Die Frage nach dem sicheren Geschlecht

Entwürfe von Männlichkeit bei Joachim Heinrich Campe, Adolph Freiherr von Knigge und Amalia Holst


Examensarbeit, 2002

122 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


INHALT

EINLEITUNG

1. DIE DISKURSLANDSCHAFT DER SPÄTAUFKLÄRUNG

2. SUBTILE MACHTKÄMPFE : JEAN JACQUES ROUSSEAUS „EMIL ODER ÜBER DIE ERZIEHUNG “ (1762)
2.1 Die „Wiederentdeckung“ des menschlichen Körpers
2.2 Die natürliche Erziehung und das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling
2.3 Die Ordnung der Geschlechter
2.3.1 Die Erziehung von Emil und Sophie
2.3.2 Das voll entwickelte Geschlechtermodell

3. DER GESCHLECHTERDISKURS DER SPÄTAUFKLÄRUNG
3.1 Kontinuität und Wandel
3.2 Das neue Interesse an dem Geschlecht des Menschen
3.3 Diskursteilnehmer und Adressatenkreis
3.4 Die Entwicklungslinien des Geschlechterdiskurses
3.5 Das Geschlechtermodell im alltäglichen Leben

4. JOACHIM HEINRICH CAMPE UND ADOLPH FREIHERR VON KNIGGE IM BIOGRAPHISCHEN VERGLEICH
4.1 Herkunft
4.2 Kindheit und Jugend
4.3 Studium
4.4 Heirat, Ehe, Familie
4.5 Beruf und öffentliches Leben
4.6 Die Ehekrise in Knigges Haus im Sommer
4.7 Die Begegnung von Campe und Knigge
4.8 Das Verhältnis zu den Töchtern
4.9 Campe und Knigge im biographischen Vergleich

5. DIE GRENZEN DES MANNSEINS: ENTWÜRFE VON MÄNNLICHKEIT IM WERK JOACHIM HEINRICH CAMPES
5.1 Der Mann in seiner geschlechtlichen Gebundenheit: Campes Kampf gegen Unzucht und Selbstbefriedigung
5.2 Der Mann als öffentlicher Mann: Moderne als Krise der Männlichkeit
5.3 Die Übertragung der Geschlechtlichkeit auf die Frau: Die Vorteile des Mannseins
5.3.1 Der Mann im öffentlichen Raum
5.3.2 Der Mann als Vater, Erzieher und Oberhaupt der Familie
5.4 Das Alter des Mannes: Das Verhältnis von Theophron und Kleon

6. MENSCHENBILDER – MÄNNERBILDER: MÄNNLICHKEIT IN ADOLPH FREIHERR VON KNIGGES „ÜBER DEN UMGANG MIT MENSCHEN“
6.1 Der Selbstentwurf des männlichen Autoren
6.2 Die Hinwendung an den männlichen Leser
6.3 Das Ideal des Mannes
6.4 Der Mann in der gesellschaftlichen Realität

7. VON DER „PRAKTISCHEN ERZIEHERIN“ ZUR ERSTEN „FRAUENRECHTLERIN HAMBURGS“: GESCHLECHTLICHKEIT IM WERK VON AMALIA HOLST
7.1 Biographische Einordnung
7.2 Der Mann aus der Perspektive der Frau: Weibliches Schreiben und das Problem der Geschlechtlichkeit bei Amalia Holst
7.2.1 Bescheidene Kritik aus aufgeklärt universeller Perspektive: „Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung“ (1791)
7.2.2 Die pragmatische Harmonie zwischen den Geschlechtern: Amalia Holsts Kritik an Wobesers Roman „Elisa oder das Weib wie es seyn sollte“
7.2.3 Die gelehrte Hausfrau, Gattin und Mutter: Der Kampf gegen das männliche Bildungsmonopol bei Amalia Holst

