Die Europäische Union - Chance und Gefahr für die Etablierung einer universalen Moral


Diploma Thesis, 2002

89 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


INHALT

Einleitung

I. Zur Bestimmung der Moral
1. Welche Interessen haben Akteure, moralisch zu handeln?
1.1. Das Prinzip der individuellen Zurechnung
1.2. Schwierigkeiten
1.3 Lösungswege
2. Die Universalisierung der Moral

II. Moral und Gesellschaft
1. Die offene individualistische Gesellschaft
2. „Das Wunder Europa“
3. Gefahren innerhalb offener individualistischer Gesellschaften

III. Moral und Europäische Union
1. Ist die EU eine offene individualistische Gesellschaft?
1.1 Die Irreversibilität des Europäisierungsprozess
2. Handelnde Akteure in der Europäischen Union
3. Die Funktion der Moral innerhalb der EU
4. Gefahren für die Etablierung einer universalen Moral innerhalb der EU

IV. Moralisches Handeln von Nationalstaaten
1. EU 15 vs. EU 20
2. Das räumliche Modell kollektiven Entscheidens bei der EU- Erweiterung
3. Anwendung des Modells kollektiven Entscheidens
4. Fazit

V. Moralisches Handeln von Organisationen
1. Historische Entwicklung von Unternehmenskooperation auf EU-Ebene
2. Zwischenfazit
3. Überregionale Kooperation von kleineren und mittleren Wirtschaftsunternehmen
4. Fazit

VI. Moralisches Handeln von Individuen
1. Die Krise der Gemeinschaft
1.1 Der Gemeinsamkeitsglaube bei Max Weber
1.2 Verschachtelung partikularer und universaler Gemeinschaften in offenen individualistischen Gesellschaften
2. Das Handeln von Individuen in Organisationen
2.1 Organisationale Umwelten
2.2 Individuen in Organisationen mit subversiven Zweck
2.3 Individuen in kleinen Organisationen mit kompatiblen Zweck
2.4 Individuen in großen Organisationen mit kompatiblen Zweck
3. Fazit

VII. Schlussbetrachtungen

Einleitung

Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts findet in Europa ein Prozess der Vereinigung statt. Souveräne Nationalstaaten verzichten dabei auf einen Teil ihrer Freiheit. Gründe dafür waren unter anderem die Verhinderung eines weiteren, auf dem Rücken Europas ausgetragenen Weltkriegs, die Sicherung der Demokratie als stabile Gesellschaftsordnung in Europa und die Verstärkung der Wirtschaft durch überregionale Kooperation mit der daraus folgenden relativen wirtschaftlichen Unabhängigkeit von den USA.

Als Lehre aus der, die Beziehungen zwischen den einzelnen Nationalstaaten Europas prägenden Bündnispolitik des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zog man, dass diese nicht nur gescheitert war, sondern nicht zuletzt auch ursächlich für die Entstehung und Entwicklung der beiden Weltkriege war. Es bedurfte also einer grundlegenderen Verbindung zwischen den einzelnen Nationalstaaten Europas.

Darüber hinaus erkannte man, dass die Demokratie, die wirksamste Gesellschaftsordnung ist, um die Dominanz bestimmter Herrschereliten einzudämmen, die zur Verwirklichung persönlicher Interessen gesellschaftliche Interessen zurückstellen.[1] Nur indem man die Demokratie als stabile Gesellschaftsordnung innerhalb der EU sicherte, konnten sich Rechtsstaaten entwickeln, in denen u.a. individuelle Freiheits- und Verfügungsrechte garantiert werden konnten. Jeder hatte somit z.B. das Recht auf Eigentum, über welches er frei verfügen konnte. Diese demokratische Gesellschaftsordnung war demzufolge Basis für eine marktwirtschaftlich geprägte Wirtschaftsordnung.

Um nun die Wirtschaft im Nachkriegseuropa zu stärken, einigte man sich zu aller erst auf ein wirtschaftliches Bündnis, in welchem Kooperation auch über die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten hinweg erleichtert wurde. Ziel dieses Bündnisses, war langfristig eine wirtschaftliche Unabhängigkeit von den USA.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich dieses Bündnis immer weiter, sodass nationale Institutionen (z.B. gesetzliche Regelungen) zunehmend durch europäische Institutionen ersetzt wurden. Dieser Einigungsprozess ist heute soweit vorangeschritten, dass man von einer modernen europäischen Gesellschaft sprechen kann. In einer solchen Gesellschaft besteht nun die Chance aber keinesfalls die Garantie für die Etablierung einer universalen Moral.[2]

An diesem Punkt soll nun meine Arbeit ansetzen.

Im ersten Kapitel will ich erklären, was für mich Moral ist, welche Interessen Akteure haben moralisch zu handeln und welche Funktionen für mich die Moral im Europäisierungsprozess hat.

Das zweite Kapitel soll darlegen, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Etablierung einer universalen Moral gegeben sein müssen, welche Gefahren für diese Etablierung bestehen und wo eventuell diese Voraussetzungen bereits gegeben sind.

Im dritten Kapitel will ich nun konkret untersuchen, wie es in der Europäischen Union zur Etablierung einer universalen Moral kommen kann. Anhand vierer Arbeitsthesen möchte ich Probleme formulieren, die eine Etablierung der universalen Moral speziell in der EU gefährden könnten.

Diese Probleme sollen in den darauf folgenden Kapiteln, anhand einer Analyse des Handelns der am Europäisierungsprozess beteiligten Akteure, diskutiert werden, um eventuell Lösungsansätze zu finden.

Abschließend versuche ich zu erklären, ob das Bündnis reif für die Etablierung einer universalen Moral ist, beziehungsweise welche Voraussetzungen in der kommenden Zeit noch geschaffen werden müssen.

Einleitend soll noch erwähnt werden, dass sich diese Arbeit methodisch auf rein theoretischer Ebene bewegen wird. Deren moralphilosophischer und gesellschaftstheoretischer Touch erlaubt es mir kaum empirisch zu forschen. Zudem würden derartige Forschungen zu diesem Thema den finanziellen und zeitlichen Rahmen einer Diplomarbeit sprengen. Trotzdem werden Rückgriffe auf empirische Forschungsergebnisse diverser Wissenschaftler an einigen Stellen einerseits notwendig und andererseits sehr fruchtbar für den Verlauf meiner Arbeit sein. Diesen werde ich mich dann dankbarer Weise bedienen.

