 61f., hier: S. 61.)

[6] Vgl. Sabanejew: Erinnerungen, S. 12f.

[7] Ebda., S. 12.

[8] Sabanejews erster Artikel über Skrjabins Musik erschien 1910 in der russischen Musikzeitschrift Muzyka und hatte Skrjabins „Prometheus“ zum Gegenstand. Leonid Sabanejew: Prometej Skrjabina [ Prométhée von Skrjabin], in: Muzyka 1910, Nr. 1. Auf diesen Artikel verweist Sabanejew auch in seinem Prometheus-Aufsatz im „Blauen Reiter“. Sabanejew: Prometheus von Skrjabin, S. 112 und S. 113 A. 2.

[9] Sabanejew: Erinnerungen, S. 27.

[10] Ebda.

[11] Ebda., S. 59.

[12] Ebda., S. 57.

[13] Ebda. S. 56f.

[14] Ebda. S. 97f.

[15] Wehrmeyer: Skrjabin und Sabanejew, S. XXI.

[16] Sabanejew: Vorwort, in: Sabanejew: Erinnerungen, S. 1 – 6, hier: S. 2f.

[17] Sabanejew über Skrjabins op. 61. Sabanejew: A. Skrjabin. Op. 59. Dve p’esy. No 1. Poème. No. 2. Prélude. Op. 61. Poemanoktjurn. Op. 62. Šestaja sonata. Op. 63. Op. 63 [A. Skrjabin. Op. 59. Doux pièces. No. 1: Poème. No. 2: Prélude; Op. 61. Poème-Nocturne; Op. 62. Sonate Nr. 6; Op. 63. Deux poèmes], in: Muzyka 1913, Nr. 111, S. 16 – 18, hier: S. 17. Deutsche Übersetzung zitiert nach Marina Lobanova: Mystiker – Magier – Theosoph – Theurg: Alexander Skrjabin und seine Zeit, Hamburg 2004, S. 215.

[18] Vgl. dazu auch die Einschätzung Marina Lobanovas in ihrer Arbeit „Mystiker – Magier – Theosoph – Theurg: Alexander Skrjabin und seine Zeit“: „Ein Bekenntnis zur Theosophie bedeutete direkte Gefahr: In den 1920er Jahren führte die sowjetische Staatssicherheit ständige Beobachtungen über allerlei okkulte Praktiken durch; seit 1926 wurden Esoteriker, Mystiker, Okkultisten, Martinisten, Rosenkreuzer, Freimaurer usw. als Vertreter einer ,passiven Konterrevolution’ brutalsten Repressalien ausgesetzt.“ Ebda., S. 216.

[19] Lobanova: Sabaneev, in: MGG², Sp. 739.

[20] Wehrmeyer: Skrjabin und Sabanejew, S. XVIII.

[21] Brief Pawl Kowaljows an Boris Tjunejew vom 30. Oktober 1922, in: Novyj rastin’jak, ili kak Kovalev zavoevyval Moskvu [Ein Provinzling, oder wie Kowaljow Moskau eroberte], hrsg. von S. Martynova, in: Muzykal’naja akademija [Musikakademie] 1998, Nr. 3-4, S. 309. Zitiert nach: Wehrmeyer: Skrjabin und Sabanejew, S. XVIII, A. 3.

[22] Lobanova: Mystiker, S. 11.

[23] Genrich Gustavovič Nejgauz (= Heinrich Neuhaus): Zametki o Skrjabine (k 40-letiju so dnja smerti) [Notizen über Skrjabin (zum 40. Todestag)], in: ders.: Razmyšlenija, vospominanija, dnevniki. Pis’ma k roditeljam [Nachdenken, Erinnerungen, Tagebücher. Briefe an die Eltern], Moskau ²1983, S. 204 – 208, hier: S. 204. Deutsche Übersetzung zitiert nach Lobanova: Mystiker, S. 15. Weitere Äußerungen, die Skrjabin den Mystizismus abzusprechen versuchen, finden sich bei Lobanova: Mystiker, S. 15f.