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Die These von der Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, in der sich der Bürger als freies und gleiches Mitglied einer sich nach und nach politisierenden Gesellschaft begegnete und aus der er sich in die neu entstandene Sphäre einer privat häuslichen Intimität zurückziehen konnte, gehörte seit den 1960er Jahren für rund 20 Jahre zu den Grundthesen der sozialgeschichtlichen Erforschung des 18. Jahrhunderts.1 Der Lebensbereich des Bürgers habe sich nicht weiter auf die Einheit von Arbeit und Geselligkeit in der produzierenden Großfamilie beschränkt, sondern sei durch die Trennung von der öffentlichen Sphäre der Arbeit und der privaten Sphäre des Konsums klar aufgeteilt worden. Erst durch die Trennung von außerhäuslicher Erwerbsund privater Hausarbeit konnte sich der „Typus“ des modernen bürgerlichen Menschen herausbilden, der in einer doppelten Identität einerseits aktiv an der Fortentwicklung der Gesellschaft in Politik und Wirtschaft teilnimmt, andererseits Freundschaft, Liebe und Geborgenheit in der privaten Sphäre findet.

In den späten 1970er Jahren wurde diese wichtige sozialgeschichtliche These von der noch jungen Frauenund Geschlechtergeschichte aufgegriffen und auf die Rollenzuweisungen in den bürgerlichen Geschlechtermodellen angewendet.2 Während der bürgerliche Mann sich bereits um 1800 klar über seine öffentliche Rolle als Bürger, Berufsmensch und Ernährer einer Familie definiert habe, sei die Frau auf ihren dreifachen Beruf als Gattin, Hausfrau und Mutter festgelegt und an den familiär privaten Wirkungsraum gebunden worden. In ihrer Selbstwahrnehmung hätten sich die Männer zwar am Ende eines anstrengenden Arbeitstages in den Kreis der Familie zurückgezogen; diese privat häusliche Sphäre sei jedoch durch die fortschreitende Feminisierung nach und nach abgewertet worden.

Einige aufwändig erstellte sozialgeschichtliche Forschungen der 1990er Jahre konnten jedoch zeigen, dass die klare Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, denen die Geschlechter mit ihren unterschiedlichen Aufgaben zugewiesen wurden, für das späte 18. Jahrhundert so nicht angenommen werden kann und vielmehr eine

Rückprojektion der Verhältnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts darstellt.3 Weder sei im Denken der Zeitgenossen eine solch klare Trennung getroffen worden, noch hätten sich die Männer einzig über ihre Erwerbsarbeit, die Frauen hingegen über ihre Hausarbeit definiert. Haus und Familie, zu der im 18. Jahrhundert noch Freunde und das Gesinde gerechnet werden, standen vielmehr im Zentrum des bürgerlichen Lebens und konnten über Familienfeiern, private Leseabende und größere Festbankette nahezu übergangslos mit der literarischen und politischen Öffentlichkeit verbunden werden. Unter den vielfältigen Aufgaben, die dem bürgerlichen Mann zugeschrieben wurden, wird bis in die 1820er Jahre und darüber hinaus den häuslichen Pflichten und Rechten die höchste Wertschätzung zugesprochen. Selbst in dem gesellschaftlichen Umgang zwischen Männern trat der bürgerliche Mann lange Zeit nicht als arbeitender Mensch mit einer spezifischen beruflichen Tätigkeit auf, sondern definierte sich weiterhin über seine Berufung zum Vater, Ehemann und Oberhaupt einer Familie. So schreibt etwa der Bremer Rechtsanwalt Ferdinand Beneke (1774-1848) Ende 1809 über das vergangene Jahrzehnt in sein Tagebuch:

Mit ihm schließt ein Decennium. In diesem ward ich Hausherr, Gatte, Vater – dieses Daseyn höchstes Punkt ist erstiegen.4