Theoretisch stark beeinflusst ist die Arbeit von der Moralphilosophie, welche Michael Baurmann in seinem Aufsatz: „Universalisierung und Partikularisierung der Moral – Ein individualistisches Erklärungsmodell“[3] vertritt. Diese Theorie werde ich, wie bereits erwähnt im ersten Kapitel darstellen und in den darauf folgenden Kapiteln auf die Problematik des Europäisierungsprozesses innerhalb der EU anwenden, also auf dieses bestimmte Thema spezifizieren.

I. Zur Bestimmung der Moral

Im Wörterbuch der Soziologie[4] ist der Moralbegriff u.a. definiert als Handeln, dass dadurch gekennzeichnet ist, seine eigene Interessengeleitetheit zugunsten anderer zurückzustellen. Moralisches Handeln ist demzufolge immer mit einem relativen Verzicht auf Freiheit für die handelnden Akteure verbunden. Differenzierungen zu diesem Begriff lassen sich feststellen, wenn man das Umfeld bzw. den Rahmen betrachtet, indem moralisch gehandelt wird. Handeln Akteure demzufolge so, dass die ihr Handeln bestimmenden Werte und Normen allgemeingültig sind, d.h. unabhängig von Sprache, Herkunft, Glauben, Rasse usw., dann ist auch die von ihnen vertretene Moral allgemeingültig, also universal. Betrachtet man aber o.a. Aspekte als Ausgrenzungskriterien für Akteure, denen gegenüber moralisches Handeln nicht vertreten werden soll, dann ist eine derartiges moralisches Handeln nicht allgemeingültig, sondern auf einen bestimmten Akteurskreis begrenzt. Diese Moral ist partikular.

1. Welche Interessen haben Akteure, moralisch zu handeln?

Um nun aber die Voraussetzungen für die Etablierung des einen oder des anderen Moraltyps´ zu untersuchen, muss man sich zunächst im Klaren sein, welche Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen, damit Akteure generell ihre Interessengeleitetheit im Handeln zugunsten anderer Akteure zurückstellen, oder anders gefragt, wie sich eine auf die elementarsten Beziehungen zwischen Akteuren bezogen Kernmoral[5] entwickeln kann.

Geht man davon aus, das Akteure einen derartigen Freiheitsverzicht nur hinnehmen, wenn sie sich daraus einen Gewinn versprechen, was gleichbedeutend moralisches Handeln aus reiner Nächstenliebe ausschließt, dann muss es auch Akteure geben, die dieses moralkonforme Handeln belohnen bzw. moralwidriges Handeln sanktionieren wollen und können.

Es lassen sich demnach verschiedene Akteurstypen unterscheiden, der des Moralinteressenten, der des Moraladressaten und der des Moralgaranten.

Ein Moralinteressent ist ein Akteur, der ein Interesse daran hat, dass sich ihm gegenüber moralisch verhalten wird und sich demzufolge auch entsprechend verhält. Etwa ein Patient, der davon ausgeht, dass seine persönlichen Daten durch das Krankenhauspersonal vertraulich behandelt werden und diese im Gegenzug bereitwillig preisgibt.

Ein Moraladressat ist ein Akteur, von dem ein moralkonformes Handeln erwartet wird. Dies ist, um im o.a. Beispiel zu bleiben, dann das Krankenhauspersonal.

Moralgaranten sind schließlich Akteure, die aktiv für die Durchsetzung eines moralkonformen Verhaltens seitens der Moraladressaten eintreten. Sie sind also bestimmte Moralinteressenten, die moralisches Handeln nicht nur dadurch einfordern, dass sie sich selber moralisch verhalten, sondern zusätzlich gegebenenfalls bereit sind Sanktionen zu verhängen bzw. Belohnungen bereitzustellen.

Bleibt man aber dem Argumentationsstrang treu, der jegliches altruistisches Handeln ausschließt, kommt man zwangsläufig zu der Frage, welche Interessen Moralgaranten haben, zusätzliche Kosten, die mit Sanktionen bzw. Belohnungen verbunden sind, auf sich zu nehmen. Erklärt sich moralkonformes Handeln zwischen Moralinteressenten und Moraladressaten aus der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, denn diese könnte man tatsächlich mit dem volksmündlichen Sprichwort: „Was du nicht willst, was man dir tut, dass tu´auch keinen anderen zu!“, beschreiben, lassen sich zusätzliche Kosten der Moralgaranten so nicht fassen. Auch an dieser Stelle muss man zunächst noch einige Informationen voranstellen, um die Problematik näher erklären zu können.

1.1. Das Prinzip der individuellen Zurechnung

Zunächst will ich nochmals an dem Punkt ansetzen, wo es um die Erwartungen eines bestimmten Verhaltens von Moraladressaten geht. Wie erwähnt ist moralisches Handeln immer mit einem gewissen Freiheitsverzicht verbunden und richtet sich überwiegend gegen die Interessengeleitetheit moralisch handelnder Akteure. Um nun trotzdem moralkonformes Handeln zu bewirken, stehen Moralinteressenten bzw. Moralgaranten zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Sie können einerseits objektive Handlungsbedingungen der Moraladressaten so manipulieren, dass Situationen verhindert werden, in denen ein Interessenkonflikt auftritt, oder andererseits subjektive Beweggründe für das Handeln der Moraladressaten so verändern, dass diese sich in derartigen Situationen trotzdem moralkonform Verhalten[6].

