Neufrankreich – Eine militärhistorische Betrachtung des Zeitraumes 1608 bis 1701


Forschungsarbeit, 2008

49 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Entdeckungsphase

3. Die Kolonisierungsphase

4. Die Biberkriege

5. Neufrankreich als Militärmacht
5.1 Befestigungsanlagen
5.2 Professionelles Militär
5.3 Das Milizsystem
5.4 Der Einsatz indianischer Hilfstruppen

6. Die Wende

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Franzosen gewannen ihren Einfluss in Nordamerika in Folge der Entdeckungsreisen von Jacques Cartier. Dieser erklärte im Jahre 1534 das spätere Kanada zur französischen Kolonie, die von der Krone prompt “Neufrankreich” getauft wurde. Im Verlauf der französischen Kolonialgeschichte erwiesen sich die Siedler des entbehrungsreichen Nordens des Kontinentes als anpassungsfähig und außergewöhnlich wehrhaft. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch zu zeigen, wie es dazu kam.

2. Die Entdeckungsphase

Cartier hatte es auf seinen Erkundungen mit einer irokesensprachigen indianischen Bevölkerung zu tun und berichtete im Zusammenhang mit seinem Besuch von Hochelaga (im heutigen Montreal) über die von ihm vorgefundenen einheimischen Konfliktbruchlinien, die aufwändigen Befestigungsanlagen der in diesem Raum beheimateten Stämme sowie über die ausgeprägte Kriegsbereitschaft der Ureinwohner. Er bezeugte unter anderem die indianische Praxis des Skalpierens und dokumentierte aufschlussreiche Gespräche mit Häuptling Donnaconna, dem Oberhaupt der Stadaconans.[1]

Die Kolonialprojekte von Cartier und Jean-Francois de la Rocque im Sankt Lawrence-Tal scheiterten allerdings, da sich die Beziehungen zu den Ureinwohnern bereits im Verlauf der ersten Entdeckungsreise erheblich verschlechterten. Verursacht wurde dies durch die Franzosen, die Donnaconna und neun weitere seiner Stammesmitglieder mit Hilfe indianischer Rivalen nach Frankreich entführt hatten. Das Versprechen Cartiers, die Gefangenen im Folgejahr gesund zurückzubringen, wurde nicht eingehalten, da der französische Pionier erst fünf Jahre später wiederkommen konnte und bis dahin neun der zehn Entführten verstorben waren.[2] Fortan bereiteten die Irokesen Cartier und seinen Männern ständigen Ärger, bis sich die Franzosen zum Abzug entschieden. Von 1541 bis zur Aufgabe des Kolonialvorhabens im Jahre 1543 war es zur Errichtung einiger Handelsstützpunkte rund um das spätere Quebec und an der Stelle des nachmaligen Forts Orange, des heutigen Albany (NY), gekommen.

Nach einer rund ein halbes Jahrhundert währenden Unterbrechung der französischen Bemühungen in Nordamerika gründete Samuel de Champlain 1608 – nach einer Serie von Erkundungsreisen – Quebec und ließ dort ein Fort errichten.[3] Champlain traf ebenfalls mitnichten eine friedliche einheimische Bevölkerung vor. Als er 1603 in der Nähe von Tadoussac zu einem Skalptanz der Montegnais-Algonkin eingeladen wurde, erlebte er eine martialische Siegesfeier über die Irokesen, bei der die Gastgeber dem neugierigen Entdecker ausführlich ihre Kriegsrouten ins hügelige Irokesenhochland (das heißt nach Iroquoia) beschrieben.