Bei den bisherigen sozialgeschichtlichen Forschungen hatte es sich als problematisch erwiesen, dass die historische Forschung einerseits die Alltagswirklichkeit aus theoretischen Entwürfen über das bürgerliche Gesellschaftsund Geschlechterideal abzuleiten suchte und sich andererseits, wenn sie denn das alltägliche Leben in den Mittelpunkt der Untersuchung stellte, vorwiegend auf die Erforschung öffentlicher Räume wie Vereine, Akademien, Lesezirkel und Debatierclubs konzentrierte, deren Quellenmaterial leichter zugänglich war. Authentische private Zeugnisse, wie Briefe, Tagebucheintragungen oder autobiographische Texte, blieben lange Zeit unberücksichtigt.

Zwar lässt sich das 18. Jahrhundert tatsächlich als ein Jahrhundert beschreiben, in dem auf ein Phase des universellen Neuentwurfs des Menschen eine Phase folgte, in der das deutliche Bedürfnis nach einer klareren Differenzierung dieses anthropologischen Neuentwurfs zu spüren ist. Der Mensch sollte nicht nur als ein zu Vernunft und sittlicher Reife befähigtes Individuum neu entworfen, sondern über sein Geschlecht, seinen Beruf, seine Begabung, seine Bildung und seine Interessen deutlicher an seine individuelle Natur gebunden werden. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts begaben sich unzählige Autorinnen und Autoren auf die Suche nach der Differenz in einer als universell beschriebenen neuen Natur des Menschen. Die Frage nach dem sicheren Geschlecht, das in den verschiedenen Modellen den Geschlechtern zugewiesen werden sollte, war dabei zwar nur eine Frage in einem Netzwerk verschiedener Diskurse, sie steht jedoch in dem fortschreitenden Differenzierungsprozess des 18. und 19. Jahrhunderts an zentraler Stelle und sollte in den nächsten 100 Jahren die Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft als ein Muster höchster Intensität mitbestimmen. Bis heute liegen das geschlechtlich bipolare Denken und die daraus resultierenden unterschiedlichen Rollenzuweisungen unserem privaten und öffentlichen, sozialen und politischen, alltäglichen und wissenschaftlichen Denken als wohl wichtigste Kategorie sozialen Handelns zu Grunde.

Der Ursprung dieses differenzierenden Denkens im späten 18. Jahrhundert ist in der historischen Forschung unumstritten. Sein Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Bürger im alltäglichen Leben wurde, wie bereits erwähnt, in neueren sozialgeschichtlichen Forschungen in Frage gestellt. Zwar gaben die Rollenmodelle ein stark normativ wirkendes Muster privaten und öffentlichen Verhaltens vor, das jedoch durch geschickte Strategien auf vielfältige Weise unterlaufen werden konnte, wodurch beide Geschlechter ihre Handlungsräume erweiterten und die von ihnen erwarteten Rollen viel spielerischer und flexibler übernahmen als es von der historischen Forschung davor angenommen wurde. Inwieweit diese Rollen jedoch nicht nur im alltäglichen Leben unterlaufen, sondern bereits in den theoretischen Texten deutlich komplizierter und widersprüchlicher angelegt waren als von den Autoren selbst behauptet, soll in dieser Arbeit genauer untersucht werden. Ausgerüstet mit dem Wissen um die Unsicherheit der Geschlechterdifferenz im alltäglichen Leben werde ich anhand einiger pädagogischer Texte des späten 18. Jahrhunderts versuchen, dem Bedürfnis nach einer klareren Geschlechtlichkeit und dem Problem der Autoren, diese Geschlechtlichkeit sicher festzulegen, genauer nachgehen. Dabei begreife ich diese Zeit der Spätaufklärung als eine Zeit des Experimentierens und Gegeneinander-Abwägens, in der verschiedene Geschlechtermodelle miteinander konkurrierten und um die Gunst eines sich ständig vergrößernden Adressatenkreises warben. Auf der einen Seite ist noch immer die Begeisterung der Frühaufklärung für die universelle Natur des Menschen zu spüren. Diese wurde jedoch zunehmend von dem Bedürfnis nach einer klareren Geschlechterdifferenz überlagert und nach und nach abgelöst. Die meisten Autoren versuchten aus diesem Spannungsverhältnis zwischen alter Freiheit und neuer Sicherheit einen doppelten Vorteil zu ziehen, indem sie das Vernunftwesen Mensch mit den Geschlechtswesen Mann und Frau versöhnten. In einem Prozess von rund 100 Jahren wich das allgemeine Menschsein des 18. Jahrhunderts dem allgemeinen Mannsein des 19. Jahrhunderts. Die Frau hingegen wurde auf ihre Sondernatur festgelegt. So finden wir in dem Brockhaus aus dem Jahre 1836 unter dem Stichwort „Mann“ den Eintrag