Erstere Methode bezieht sich vor allem auf die Beseitigung sozialer Ungleichheit. Diese wird als ursächlich für moralwidriges Verhalten seitens der Moraladressaten gesehen, denn Personen, die als Angehörige einer unteren sozialen Schicht nur sehr schwer mit legalen (moralischen) Mitteln ihre Interessen verwirklichen können, haben einen starken Anreiz, dies mit illegalen Mitteln zu kompensieren. Die Verhinderung sozialer Ungleichheit würde folglich diese objektiven Anreize zum moralwidrigen Handeln abbauen. Trotzdem finden sich Phänomene, wie beispielsweise Korruption und Diebstahl nicht nur in Klassengesellschaften. Will man den ehemaligen Ostblockstaaten zugute halten, dass sie es zumindest teilweise geschafft haben soziale Ungleichheit abzubauen, so sticht umso mehr ins Auge, wie hoch dort der Grad an Korruption, Vetternwirtschaft u.ä. war. Mit der Argumentation, dass durch Abbau sozialer Ungleichheit, Gründe moralwidrigen Handelns eliminiert werden, wird ignoriert, dass es nicht nur Interessenkonflikte zwischen Akteuren unterschiedlicher Schichten gibt. Moral bezieht sich, wie oben erwähnt, grundsätzlich auf soziale Beziehungen zwischen Akteuren, also auch zwischen denen gleicher sozialer Schichten. Die Anwendung der Methode zur Veränderung objektiver Handlungsbedingungen ist demnach keineswegs ausreichend, um moralwidriges Handeln zu verhindern. Außerdem ist einleuchtend, dass wohl nur sehr wenige Moralinteressenten die Möglichkeit haben, objektive Handlungsbedingungen zu verändern. Veränderungen diesen Ausmaßes bedürfen ein enorm hohes Machtpotential und sind zusätzlich mit extrem hohen Kosten verbunden. Aus diesen Gründen entziehen sich Veränderungen objektiver Handlungsbedingungen den Einfluss der meisten Moralinteressenten.

Es bleibt uns nun die zweite Methode. Wie kann eine Veränderung der subjektiven Handlungsbeweggründe für die Durchsetzung einer Kernmoral behilflich sein?

Um moralkonformes Handeln zu bewirken muss sich ein Moralinteressent direkt mit dem Verhalten eines Moraladressaten auseinandersetzen. Er muss diesen für moralkonformes Handeln belohnen bzw. bei moralwidrigen Handeln sanktionieren. Nur dadurch kann er subjektive Handlungsbeweggründe beeinflussen und gemäß seinen Interessen steuern. Dieses Prinzip der direkten Steuerung durch Sanktionen bzw. Belohnungen nennt man das Prinzip der individuellen Zurechnung. Jedes elterliche Lob, jede Schulnote, jeder Strafzettel beim Falschparken ist ein Instrument diese Prinzips, welches ausdrückt, dass Akteure für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden. Durch sich daraus ergebende positive und negative Folgen, werden subjektive Handlungsbedingungen direkt oder indirekt verändert. Direkt etwa durch unmittelbare Konsequenzen in einer bestimmten Situation. Indirekt durch die daraus gezogenen Erfahrungen, durch die Handlungsfolgen in zukünftigen Situationen antizipiert werden können. Zusätzlich hat dieses Prinzip spezialpräventive und generalpräventive Wirkungsweisen.[7] Spezialpräventiv für den unmittelbar betroffenen Akteur und generalpräventiv für die Akteure, die durch das Beobachten einer verhängten Sanktion bzw. einer Belohnung, in ihrem Verhalten beeinflusst werden. Nicht umsonst werden beispielsweise Strafzettel für jeden ersichtlich unter den Scheibewischer gehängt, obwohl eine anonyme Behandlung dieser Sache einerseits ausreichend und andererseits unmittelbar weitaus kostengünstiger wäre. Öffentliche Ordensverleihungen oder Beförderungen im Kreis aller Angehöriger einer militärischen Einheit sind andere Beispiele für die Verbindung von spezial- und generalpräventiven Wirkungsweisen des Prinzips der individuellen Zurechnung.

Voraussetzung für die Anwendung diese Prinzips ist wie erwähnt, dass sich Akteure bereit erklären, das Handeln anderer Akteure durch Belohnung bzw. Sanktionierung zu steuern. Doch welche individuellen Voraussetzungen muss ein Akteur haben, um das Prinzip wirksam anwenden zu können?

Einerseits muss er eine gewisse Machtposition innehaben, um Verhaltensweisen anderer ändern zu können. Dies ist nicht immer gleichbedeutend mit einer stabilen hierarchischen Herrschaftsstruktur. Macht beschreibt immer ein Verhältnis zwischen Akteuren und ist niemals eine Eigenschaft eines einzelnen Akteurs. Dieser Aspekt beinhaltet, dass derartige Machtpositionen situationsabhängig sind und daher häufig wechseln. Diese Wechselseitigkeit bedeutet, dass jeder Akteur in der einen Situation als Moralinteressent bestimmte Verhaltensweisen erwartet und gemäß seinen Interessen beeinflusst und in der nächsten Situation als Moraladressat entsprechend den Interessen eines anderen handeln muss, um nicht sanktioniert zu werden. Für die Etablierung einer Kernmoral ist der Aspekt der Wechselseitigkeit zentral, denn dadurch wird gewährleistet, dass Akteure mit annähernd gleichen Machtpotential, gewünschte Verhaltensweisen austauschen können. Keiner wird sich in einer Situation moralwidrig verhalten, wenn absehbar ist, das er in der nächsten Situation auf das moralkonforme Verhalten anderer angewiesen ist. So wird es sich ein Fußballspieler genau überlegen, einen anderen durch grobes Foulspiel zu verletzen, wenn dieses Verhalten in der nächsten Situation durch die Mannschaftskameraden des Verletzten gerächt werden kann.

Neben dem Machtfaktor ist eine weitere spezifische Voraussetzung seitens des Akteurs, der das Prinzip der individuellen Zurechnung anwendet, nötig.

Er muss nämlich fähig und bereit sein, die Kosten zu übernehmen, die Belohnungen und Sanktionen bestimmter Verhaltensweisen bewirken. Bei der Durchsetzung einer Kernmoral bewegen sich die Kosten jedoch meist in einem überschaubaren Rahmen. So verursachen beispielsweise Lob und Tadel kaum Kosten seitens des Moralinteressenten. Trotzdem ist der Kostenfaktor eine ernstzunehmende Größe, wenn man sich die Durchsetzung des Prinzips der individuellen Zurechnung betrachtet. Je größer der Rahmen für eine zu etablierende Moral, umso größer die Kosten bei dessen Durchsetzung.