Champlain war auch der erste Franzose seit Cartier, der die Irokesen im Kampf kennenlernen sollte, nämlich 1609 in der Nähe von Ticonderoga. Dabei war seine Teilnahme an der Auseinandersetzung nicht ganz freiwillig, da die Ureinwohner die europäische Unterscheidung zwischen “Handelspartner” und “Verbündeter” nicht gelten ließen und sich Champlain von daher der Aufforderung zur Unterstützung der Montegnais schwerlich entziehen konnte.[4] Die diesen gegenüberstehenden Mohawks hatten Bäume gefällt und in Sichtweite “Barrikaden” errichtet, die dazu dienten, ihr improvisiertes Nachtlager vor Überraschungsangriffen zu schützen. Beide Seiten einigten sich auf den Kampf bei besserem Licht und vertagten die Schlacht auf den folgenden Morgen. Champlain[5] beschrieb sowohl die ritualisierten Beleidigungen und gegenseitig ausgesprochenen Drohungen als auch die Kriegstänze. Schließlich verließen die verbündeten Indianer und Franzosen ihre Kanus und bewegten sich auf das provisorische Fort der Mohawks zu, die sich dann allerdings für den offenen Kampf entschieden. Bei dem Scharmützel zeigte sich die Schockwirkung der europäischen Schusswaffen, als 200 Mohawks die Flucht ergriffen, nachdem die Bleikugeln Champlains die Schilfpanzerung dreier Häuptlinge durchschlagen hatten. Die weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Folgen dieses Vorfalls werden von Schormann[6] wie folgt zusammengefasst: “Damit hatte Frankreich in der intertribalen Auseinandersetzung Partei ergriffen; es war eine Maßnahme, die ihnen eine über viele Jahrzehnte erfolgreiche Kooperation mit den Huronen und für das gesamte 17. Jahrhundert die Feindschaft der Mohawk und der anderen Stämme der irokesischen Liga eintrug.” Der hier erhobene Vorwurf einer aktiven Parteiergreifung erscheint allerdings ungerechtfertigt, wenn man berücksichtigt, dass dauerhafte Neutralität für europäische Akteure im kulturellen Umfeld des Untersuchungsgebietes nahezu unmöglich war.

Von Beginn an litt die Zusammenarbeit mit den einheimischen Handelspartnern – vor allem in Kriegszeiten – unter kulturell bedingten Spannungen. Champlain schildert beispielsweise die Marter eines Gefangenen durch seine indianischen Verbündeten – eine Tortur, bei der seine aktive Mitwirkung erwartet wurde. Der Gegenvorschlag des Franzosen, den Gefangenen doch zu erschießen, stieß auf Unverständnis, und es kam zum Eklat, als Champlain sich abwendete.

Zur Besänftigung des offensichtlich verärgerten weißen Gastes ging man widerwillig auf dessen Vorschlag ein und erschoss den Gefangenen. Auf den nun vorgesehenen rituellen Kannibalismus wurde indes nicht verzichtet; Champlain beschrieb ihn als “Monstrosität”.[7] Im darauf folgenden Jahr nahm der Pionier an der Vernichtung eines strategisch gut gelegenen, aber improvisierten Mohawk-Forts teil, mit der die andauernde Bedrohung des Sankt-Lawrence-Stromes durch diesen Stamm bis zum Ausbruch der Biberkriege (1628) beseitigt werden konnte. In diesem Kampf erwies sich der militärstrategische Vorsprung des Europäers, der durch seine taktischen Ratschläge den einheimischen Verbündeten die Überwindung der feindlichen Verteidigungsanlagen ermöglichte. Champlain[8] dokumentiert im Zusammenhang mit dem Gefecht ausführlich, wie 15 gefangene Irokesen anschließend gemartert und zum Teil rituell kannibalisiert wurden.[9]

Im Jahre 1615 nahm der Entdecker an einer weiteren Belagerung während eines Feldzuges gegen Iroquoia teil.[10] Mit etwa 500 Montegnais und Huronen marschierte bzw. paddelte er und seine zwölf französischen Begleiter fünf strapaziöse Wochen lang bis zum Hauptdorf des Irokesenbundes: Onondaga. Beim Anmarsch kam es zu einer Reihe von Vorfällen, die wiederum auf die tiefe kulturelle Kluft zwischen Ureinwohnern und Neuankömmlingen hindeuten.