„siehe Mensch“, während die Frau und ihre besondere Natur in einem 20-spaltigen Beitrag detailliert beschrieben wird.5

In dieser Arbeit gehe ich von der These aus, dass die Differenz der Geschlechtlichkeit von zumindest einem Geschlecht übernommen werden musste, um durch diesen stabilisierenden Effekt sonstige gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu ermöglichen. Interessanterweise musste diese „Übernahme der Geschlechtlichkeit“ jedoch nicht von beiden Geschlechtern in gleichem Maße geleistet werden – im 19. Jahrhundert etwa wird sie allein Aufgabe der Frau – doch wurden die Geschlechter in nahezu allen theoretischen Modellen des späten 18. Jahrhunderts als aufeinander bezogen beschrieben. Die Kategorie Geschlecht, die im 19. Jahrhundert verloren gehen sollte und in der ersten Frauenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre mühsam wiederentdeckt wurde, war dem 18. Jahrhundert nicht fremd. Mann und Frau standen sich in einem komplizierten Netzwerk von Macht, Dominanz, Abhängigkeit und Leidenschaft auf der einen und von Respekt, Achtung, Liebe und Zärtlichkeit auf der anderen Seite gegenüber. Auch wenn die Autoren sich auf die Suche nach dem sicheren Geschlecht begeben haben und dieses komplizierte Geschlechterverhältnis entschärfen wollten, konnten sie sich nicht über die zahlreichen Widersprüchlichkeiten in diesem Machtkampf hinwegsetzen. „Die Frau soll herrschen und der Mann regieren.“6 Noch hatten die Rollen der beiden Geschlechter nicht die Klarheit des 19. Jahrhunderts erreicht.

Für die Untersuchung habe ich aus der Flut des in den 1780er Jahren explodierenden Geschlechterdiskurses drei Autoren ausgewählt, an denen sich dieser

Differenzierungsprozess jeweils unterschiedlich thematisieren lässt.7 In dem Werk des Pädagogen, Verlegers und Kinderbuchautoren Joachim Heinrich Campe (1746-1818) ist das bürgerliche Familienund Ehemodell zum Inbegriff geworden.8 Mit seinen äußerst populären Erziehungsschriften und Ratgebern hat er ganz wesentlich die Festschreibung der Frau auf ihre Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter beeinflusst, als einer der führenden Köpfe der philanthropischen Bewegung in Deutschland beteiligte er sich engagiert an der Reform des Erziehungswesens seiner Zeit.9 Die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit wurden in seinem Werk umfangreich ausgearbeitet.