Zusammenfassend lässt sich bis hier sagen, dass unbedingte Voraussetzungen für die Etablierung wirksamer (Kern-)Normen[8], Moralinteressenten sind, die ein Interesse an der Befolgung dieser Normen haben und dieses Interesse mittels ihrer Machtposition, durch das Prinzip der individuellen Zurechnung, bei annehmbaren Kosten, durchsetzen können. Dabei gilt: „Sowohl der Machtfaktor als auch der Kostenfaktor, die mit der Anwendung des Prinzips der individuellen Zurechnung verbunden sind, können dazu führen, dass Personen, die sich grundsätzlich ein bestimmtes Handeln ihrer Mitmenschen wünschen, den Schritt von Norminteressenten zu Normgaranten dennoch nicht vollziehen.“[9]

Betrachtet man jedoch den wechselseitigen Charakter der Machtpositionen und die relativ geringen Kosten bei der Durchsetzung einer Kernmoral, so bestehen sehr gute Voraussetzungen für deren Etablierung.

Offen bleibt immer noch, welche speziellen Vorteile Moralgaranten haben, die denen durch das Prinzip der individuellen Zurechnung entstehenden Kosten entgegenstehen.

Um die Frage nach den Interessen der Moralgaranten zu beantworten, muss noch mal am Punkt der generalpräventiven Wirkungsweise des Prinzips der individuellen Zurechnung angesetzt werden. Dazu hatte ich oben aufgeführt, dass es bereits durch das Beobachten bestimmter Sanktionen bzw. Belohnungen zu positiven, Verhaltensänderungen im Sinne moralischen Handelns kommen kann. Diese Verhaltensänderungen bestehen aber nicht nur für eine bestimmte Situation, sondern können sich dauerhaft festsetzen. Man kann hier also zusätzlich von einer kumulativen Wirkung des Prinzips der individuellen Zurechnung sprechen, dass sich dadurch kennzeichnet, das Akteure fähig sind zukünftige Situationen zu antizipieren und entsprechend ihr Handeln so gestalten, dass sie entweder Sanktionen verhindern oder Belohnungen erhalten können. Dadurch entsteht ein gewisses „Moralkapital“[10], welches durch die stetige Anwendung des Prinzips relativ kostengünstig erhalten werden kann. Die Charakteristik dieses Kapitals besteht darin, dass auf grund der kumulativen Wirkung des Prinzips der individuellen Zurechnung, gewünschte Verhaltensweisen der Moraladressaten dauerhaft aufgebaut und verstärkt wurden. Abgesehen von wenigen abweichenden Moraladressaten, hat sich nun eine Moral etablieren können. Der spezifische Anreiz seitens der Moralgaranten, anfallende Kosten zu übernehmen, kann nun damit erklärt werden, dass durch ständige aber geringe Investitionen, dieses Moralkapital preiswert erhalten werden kann.

Diese Moral ist dementsprechend ein kollektives Gut, welches jedem frei zur Verfügung steht und von welchem jeder profitiert, welches aber im Gegenzug ständige Investitionen benötigt, um erhalten zu bleiben.

1.2. Schwierigkeiten

Moral ist also ein Kollektivgut. Doch wie gehen Akteure mit diesem frei zugänglichen Gut um?

Um dies näher zu erklären, möchte ich mich eines Beispiels bedienen, das Elinor Ostrom[11] verwendet, um die Kollektivgutproblematik zu verdeutlichen. Sie beschreibt eine Gemeindewiese (Allmende), die jedem Mitglied der Gemeinde zur Nutzung bereitsteht. Jeder Akteur steht nun vor der Situation, dass er durch deren Nutzung profitieren kann, ohne die dadurch entstehenden Kosten (z.B. Überweidung) unmittelbar tragen zu müssen. Außerdem entstehen diese Kosten nicht nur ihm allein, sondern allen Nutzern der Allmende. Für jeden rationalen Akteur besteht nun der Anreiz, durch möglichst hohe Nutzung, soviel Profit wie möglich zu machen, denn die dadurch entstehenden Kosten werden ja von allen getragen und entstehen nicht unmittelbar. Das Dilemma besteht darin, dass für jeden Nutzer damit der Anreiz zur Überweidung der Allmende besteht. Die Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass sobald erste Anzeichen der Zerstörung dieser Gemeindewiese sichtbar werden, jeder Akteur noch schnell soviel wie irgend möglich, von dem bald nicht mehr zur Verfügung stehenden Kollektivgut profitieren will. Die Zerstörung wäre damit beschleunigt und unvermeidbar.

Ähnlich verhält es sich mit der Moral. Wenn wir davon ausgehen, dass mittels des Prinzips der individuellen Zurechnung, ein gewisses Grundkapital an Moral erschaffen wurde, dann stellt sich die Situation der Nutzer (Moralinteressenten) dieses Kapitals ähnlich wie die Situation der Nutzer der Allmende dar. Auch hier besteht der Anreiz möglichst viel Profit zu schlagen, ohne unmittelbar Investitionen zur Erhaltung des Kollektivgutes (Moral) zu tätigen. Warum sollte man Kosten der Zurechnung tragen, wenn man von dem bereits vorhandenen Moralkapital profitieren kann?

In der Praxis äußert sich dieses Phänomen darin, dass geringe „moralische Vergehen“ nicht mehr geahndet werden. Warum sollte man den kleinen Ladendieb aufspüren, der nur sehr geringen Schaden anrichtet, welcher wiederum zu den Kosten eine Fahndung und Bestrafung in keinem Verhältnis steht? Warum soll man den Nachbarn anzeigen, der vor seinem Haus einen Ölwechsel durchführt? Die Kosten der Anzeige, die sich nicht nur im zeitlichen Aufwand widerspiegeln, sondern vielmehr in der Gefährdung des guten nachbarschaftlichen Verhältnis, rechtfertigen subjektiv in keinem Fall diese Anzeige. Aber auch auf höherer Ebene verzichtet man oft auf die Anwendung des Prinzips der individuellen Zurechnung. Die lasche Steuerfahndung und Pauschalisierung von Absetzmöglichkeiten ohne entsprechende Nachweise haben mittlerweile dazu geführt, dass Steuerbetrug zu einer Art Volkssport avanciert ist.

Ohne entsprechende Investitionen kommt es aber zur Zerstörung des Kollektivgutes. Verstärkend wirkt dabei noch, dass diese Zerstörung des Moralkapitals schleichend geschieht. Die Akteure sehen zunächst keine negativen Folgen ihrer mangelnden Investitionen. Dieser Aspekt erhöht einleuchtender Weise den Anreiz, Investitionen auszulassen. Sind dann aber die Anzeichen der Zerstörung sichtbar, dann verschlechtert sich die Situation der Moralinteressenten erheblich. Die relativ niedrigen Kosten der Sanktionierung von vereinzelt abweichenden Moraladressaten innerhalb eines intakten Moralkapitals, steigen erheblich durch die große Anzahl von moralwidrig Handelnden innerhalb eines maroden Moralkapitals.