Am 9. Oktober gerieten zum Beispiel elf Irokesen, überwiegend Frauen und Kinder, in die Hände der Angreifer. Einer Frau wurde durch einen Häuptling ein Finger abgeschnitten und so der Auftakt für die übliche Misshandlung und Marter von Feinden gegeben.[11] Champlain riskierte viel, als er an dieser Stelle ultimativ eingriff und seine weitere militärische Zusammenarbeit von der besseren Behandlung der Gefangenen abhängig machte. Seine Bereitschaft, die einheimische Kriegsmethoden zu tolerieren, war insofern an eine Grenze gestoßen, als die Marter auch auf Nichtkombattanten angewendet wurde. Für Champlain selbst wie für seine europäischen Zeitgenossen insgesamt war der Anspruch auf universale Gültigkeit der Gebote des christlichen Glaubens und das damit verbundene Pflichtgefühl, sich aktiv gegen “Monstrositäten” zu wenden (oder sich andernfalls vor Gott rechtfertigen zu müssen), in hohem Maße bewusstseinsbildend und prägte ihr Handeln. In diesem besonderen Fall konnte der Franzosen jedoch lediglich einen Kompromiss erwirken, der keinen Gesichtsverlust für seine Gastgeber bedeutete: die Frauen und Kinder unter den gefangenen Irokesen wurden verschont, während die Männer den Martertod erlitten.

Die Eroberung Onondagas erwies sich als eine viel schwierigere militärische Herausforderung als Champlain dies erwartet hatte. Es handelte sich um ein deutlich größeres, dauerhaft bewohntes Fort mit weitaus stärkeren Verteidigungsanlagen als die ihm vertrauten Befestigungen der Huronen. Zusätzlich verfügte das Fort über einen Zugang zu einem Teich, der die Wasserversorgung der Verteidiger sicherte (Dorffestungen waren meist mit einer Falltür über Wassergräben an Flüsse oder Seen angebunden – zur Wasserversorgung, als möglicher Zugang für Kanus oder auch für sanitäre Zwecke).[12] Obendrein ging durch mangelnde Disziplin der Verbündeten das Überraschungsmoment verloren. Es kam zu einem überstürzten Angriff, der in einem Rückschlag endete, bei dem Champlain zwei Verwundungen erlitt.

Während bei indianischen Kriegszügen, wie in anderen Kapitel erläutert, die Spiritualisierung und Ritualisierung des Kampfes eine außerordentliche Rolle spielte und alles andere dominierte, wurden Rituale, religiöse Riten und Traditionen bei den Europäern viel stärker den Erfordernissen der Militärdisziplin untergeordnet.[13] Kein europäischer Feldherr des 17. Jahrhunderts oder auch nur ein einfacher Soldat konnte unüberlegtes oder voreiliges Handeln einem “Traum”, einer “Vision” oder seinem “Totem” zuschreiben. Die individuelle Verantwortlichkeit war bei derartigen Verstößen strukturell verankert und längst selbstverständlich geworden.

Die indigene Bevölkerung blieb hingegen abhängig von der jeweiligen Selbstdisziplin der Krieger; insbesondere jüngere Hitzköpfe verursachten vor diesem Hintergrund zahlreiche militärisch keineswegs zwingende Rückschläge. Sahen sie sich beispielsweise unerwartetem feindlichen Druck ausgesetzt und in die Defensive gedrängt, forderte die Mehrzahl der Krieger oft den sofortigen Rückzug oder gar den Abbruch eines ganzen Feldzuges. Champlain erteilte anfangs – als sein Verständnis für die einheimischen Kriegsmethoden und -gepflogenheiten noch gering ausgeprägt war – seinen indianischen Verbündeten strenge Rügen für ihre “mangelnde Standhaftigkeit”. Er war sich noch nicht der fundamentalen Tatsache bewusst, dass sich die zähe Disziplin, die kleinere Trupps durch die Verinnerlichung der einheimischen Kriegskultur auszeichnete, angesichts der sozialen Strukturen nicht auf eine verhältnismäßig große Streitmacht von beispielsweise 500 Kriegern übertragen ließ. Selbst pan-indianisch denkende (und in mancherlei Beziehungen die soziokulturellen Grenzen ihrer Stämme antastende) Führer wie Tecumseh sahen sich bis zum Ende der Indianerkriege stets den Folgen dieser Konstante ausgesetzt. Das Ausbleiben staatlicher Strukturen bedeutete zugleich das Fehlen dauerhafter und belastbarer militärischer Strukturen.