[24] Assafjew verweist im Kapitel „Das russische Musikdenken“ zum einen nur auf Skrjabins Werke, die er zwischen 1922 und 1926 verfasste bzw. überarbeitete (was die Skrjabin-Biographie betrifft), also in der Zeit, wo er angepasst unter der neuen Regierung lebte, bis zu seiner Emigration 1926. Diese Schriften bekamen, so Assafjew, „ihre Attraktivität durch ein kritisches Denken […], das mit einprägsamen Vermutungen ausgezeichnet zu jonglieren verstand“ (S. 386). Zum anderen hebt er „Arbeiten von großer Disziplin auf streng rationaler Grundlage […] wie etwa den Aufsatz „Rhythmus“ im ersten Buch der Schriftenreihe Melos, Petrograd 1917“ (Ebda.) lobend hervor. Boris Assafjew: Die Musik in Rußland (Von 1800 bis zur Oktoberrevolution 1917). Entwicklungen – Wertungen – Übersichten, hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Ernst Kuhn, Berlin 1998. (Originaltitel: Igor’ Glebov (= Boris Asaf’ev): Russkaja muzyka (Ot načala XIX veka), Leningrad 1930.)

[25] Wehrmeyer: Skrabin und Sabanejew, S. XX. Die von Wehrmeyer hier zitierte und übersetzte Äußerung stammt aus den „Nachrichten der Petrograder Skrjabin-Gesellschaft“ 1917: Izvestija Petrogradskogo Skrjabinskogo obščestva, Heft 2, Petrograd 1917, S. 3.

[26] Wehrmeyer: Skrjabin und Sabanejew, S. XXI.

[27] Ebda.

[28] Marina Scriabine: Introduction, in: Boris de Schloezer: Alexandre Scriabine, (russ. Berlin 1923), Paris 1975, S. 8. Zitiert nach Andreas Pütz: Von Wagner zu Skrjabin. Synästhetische Anschauungen in Kunst und Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Kassel 1995 (Kölner Beiträge zur Musikforschung, Band 186), S. 122. Als fragwürdig muss Pütz’ Entscheidung angesehen werden, diese Äußerung Scriabinas als „Leitsatz“ zur Bewertung der wichtigsten Biographen Skrjabins, als die er Marina Scriabina, Boris de Schloezer, Leonid Sabanejew und Oskar von Riesemann nennt, heranzuziehen und auf dieser Grundlage zu behaupten: „Aus diesem Grunde sollen die Äußerungen Schloezers neben den Primärquellen an erster Stelle stehen.“ Außerdem wolle er in seiner Arbeit „die allzu kritiklose Heranziehung Šabanejevs in der breiten Skrjabin-Literatur […] hinterfragen.“ (S. 122) Pütz wägt nicht ab, warum sich diese Widersprüche im Werke Sabanejews befinden und bewertet damit auch die frühen, in einem freien geistigen Umfeld entstandenen Schriften als unzuverlässig.

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Detalles

Título
Leonid Sabanejews Aufsatz „Prometheus von Skrjabin“ im Almanach „Der Blaue Reiter“
Universidad
University of Tubingen  (Musikwissenschaftliches Institut)
Curso
Die Musik in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts
Calificación
1,0
Autor
Año
2007
Páginas
40
No. de catálogo
V119931
ISBN (Ebook)
9783640240159
ISBN (Libro)
9783640244416
Tamaño de fichero
598 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Leonid, Sabanejews, Aufsatz, Skrjabin“, Almanach, Blaue, Reiter“, Musik, Literatur, Jahrhunderts
Citar trabajo
Karin Pfundstein (Autor), 2007, Leonid Sabanejews Aufsatz „Prometheus von Skrjabin“ im Almanach „Der Blaue Reiter“ , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119931

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