So sind heutzutage die Kosten für eine Ladenüberwachung, ob nun in Form von Detektivarbeit oder durch Überwachungskameras erheblich gestiegen. Abgesehen von dem finanziellen Aufwand solcher Überwachungsmethoden, kommt es auch zu erheblichen Umsatzeinbußen durch Vertrauensverlust moralisch handelnder Akteure. Ein Kaufhauskunde der auf Schritt und Tritt überwacht wird, wird sich kaum in seiner Situation wohlfühlen und dementsprechend nur das nötigste in schnellstmöglicher Zeit einkaufen. Noch erheblicher sind die Folgen in der Steuerproblematik. Um „Schlupflöcher“ zu stopfen, entwickelte man ein dermaßen komplexes Steuersystem, dass selbst Steuerberater kaum überblicken können. Der Verwaltungsaufwand steigt immer weiter und wird immer teurer.

Diese gestiegenen Kosten tragen nun aber keinesfalls unmittelbar Früchte. Denn wie bereits erwähnt, bedürfen dauerhafte Verhaltensänderungen eine gewisse Zeit. Spitzt sich diese Situation weiter zu, dann kommt es unausweichlich irgendwann zu einem Punkt, an dem rationale Moralinteressenten, selbst wenn sie sich der Situation bewusst sind, nicht mehr bereit sind diese forcierten Kosten zu tragen[12]. Das Moralkapital wird dann, ähnlich wie die Allmende, individuell bestmöglich aufgebraucht und steht kommenden Generationen nicht mehr zur Verfügung.

1.3 Lösungswege

Unterstellt man den Akteuren, dass sie nicht an der Zerstörung des Kollektivgutes Moral interessiert sind, muss man sich überlegen, wie sie diesem Dilemma entgehen können.

Elinor Ostrom diskutiert im ihrem Aufsatz drei[13] unterschiedliche Lösungswege.

Zunächst können Akteure im hobbes´schen Sinn individuelle Verfügungsrechte an einen Akteur abgeben, von dem sie subjektiv überzeugt sind, dass er diese Verfügungsrechte optimal verwalten kann. Durch die Installation dieses Leviathan ist es nun nicht mehr möglich, dass jeder Akteur für sich agiert, denn er hat nicht mehr die entsprechenden Verfügungsrechte. Damit wäre ein zentraler Aspekt der Kollektivgutproblematik umgangen. Eine „Überweidung“ kann durch die Akteure nicht mehr geschehen. Problematisch ist aber, dass es keine Garantie dafür gibt, dass der Leviathan selbst ein moralisch handelnder Akteur ist. Abweichend von Hobbes, der diesen Gesichtspunkt nicht diskutiert[14], kann man sich in der Praxis sehr wohl vorstellen, dass ein zentraler Herrscher, Verfügungsrechte nicht im Sinne seiner Beherrschten, optimal verwaltet. Es bestehen sogar spezifische Anreize für solche Akteure, ihre Herrschaft zu ihren Gunsten auszunutzen. Politiker oder Manager, die sich auf grund ihrer Position unmittelbar spezifische Vorteile verschaffen können, werden das unter Umständen auch tun. Die immer wieder aufgedeckten Korruptionsaffairen zeigen einerseits nur die Spitze des Eisbergs und sind andererseits ein klares Indiz für o.a. Aspekte. Herrschaft ist also allein eher ungeeignet zur Überwindung des Kollektivgutproblems. Ist das Kollektivgut gar die Moral, kann dieser Lösungsweg sogar konterproduktiv sein.

Die zweite diskutierte Lösung ist die Privatisierung des Kollektivgutes. Jeder Bauer bekommt seinen Teil der Allmende zugewiesen und kann diesen für sich persönlich nutzen. Logischerweise ist dieser Lösungsansatz bei Moral als Kollektivgut nicht anwendbar. Wie sollte man Moral privatisieren? Wenn diesbezüglich jeder Akteur nur für sich selbst verantwortlich ist, hat man eine Anarchie. Gesellschaftliches Zusammenleben wäre nicht möglich.

Es ist also weder der zentrale Verwalter des Kollektivgutes, noch dessen rein individuelle Nutzung wirksam, um die Kollektivgutproblematik zu umgehen. Ein vielversprechender Ausweg ist hingegen die Installation von Kooperationsstrukturen. Diese Kooperationsstrukturen sind Institutionen, die klar regeln können, welcher Akteur in welcher Art und Weise am Kollektivgut teilhaben kann. Diese Institutionen können zudem noch situationsspezifisch konstruiert werden und gewährleisten so eine optimale Verwaltung des jeweiligen Kollektivgutes. So kann beispielsweise bei der Allmende geregelt werden, welcher Bauer zu welcher Zeit sein Vieh auf die Gemeindewiese treiben kann, und welcher Bauer in welcher Art zur Pflege der Allmende herangezogen wird. Bei anderen Kollektivgütern können dieses Regelungen mittels Kooperation so abgestimmt werden, dass diese optimal der Zerstörung des Kollektivgutes entgegenwirken können.

Auch bei der Moral ist Kooperation das zentrale Instrument, um dem Teufelskreis der Zerstörung zu durchbrechen. Darüber hinaus lässt sich mit dem Kooperationsaspekt die noch offene Frage beantworten, wie eine Etablierung einer Moral, über die Grenzen eines Kernbereichs hinaus erfolgen kann. Diese Etablierung einer universalen Moral soll im nächsten Absatz erläutert werden.