Eingedenk der riesigen Distanzen, die seine indianischen Verbündeten bei ihrem Vorstoß nach Iroquoia zurückgelegt hatten, appellierte Champlain angesichts ihres “Wankelmuts” nach dem ersten Rückschlag um so erstaunter an die Mannhaftigkeit und den Mut der Krieger. Tatsächlich gelang es ihm, die kritische Lage zu stabilisieren und am 10. Oktober 1615 eine Belagerung Onondagas nach europäischem Muster zu beginnen. Er ließ einen Turm bzw. ein Belagerungsgerüst errichten, um von erhöhter Position aus die Verteidiger hinter ihren Palisadenzäunen effektiv unter Beschuss nehmen zu können. Außerdem wurden tragbare hölzerne Schutzwände gebaut, mit denen sich die Belagerer an das Fort herankämpfen konnten. Doch die Angreifer scheiterten erneut an ihrer mangelnden Disziplin und Ausbildung. Dieser zweite Rückschlag führte zum endgültigen Abbruch der Belagerung, obwohl die Streitmacht noch einige Tage in der Nähe campierte und sich kleinere Gefechte mit den Irokesen lieferte. Champlain kritisierte in seinen Aufzeichnungen die unzureichende Befehlsgewalt der indianischen Anführer, lobte indes die vorbildliche Ordnung während des Rückzuges, bei dem die Verwundeten in der Mitte transportiert und so erfolgreich gegenüber den Verfolgern abgeschirmt wurden.[14]

Wenn der Irokesenbund bisher an die Unbesiegbarkeit der Fremden geglaubt haben mag, so muss spätestens ab diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass auch diese zu schlagen waren. Eccles bestätigt den folgenschweren Prestigeverlust der Franzosen und sieht den Irokesenbund nach dem Kampf um Onondaga – mit Ausnahme kleinerer Unterbrechungen in Friedenszeiten – für den Rest des 17. Jahrhunderts in der strategischen Offensive.[15]

Die in der Kolonie lebenden Franzosen blieben weiterhin an einem dauerhaften Frieden zwischen den verfeindeten Gruppen interessiert. Man erhoffte sich, um mit den Worten Champlains[16] zu sprechen, “…eine Zunahme des Handelverkehrs, mehr Möglichkeiten für Entdeckungsreisen, Sicherheit für unsere Wilden, die sich auf die Suche nach Bibern begeben, sich aber nicht in bestimmte Landesteile wagen, weil sie sich vor ihren Feinden fürchten […].”

Die unsicheren Gebiete Neufrankreichs, von denen Champlain sprach, erstreckten sich weit über die Region des Sankt-Lawrence-Tals hinaus. Die Kolonie beinhaltete Landstriche, die zu diesem Zeitpunkt noch unentdeckt waren, aber dennoch beansprucht wurden. Seine Hoffnung, durch Handelsangebote Frieden zu erwirken, was wiederum die Geschäftstätigkeit verstärken würde, basierte auf dem gleichen Missverständnis, dem auch andere europäische Kolonialmächte unterlagen. Tatsächlich befand sich der Irokesenbund schon damals mit 51 Stammesgruppen oder Konföderationen im sporadischen Kriegszustand[17] ; die Tiefe bzw. Nachhaltigkeit dieser Konflikte war auch für den kenntnisreichen Kolonialpionier Champlain kaum nachvollziehbar. Seine Hoffnungen und Erwartungen wurden zwangsläufig enttäuscht: ein dauerhafter Frieden war einfach nicht zu erzwingen.