2. Die Universalisierung der Moral

Wir hatten bis hierher festgestellt, dass mittels des Prinzips der individuellen Zurechnung, sehr gute Voraussetzungen geschaffen werden können, um eine Kernmoral zu etablieren. Des weiteren wurde auf die Gefahr hingewiesen, dass mit zunehmender Vergrößerung des Wirkungsbereichs einer Moral, die Kosten des für die Durchsetzung dieser nötigen Zurechnungsprinzips wachsen und Akteure gegebenenfalls nicht mehr bereit sind, diese Kosten zu tragen. Forcierend wirkt noch die Problematik, dass ein bereits vorhandenes Kollektivgut den Anreiz dafür schafft, Trittbrett zu fahren. Dieses Ausnutzen der Vorteile eines Kollektivgutes ohne eigene Investitionen in dieses hatten wir als Allmende-Dilemma bezeichnet. Offen bleibt jetzt noch zu klären, wie es trotzdem zu einer Ausweitung moralischen Verhaltens über die Grenzen eines Kernbereichs hinaus kommen kann? Anders gefragt: „Wie kann eine universale Moral als eine wirksame, das Verhalten bestimmende Kraft (...) überhaupt entstehen?“[15]

Das Prinzip der individuellen Zurechnung ist also für die Etablierung einer universalen Moral nicht ausreichend. Zusätzlich zu o.a. Erklärungen kommt noch, dass Moralinteressenten das Einhalten entsprechender Normen durch die Moraladressaten grundsätzlich nicht sicherstellen können. Jeder Moraladressat steht nämlich einer Vielzahl von Moralinteressenten gegenüber, die entweder nicht die Macht haben, oder nicht bereit sind die Kosten zu tragen, um ihnen gegenüber eine Kernmoral durchzusetzen. Um trotzdem eine Universalisierung ermöglichen zu können, müssen Moralinteressenten existieren, die „stellvertretend für andere dafür sorgen, dass diese nicht aus der Reichweite der Moral ausgeschlossen werden.“[16] Diese Moralgaranten müssen demzufolge daran interessiert sein, dass Normen gegenüber ihnen und gegenüber anderen durchgesetzt werden. Dieses Interesse kann beispielsweise ein Kooperationsinteresse sein. Wenn nämlich Akteure daran interessiert sind, dass Normen gegenüber potentiellen Kooperationspartnern eingehalten werden. So wird jeder Geschäftsmann an einem moralischen Handeln gegenüber seinen Geschäftspartner interessiert sein, nicht nur seinerseits, sondern auch seitens anderer Personen. Um eine Universalisierung von Werten und Normen zu gewährleisten, müssen diese Kooperationsinteressen zudem überregional sein, denn Akteure, die ihre Interessen vollständig durch lokale Kooperation verwirklichen können, sind nicht an einem generalisierten Wertsystem interessiert. So wird ein oberbayrischer Landwirt, der seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus dem Verkauf seiner Erträge innerhalb der Region verdienen kann, kaum ein Interesse daran haben, seine Waren zu exportieren. Für ihn ist eine Ausweitung moralischer Werte, beispielsweise auf polnische Regionen, vollkommen irrelevant und er wird in diese Ausweitung nicht investieren. Es kann sogar zu einem aktiven Verhalten gegen diese Universalisierung kommen, da durch Marktöffnungen etwa die Möglichkeit besteht, dass lästige Konkurrenz in seine Region eindringt. Will dieser Bauer aber in anderen Regionen Handel betreiben, dann ist er sehr wohl an einer Ausweitung der Moral zumindest auf diese Regionen interessiert.

Weiterhin muss gewährleistet sein, dass diese Kooperationsinteressen nicht von Machtinteressen dominiert werden. Wenn es beträchtliche Differenzen im Machtverhältnis zwischen Akteuren gibt, kann es dazu kommen, dass Gewalt eine kostengünstigere Methode als Kooperation ist, um seine Interessen zu verwirklichen. So war es natürlich weitaus kostengünstiger, seinen Bauern den Zehnten herauszudrücken, als diesen z.B. durch Tausch zu erwirtschaften.

Unter Berücksichtigung eben erwähnter Argumente kann man für die Voraussetzung einer Universalisierung eine Moral folgende Hypothese aufstellen:

Wenn es keine objektiven Ausgrenzungskriterien für zukünftige Kooperationspartner gibt und wenn ein derartiges Kriterium unter Machtinteressen nicht vorteilhaft ist, dann würden Akteure mit partikularen Moralinteressenten eventuell vorzeitig potentielle Kooperationspartner ausschließen.

Diese Hypothese ist gleichzeitig, um mit Baurmann zu sprechen, ein „moralfreies Argument für Moralität“[17], denn es sind keine moralischen Idealvorstellungen und kein uneingeschränkter Altruismus nötig, um universale Moral durchzusetzen. Es liegt in diesem Fall ausschließlich im persönlichen Interesse des jeweiligen Akteurs, für eine universale Moral einzutreten.

Zusammenfassend können wir bis hierher festhalten, dass das Interesse an Kooperation einerseits ein vielversprechender Ausweg aus dem Dilemma der Allmende ist und andererseits eine feste Basis für die Etablierung einer Moral über die Grenzen eines Kernbereichs hinaus ist. Nur durch Kooperation können beispielsweise Institutionen geschaffen werden, die ein Kollektivgut vor dem Teufelskreis der Übernutzung und Zerstörung schützen. Diese Institutionen sind beim Allmendebeispiel die spezifischen Regelungen der Nutzung. Wenn wir die Moral als Kollektivgut betrachten, können sich Institutionen ebenfalls in Regelungen widerspiegeln, die z.B. Eigentumsrechte, Verfügungsrechte o.ä. garantieren.

II. Moral und Gesellschaft

Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Voraussetzungen für die Etablierung einer universalen Moral theoretisch erfasst wurden, bleibt jetzt offen zu klären, ob bzw. wie diese Etablierung praktisch durchführbar ist.

Dazu ist es meines Erachtens sinnvoll, zunächst die Gesellschaftsform zu benennen, in der Persönlichkeitsrechte, wie das Recht auf Eigentum und dessen freie Verfügbarkeit gewährleistet werden können, um damit den Boden für das „Gedeihen“ universaler Werte und Normen zu bereiten. Danach soll mit Blick in die Vergangenheit untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen eine solche Gesellschaft entstehen konnte. Abgeschlossen soll dieses Kapitel werden, mit der Analyse der Gefahren für eine bereits bestehende universale Moral innerhalb einer Gesellschaft.

1. Die offene individualistische Gesellschaft

Mit der Benennung der Überschrift ist die Frage, ob ein Gesellschaft existiert, in der die Voraussetzungen für die Etablierung einer universalen Moral gegeben sind, bereits beantwortet. Es ist die offene individualistische Gesellschaft, in der sich eine solche Moral entwickeln kann.

Eine offene Gesellschaft in sofern, dass ihre Mitglieder u.a. das Recht haben, frei zu kooperieren[18]. Das heißt, dass Kooperation nicht an bestimmte Schichten, Religionen, Gruppen usw. gebunden ist und es damit keine zuverlässigen Ausgrenzungskriterien für potentielle Kooperationspartner gibt. Jeder kann also grundsätzlich mit jedem kooperieren. Es entstehen offene Märkte innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsform.

Eine individualistische Gesellschaft insofern, dass jedes Individuum für sein Handeln selbstverantwortlich ist. Diese Eigenverantwortlichkeit ermöglicht einerseits die Anwendung des Prinzips der individuellen Zurechnung, garantiert dem Individuum aber andererseits Persönlichkeitsrechte[19], die vor Benachteiligungen auf grund Zugehörigkeit einer bestimmten Schicht, Religion oder Gruppe zuverlässig schützen.

In einer derartigen Gesellschaft ist es zusätzlich zur Nichtexistenz von Ausgrenzungskriterien potentieller Kooperationspartner wahrscheinlich, dass die Kooperationsinteressen der Akteure über deren Machtinteressen dominieren, da es durch die Persönlichkeitsrechte zu einem Schutz sozial schwächerer Akteure kommt. Das Ausnutzen einer höheren Stellung im Machtverhältnis durch einzelne Akteure ist zwar nicht ausgeschlossen, langfristig aber weitaus kostenintensiver als Kooperation. So haben beispielsweise auch Arbeitnehmer der untersten Hierarchieebene gesetzlich garantierte Rechte, die sie vor Ausbeutung seitens der Arbeitgeber schützen. Für diese Arbeitgeber ist es daher kostengünstiger zu kooperieren, als eventuell staatliche Sanktionen für Ausbeutung entgegennehmen zu müssen.

Die Entstehung einer offenen individualistischen Gesellschaft ist aber eher unwahrscheinlich, da Kooperationsinteressen nicht nur individuell, sondern auch kollektiv Machtinteressen dominieren müssen. So ist es z.B. in Feudalgesellschaften oder Monarchien für die Vertreter von Machtinteressen, die dort gewöhnlich dominant sind, weitaus kostengünstiger weiterhin Gewalt anzuwenden, als zu kooperieren. Kein Feudalherr braucht mit seinen Untergebenen zu kooperieren, wenn er seine Interessen einfacher mittels Gewalt verwirklichen kann. Die Entwicklung offener individualistischer Gesellschaften aus diesen Feudalgesellschaften heraus, ist daher an spezifische Voraussetzungen gebunden, welche Herrschereliten dazu gezwungen haben ihren Untergebenen gewisse Zugeständnisse zu machen, also mit ihnen zu kooperieren. Derartige Prozesse haben bisher nur sehr selten stattgefunden. Einen davon will ich im nächsten Absatz näher erläutern.

2. „Das Wunder Europa“

Im 17. und 18. Jahrhundert war die geographische Situation in Europa so, dass es eine Vielzahl von Klein- und Kleinststaaten gab. Durch diese Vielfalt war die Macht der jeweiligen Herrschereliten innerhalb der Staaten gegenüber untergebenen Schichten stark begrenzt. Einerseits bestanden für die Beherrschten gute Abwanderungsmöglichkeiten[21] in andere Staaten. Andererseits waren die Herrschereliten stark auf ihre Beherrschten angewiesen, um mit deren Hilfe, auf grund der bedrohlichen strategischen Situation, ihren Staat intensiver schützen zu können. Es bedurfte also einerseits Kriegsdienste durch die Beherrschten und andererseits Steuereinnahmen für die Konfliktfinanzierung. Damit war eine Situation gegeben, in der die Herrscher ihren Beherrschten gewisse Zugeständnisse machen mussten, um deren Abwanderung zu vermeiden. Diese Zugeständnisse waren vor allem das Recht auf Eigentum und das individuelle Recht auf dessen Verfügung. So konnten Märkte entstehen, die weiter zur Anhäufung von Eigentum führten. Das wachsende Eigentum brachte wiederum höhere Steuereinnahmen; ein Aspekt der den Herrschereliten natürlich zu Gute kam und deshalb auch stark gefördert wurde. Vor allem kam es aber zur langfristigen Umkehrung der Machtverhältnisse hin zur Macht des Besitzbürgertums. Dieses war nun traditionell stärker daran interessiert, seine Interessen durch Kooperation zu verwirklichen, als durch Macht. Um besser Handel betreiben zu können, wurden Institutionen zur Regelung von Kooperation geschaffen. Damit man beispielsweise potentielle Kooperationspartner nicht ausschloss, regelte man den freien Handel. Um Kapital anhäufen zu können, garantierte man gesetzlich Eigentums- und Verfügungsrechte. Es konnten so letztendlich offene individualistische Gesellschaften entstehen, die Kooperationsinteressen vor Machtinteressen schützten.[20]

Das Wunder Europa beschreibt also die Entstehung offener individualistischer Gesellschaften aus Feudalgesellschaften oder Monarchien heraus. Auch in der Geschichte der USA lassen sich ähnliche Prozesse erkennen. Trotzdem gab es immer wieder größere Einschnitte in diese Entwicklung. Oft versuchten gewisse Akteure oder Schichten ihre Interessen durch die Anwendung von Gewalt zu verwirklichen. Ob das nun das nationalsozialistische Deutschland des 20. Jahrhunderts, oder die Sklavenhaltergesellschaft der Südstaaten innerhalb der USA waren, die diesen Entwicklungsprozess massiv bedrohten, offensichtlich gibt es Anzeichen, dass große Gefahren für offene individualistische Gesellschaften, innerhalb derer nur eine Etablierung universalistischer Werte stattfinden kann, bestehen.

Welche Gefahren das im einzelnen sein können, wird im nächsten Absatz beschrieben.

3. Gefahren innerhalb offener individualistischer Gesellschaften

Aus der Vielzahl der Aspekte, die für eine Etablierung universalistischer Werte und Normen gefährlich werden können, will ich in Anlehnung an Baurmann[22], zwei Hauptkategorien bilden, welche ich jeweils anhand von Beispielen darstellen will.