Darüber hinaus teilten die politischen Entscheidungsträger Frankreichs keineswegs die Vorstellung ihres Repräsentanten in der Neuen Welt. Denn als die Irokesen 1624 aus Handelsinteressen Friedensfühler ausstreckten und ihre Erzfeinde hofierten, wuchs die französische Sorge, ihr Pelzhandel könnte sich in der Folge eher verringern, denn verstärken. Eccles[18] nannte es das “Paradoxon” der französischen Politik, demzufolge die Feindschaft der Irokesen die Existenz der Kolonie zwar ernsthaft gefährdete, aber auch ihre Freundschaft schwerwiegende Nachteile haben könnte, da sie den westlichen Stämmen mit Billigung der Irokesen Zugang zu den Holländern ermöglichen würde. Insofern gab es ein stetes Interesse, dass die Irokesen eine unüberwindbare Barriere zwischen den heimischen indianischen Handelspartnern und der europäischen Konkurrenten darstellten.

3. Die Kolonisierungsphase

Die Gründungsortschaft Quebec bestärkte den französischen Anspruch auf das Sankt-Lawrence-Tal. Es handelte sich um ein Territorium von geringem landwirtschaftlichem Interesse, dessen kurze Sommer und lange Winter es jedoch – wie das gesamte spätere Kanada – zu einer ergiebigen Quelle für hochwertige Pelze machten. Quebec bot einen günstigen Hafen und war aufgrund seiner Anhöhen leicht zu befestigen und zu verteidigen und lag obendrein außerhalb der Reichweite europäischer Konkurrenten. Versorgt wurde dieser Außenposten durch Schiffe. Im April 1627, als die Bevölkerung Quebecs gerade mal 85 Männer umfasste, gründete Richelieu ein neues Unternehmen: die “Compagnie de la Nouvelle France”.[19] Deren Aufgabe sollte es sein, die nordamerikanische Kolonie auszubauen und die dortige Bevölkerung bis zum Jahr 1643 auf mindestens 4000 Siedler anwachsen zu lassen. Damals erteilte der König die Weisung, dass ausschließlich Katholiken als Kolonisten in Frage kämen.

Der Verlust einer Unterstützungsflotte aus elf Schiffen mit 600 Kolonisten an Bord im Jahre 1628 bedeutete einen herben Rückschlag für diese Anstrengungen. Englische Freibeuter brachten die Schiffe auf, die Besatzung und die menschliche Fracht wurden nach Frankreich zurückgeschickt. Die Versorgung von Quebec brach zusammen, und Champlain sah sich gezwungen, die Mehrzahl seiner Männer während des Winters auf die umliegenden Indianerdörfer zu verteilen. Als drei englische Schiffe, befehligt von den Brüdern Kirke, im Frühjahr 1629 mit 200 Mann vor Quebec ankerten, blieb ihm lediglich die Kapitulation übrig. Champlain musste heim ins Mutterland. Doch bereits im nächsten Sommer erhielt Frankreich laut dem mittlerweile zwischen den beiden europäischen Großmächten vereinbarten Frieden die Kolonie zurück. – Man stand wieder ganz am Anfang.

Champlains Rückkehr im Jahre 1633 hatte eine sofortige Wiederbelebung des Pelzhandels zur Folge. Waren die Franzosen bis dahin vorwiegend als Partner der nomadischen Montegnais aufgetreten, wurde nun die Rolle der sesshaften und wohlhabenden Huronen stark aufgewertet. Für die Montegnais bedeutete die neue Konstellation auch insofern eine Beschränkung, als ihnen Geschäfte mit den Engländern ausdrücklich verboten wurden.[20]

Nach wie vor hätte Champlain persönlich – allen gegenläufigen Überlegungen an höherer Stelle zum Trotz – die französische Handelstätigkeit am liebsten auf den Irokesenbund ausgeweitet. Doch nach einigen Angriffen von Irokesenkriegern war seine Hoffnung auf eine friedliche Lösung dahin, und er setzte nun auf einen Eroberungsfeldzug, für den 120 französische Soldaten und einige Tausend verbündete Indianer eingeplant wurden. Champlains Tod im Jahre 1635 verhinderte jedoch die Durchführung dieses Vorhabens. Schon seit 1626 (dem Beginn der Ära der sogenannten “Biberkriege”) hatten die “Fünf Nationen” der Irokesen dank ihres Zugangs zum holländischen Fort Orange einen verlässlichen weißen Handelspartner und rüsteten mit den Waffenlieferungen der Holländer massiv auf.[21]