Zunächst gibt es innerhalb offener individualistischer Gesellschaften immer auch Akteure, die kein persönliches Interesse an einer universalen Moral haben. Dies sind beispielsweise Akteure, die ihre Interessen ausschließlich durch lokale Kooperation verwirklichen können. Sei es nun o.a. Bauer, der seinen Hof allein dadurch profitabel bewirtschaften kann, indem er seine Erträge innerhalb der Region verkaufen kann, oder eine lokale Brauerei, dessen Bier ausschließlich in näherer Umgebung gekauft wird. Für beide Akteure ist eine Ausweitung universaler Werte in andere Regionen bezüglich ihrer Interessenverwirklichung irrelevant. Sie werden nicht in diese Ausweitung investieren. Verstärkt kann dieser Aspekt werden, wenn durch die Ausweitung universaler Werte Situationen entstehen, die für bestimmte Akteure Konkurrenz entstehen lassen. So könnten eventuell durch Marktöffnungsprozesse andere Bauern in die Regionen kommen und die Existenz des ehemaligen „Platzhirsches“ bedrohen bzw. Großbrauereien die lokalen Brauereien verdrängen. Akteure in solchen Situationen werden nicht nur Investitionen in die Ausweitung universaler Werte und Normen meiden. Sie werden jetzt zusätzlich aktiv gegen diese Ausweitung agieren. Außerdem gibt es in offenen individualistischen Gesellschaften immer auch Akteure, die zwar Profit aus überregionaler Kooperation schlagen, aber keinen eigenen Beitrag dafür leisten müssen. Solche Trittbrettfahrer werden ebenfalls nicht in eine universale Moral investieren. Politische Parteien, die programmatisch gegen universale Werte sind, aber gleichzeitig deren Früchte in Form von staatlicher Parteifinanzierung oder freiem Rede- und Versammlungsrecht ernten, sind mustergültige Beispiele für diese Trittbrettfahrer. Zu guter letzt bestehen immer auch sprachliche, räumliche oder kulturelle Hürden zwischen Akteuren, die überregionale Kooperation erschweren.

Die zweite große Kategorie, in der man Gefahren für die Etablierung einer universalen Moral zusammenfassen kann, lässt sich im folgenden Satz ausdrücken. Es ist der Aspekt, dass man in offenen individualistischen Gesellschaften immer auch Akteure findet, deren Kooperationsinteressen durch Machtinteressen dominiert werden[23]. Dies sind einerseits Akteure, die durch eine Partikularisierung der Moral, Kosten einer universalen Moral vermeiden wollen. So kann es für arbeitslose Menschen durchaus rational sein, mittels Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer, also mit Anwendung psychischer und physischer Gewalt gegen diese, sich lästiger Konkurrenten zu entledigen. Mobbing am Arbeitsplatz ist ein anderes Beispiel für diesen Gesichtspunkt. Andererseits sind dies Akteure, die sich direkte Gewinne aus einer Partikularisierung der Moral, also der Beschränkung bestimmter Normen und Werte auf Teilbereiche, versprechen. Sie können dann innerhalb dieser Bereiche eine persönliche Vorherrschaft errichten, durch die sie sehr kostengünstig ihre Interessen verwirklichen können. Die Errichtung von Vorherrschaft kann nach innen und außen geschehen. Nach innen, also innerhalb bestehender Ordnungsgefüge, z.B. durch Korruption. Dafür kann man Politiker benennen, die durch Korruption hohe individuelle Gewinne machen, also von der Beschränkung gewisser Werte und Normen auf einen bestimmten Bereich profitieren. Nach außen, also außerhalb bestehender Ordnungsgefüge, z.B. durch Kolonialisierung. In dem Staaten andere Staaten unterwerfen und daraus Profit schlagen.

[...]


[1] So beispielsweise die Kolonialpolitik des 19.Jh., welche vor allem der Ausweitung des Herrschaftsgebietes der einzelnen Monarchen und deren persönlichen Bereicherung diente, ohne jedoch entscheidende gesamtgesellschaftliche Vorteile zu bewirken.

[2] vgl. Baurmann 1997 S. 70

[3] vgl. Baurmann 1997

[4] vgl. König, R. 1969 S. 978

[5] vgl. Baurmann 1997 S. 73

[6] vgl. Baurmann 1997 S. 74

[7] vgl. Baurmann 1997 S. 77

[8] Kernnormen bzw. Kernmoral gelten unter Personen, welche persönliche Beziehungen untereinander haben.

[9] vgl. Baurmann 1997 S. 79

[10] vgl. Baurmann 1997 S. 99

[11] vgl. Ostrom 1989 S. 199

[12] vgl. Baurnann 1997 S. 101

[13] vgl. Ostrom 1989 S. 205

[14] Für Hobbes ist der Leviathan ein Akteur ohne eigene Interessen und kann so optimal im Sinne der Akteure handeln, die ihm ihre Verfügungsrechte übertragen haben. Dadurch umgeht Hobbes auch die Frage nach dem Herrschaftsentzug, die sich auf grund des „Zwangs der optimalen Verwaltung“ seitens des Leviathans überhaupt nicht stellt.

[15] vgl. Baurnann 1997 S. 72

[16] vgl. Baurnann 1997 S. 81

[17] vgl. Baurnann 1997 S. 84

[18] Das Recht auf freie Kooperation spiegelt sich auch im Grundgesetz der BRD wider. So z.B. im Art. 11 GG (Freizügigkeit); Art. 12 GG (Berufsfreiheit); Art. 14 GG (Eigentum).

[19] Die Persönlichkeitsrechte sind ebenfalls im Grundgesetz der BRD zu finden. So z.B. im Art. 1 GG (Menschenwürde); Art. 3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz).

[20] Vgl. Jones, Eric L.; „Das Wunder Europa“

[21] vgl. Hirschman, A.

[22] vgl. Baurmann 1997 S.88ff

[23] vgl. Baurmann 1997 S. 90

Excerpt out of 89 pages

Details

Title
Die Europäische Union - Chance und Gefahr für die Etablierung einer universalen Moral
College
University of the Federal Armed Forces München  (Institut für Soziologie und Gesellschaftspolitik)
Grade
2,0
Author
Year
2002
Pages
89
Catalog Number
V12067
ISBN (eBook)
9783638180573
File size
822 KB
Language
German
Keywords
Europäische Union; Moral
Quote paper
Peter Leffler (Author), 2002, Die Europäische Union - Chance und Gefahr für die Etablierung einer universalen Moral, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12067

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