Im Jahre 1634 errichteten die Franzosen an der Mündung des St. Maurice, dem späteren Trois Rivieres, ein Fort, aus dem schnell ein wichtiger Umschlagsplatz für den Pelzhandel wurde. Vier Jahre später öffnete Jean Nicolet durch seine Reise zum Lake Superior den Westen des Landes, indem er einen Frieden zwischen den verfeindeten Winnebago und den Huronen vermittelte. Dadurch gelangten nun ungestört riesige Mengen an Pelzen zu den Franzosen; für Neufrankreich erschloss sich ein gewaltiger neuer Markt. Allerdings war die Kolonie zu dieser Zeit noch immer nicht in der Lage, ihre demographische Schwäche zu beheben; bis 1640 befanden sich auf dem Boden Neufrankreichs lediglich 359 Siedler.

1642 kam es zur Gründung von Ville Marie auf der Insel Montreal.[22] Am Zusammenfluss des Ottawa und des Sankt-Lawrence-Stroms gelegen, waren auch hier die Bedingungen für den Handel vielversprechend. Die Siedlung lag an den Hauptverkehrsadern der Huronen und Algonkin, denen fortan der lange Weg nach Quebec oder Trois Rivieres erspart blieb. Unter der Führung von Paul de Chomedey siur de Maisonneuve, einem 33-jährigen Veteranen mit religiösem Eifer, entstand hier, in unmittelbarer Nähe des Irokesenbundes, eine puritanische Gemeinde.

Das Überleben der Kolonie wurde zunächst durch den Umstand begünstigt, dass die Irokesen zur Zeit der Entstehung Raubzüge am Ottawa und an der Georgian Bay durchführten. In den nachfolgenden Jahren schnitten sie dann allerdings die Verbindungswege zwischen den französischen Siedlungen ab und lagen ständig im Hinterhalt, um jeden Versuch zu unterbinden, diese zu verlassen. Die Lage war so ernst, dass 100 zusätzliche Soldaten nach Neufrankreich beordert wurden, um die Siedler wirkungsvoll zu verstärken.[23]

Das Neufrankreich des frühen 17. Jahrhunderts bestand aus zwei Verwaltungseinheiten: aus dem Ostküstengebiet Akadien und aus Kanada. Letzteres war wichtiger[24] und setzte sich aus den dünn besiedelten Gebieten entlang des Sankt Lawrence mit den drei Ortschaften Quebec, Trois-Rivieres und Montreal zusammen. Nach Westen hin waren der Kolonie keine festen Grenzen gesetzt; man befand sich noch immer in der Entdeckungsphase. Die demographische Schwäche der Kolonie schränkte zunächst deren Fähigkeit ein, das Inland stärker unter französischen Einfluss zu bringen. Anders als bei den Engländern behinderte die Bevölkerungsentwicklung somit die Sicherung französischer Interessen. 1641 wohnten in ganz Neufrankreich lediglich 500 Einwohner französischer Herkunft. Man hatte den “Kampf der Wiegen” gegen die neuenglischen Nachbarkolonien, die zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 30 000 Siedler zählten, klar verloren (allein in Massachusetts war die Bevölkerung zwischen 1630 und 1640 von 800 Einwohnern auf 9000 angewachsen).[25]

Der Siedlerstrom, der die Einflusssphäre auf quasi natürliche Weise hätte ausbreiten können, blieb trotz etlicher begünstigender Maßnahmen aus. Bis 1650 war die Einwohnerzahl nur auf ungefähr 675 angestiegen.[26] Eine Folge dieser Entwicklung war, dass man bei der Gründung von Ortschaften, Stützpunkten oder Handelsposten viel stärker Rücksicht auf die zahlenmäßig überlegenen Ureinwohner nehmen musste. Deren Interessen, Rivalitäten und Empfindlichkeiten genossen (aus machtpolitischen Motiven!) einen hohen Stellenwert, so dass Neufrankreich weitaus bessere interkulturelle Beziehungen als die angelsächsischen und holländischen Konkurrenten unterhielt.[27] Ein Beispiel zeigt, wie weit die Franzosen gingen, um friedliche Beziehungen zu ihren Verbündeten und Handelspartner zu wahren. Konfrontiert mit einem Vergewaltigungsfall im März 1664 auf der Insel Orleans, bei dem der Täter ein Algonkin war, musste sich die Kolonie politisch vorsichtig verhalten, um Beziehungen nicht zu gefährden. Durch die Flucht des Angeklagten galt es nun, dessen Auslieferung zu gewährleisten. Weil es sich hier um ein Delikt handelte, bei dem im Falle eines Schuldspruchs die Todesstrafe galt, sollte ein Kommission aus Jesuiten, Gelehrten und Konvertiten beratend wirken. Daraus resultierte ein Treffen mit sechs der einflussreichsten Stammesoberhäuptern, denen man die französische Rechtsauffassung unterbreitete. Diese baten den Verdächtigen zu verschonen, weil sie sich der Todesstrafe lediglich bei Tötungsdelikten bewusst waren. Gleichzeitig wurde auf das Fehlverhalten einiger Händler hingewiesen und um deren Strafe gebeten. Die Franzosen versicherten diese Beschwerden zu ahnden und zogen unverrichteter Dinge zurück. Noch fünfzig Jahre später waren die Franzosen, ganz im Gegensatz zu den Engländern, sehr zögerlich in der Umsetzung ihrer Gesetze, wenn Ureinwohner, vor allem im Rausch, gewalttätig wurden. Sie konnten es sich nicht leisten, die Ureinwohner zu verärgern, indem sie ihnen ihre Gesetze aufzwangen. In den Weiten Neufrankreichs sahen sich die Ureinwohner noch lange individuell und als Gruppe frei und unabhängig von fremden Gesetzen.[28]

Die Wasserstraße des Sankt Lawrence blieb der Hauptverbindungsweg der Kolonie, deren Besiedlung sich auf die Uferzonen konzentrierte. Entlang der Atlantikküste, im akadischen Teil Neufrankreichs, entstanden kleinere Ortschaften, verteilt über die Gebiete des heutigen Neuschottlands sowie der US-Staaten New Brunswick und Maine.[29] Die geringe Bevölkerungszahl und die weitgehende Beschränkung des Handelsverkehrs auf den Wasserweg hatten – im Gegensatz zur Auswirkung der Siedlungsmuster in den südlicheren europäischen Besitzungen – zur Folge, dass sich die Strukturen des Inlandes nur wenig veränderten. Als Nachteil der Uferbesiedlung ergab sich eine exponierte Lage vieler Kolonisten, die nicht unter dem Schutz von Dorfgemeinschaften lebten. Sicherheitspolitisch motivierte Versuche zur Schwerpunktbildung blieben erfolglos.[30] Die Stationierung größerer Truppenteile in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte dann allerdings zum Bau eines kettenartig angelegten Fortsystems, das durchaus Schutz vor etwaigen Angriffen bieten konnte.

[...]


[1] Auszug aus Cartier, Jaques (1535) in Hakluyt, Richard, The Principal Navigations, Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation, 1600, in Salvucci, Claudio, R., and Schiavo, Anthony, P., Iroquois Wars I, Extracts from the Jesuit Relations and primary sources from 1535 to 1650, Evolution Publishing, Bristol, 2003, S. 35/36

[2] Eccles, William, John, The Canadian Frontier 1534-1760, University of New Mexico Press, Albuquerque, 1999, S.6, 16/17

[3] Cartier hatte dort schon 1535 ein Fort gebaut, dessen Überreste aber noch nicht archäologisch lokalisiert werden konnten (Chartrand und Spedaliere, 2005: 4-6).

[4] Obwohl es fraglich ist, ob die Montegnais im Falle einer solchen Kränkung die Handelsbeziehungen abgebrochen hätten, da die europäischen Güter für sie viel zu wertvoll waren, so hätte es zumindest den täglichen Umgang erschwert. Champlain konnte es sich kaum leisten, das Wohlwollen seiner Kundschafter, Führer und Felllieferanten aufs Spiel zu setzen, und die weitreichenden Folgen seines Handelns in Form der durch ihn begründeten französischen Dauerfeindschaft mit dem Irokesenbund waren zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht absehbar gewesen.

[5] vgl. de Champlain, Samuel (Slafter), The Voyages of Samuel de Champlain, 1613, in Salvucci, Claudio, R. and Schiavo, Anthony, P., Iroquois Wars I, Extracts from the Jesuit Relations and primary sources from 1535 to 1650, Evolution Publishing, Bristol, 2003, S. 35/36

[6] vgl. Schormann, Karl, Der Untergang der Huronen – Krieg und Fehde als Ausdruck einer Kultur, Book on Demand, Bremerhaven, 2003, S. 60

[7] vgl. de Champlain, Samuel (Slafter), 2003, S. 34

[8] ebd. S. 42/43

[9] Er bat um einen Gefangenen, den er auf diese Weise retten konnte. Champlain und mehrere Franzosen waren in dem Gefecht durch Pfeile verwundet worden.

[10] Fenton, William, N., The Great Law and the Longhouse – A Political History of the Iroquois Confederacy, University of Oklahoma Press, 1995, S. 243

[11] Angesichts der Tatsache, dass die Verbündeten sich noch auf dem Anmarsch befanden, war die Möglichkeit, dass die Gefangenen verschont bleiben könnten, besonders gering.

[12] Hook, Richard/Johnson, Michael, American Woodland Indians, Osprey Publishing, Oxford, 1990, S.21

[13] Hanson, S. 21.

[14] Champlain in (Slafter), 2003, S. 48-50

[15] Vgl. Eccles, 1999, S. 31

[16] in (Slafter), 2003, S. 63

[17] vgl. Brandao, J. A., Your Fyre Shall Burn No More: Iroquois Policy Towards New France and its Native Allies to 1701, University of Nebraska Press, 1997, S. 63

[18] vgl. Eccles, W. J., The Canadian Frontier 1534-1760, University of New Mexico Press, Albuquerque, 1999, S. 31

[19] vgl. Taylor, 2001, S. 100

[20] vgl. Schormann, 2003, S. 71

[21] Dies wird an anderer Stelle ausführlich behandelt.

[22] Vgl. Trudel, Marcel, Histoire de la Nouvell France, Vol. I : Les Vaines tentatives, 1524-1603, Montreal, 1964, S. 168

[23] vgl. Eccles, 1999, S. 41/42

[24] Der Name leitet sich vom irokesischen ‚Kanata‘ ab, was ‚Siedlung‘ oder ‚Ortschaft‘ bedeutet und von Jaques Cartier in den französischen Sprachgebrauch eingeführt wurde.

[25] vgl. Tager and Wilkie (Hrsg.), 1991, S. 6

[26] Trudel, 1964, S. 168

[27] Eccles, 1999, S. 5

[28] ebd. S. 78

[29] 1682 erreichten die Franzosen über den Mississippi auch den Golf von Mexiko, wo sie ab 1699 erste Siedlungen und schließlich ihre Kolonie Louisiana gründeten.

[30] ebd. S. 87

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Details

Titel
Neufrankreich – Eine militärhistorische Betrachtung des Zeitraumes 1608 bis 1701
Autor
Jahr
2008
Seiten
49
Katalognummer
V120612
ISBN (eBook)
9783640237883
ISBN (Buch)
9783640239238
Dateigröße
837 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neufrankreich, Eine, Betrachtung, Zeitraumes
Arbeit zitieren
Dr. Stephan Maninger (Autor:in), 2008, Neufrankreich – Eine militärhistorische Betrachtung des Zeitraumes 1608 bis 1701 , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120612

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