Der Schriftsteller, Freimaurer und Schulreformer Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796) hat mit seinem Sittengemälde „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) die bürgerliche Selbstwahrnehmung bis heute entscheidend geprägt. Sein Ratgeber, in dem Knigge die verschiedenen Typen von Menschen aufzeichnet, um den jungen Leser so auf den Umgang mit ihnen vorzubereiten, ist bisher noch nicht auf die darin entwickelten Geschlechterentwürfe hin untersucht worden Durch die späteren Bearbeitungen wurde das in der aufgeklärten Tradition des Menschenkenners geschriebene Buch seiner ursprünglichen Intention, zur Entwicklung der Persönlichkeit anzuleiten, völlig entfremdet. Mit den uns heute in Knigges Namen bekannt gewordenen Benimmbüchern und Sittenfibeln hat die Erstausgabe von 1788 nichts zu tun. In ihr begegnet uns der Adlige Knigge als ein aufgeklärter Mann, der ausgehend von einem reichen Erfahrungsschatz seine Leser auf die Möglichkeiten und Gefahren des gesellschaftlichen Umgangs hinweist.

Bei der dritten Autorin, der Schriftstellerin und Pädagogin Amalia Holst (1758- 1829), ist es problematisch von einen pädagogischen Werk zu sprechen, da uns von ihr nur drei Veröffentlichungen überliefert sind. In diesen zeichnet sich jedoch die interessante Entwicklung von einer klaren Anhängerin Rousseaus zu einer seiner frühesten Kritikerinnen in Deutschland ab. Die Untersuchung des Geschlechterdenkens und die Verbindung mit der sich wandelnden Rousseaurezeption macht ihr Werk für eine genauere Untersuchung besonders interessant. Eine historische Forschung zu Amalia Holst im Allgemeinen und zu der Geschlechterfrage im Speziellen existiert bisher nicht.

Die pädagogischen Texte der drei Autoren sollen auf dem Hintergrund der Rousseauschen Erziehungsschriften untersucht werden. Das Werk des französisch schweizerischen Schriftstellers, Pädagogen und Moralphilosophen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist für meine Arbeit aus zweierlei Gründen maßgeblich. Zunächst lieferte die französische „Querelle des Femmes“, in der die Schriften Rousseaus an zentraler Stelle stehen, die Vorlage für die deutsche Diskussion der Geschlechterfrage. Nicht nur unsere Autoren, sondern der gesamte Geschlechterdiskurs der deutschen Spätaufklärung fand in dem wegweisenden Erziehungsroman „Emil oder über die Erziehung“ (1762) des großen Vorbilds immer wieder den Ausgangsund Endpunkt seiner Diskussion. Nach einem Überblick über die Entwicklung im 18. Jahrhundert (Kapitel 1) sollen deshalb in Kapitel 2 die Neuerungen des Rousseauschen Erziehungskonzepts und seine Folgen für das Rollenverständnis der Geschlechter genauer vorgestellt werden.

Gerade für die in dieser Arbeit untersuchten Autoren bilden die Schriften Rousseaus die entscheidende Vorlage: Joachim Heinrich Campe verstand sein Werk als eine praktische Umsetzung des Rousseauschen Erziehungsmodells für das deutsche Gesellschaftssystem und nahm den Erziehungsroman „Emil“ in der von im herausgegebenen „Allgemeinen Revision des gesamten Schulund Erziehungswesens“ (1785- 1792) an zentraler Stelle auf. Auch Adolph Freiherr von Knigge stellte sich mit seinem Ratgeber „Über den Umgang mit Menschen“ in diese Tradition und übersetzte darüber hinaus die autobiographischen „Bekenntnisse“ (1764-1770) Rousseaus ins Deutsche. Bei Amalia Holst wird der Bezug auf die Schriften des französischen Vorbilds am deutlichsten. Zunächst als Anhängerin, später als Kritikerin wird sie Rousseau immer an seinen Texten messen und selbst in der Abwendung seinem Denken treu bleiben.

Interessanterweise verlief jedoch nicht nur der deutsche Geschlechterdiskurs der Spätaufklärung entlang der Rousseauschen Vorarbeiten, auch die für uns relevante Herausbildung der Frauenund Geschlechtergeschichte in den 1970er und 80er Jahren entwickelte sich in der Auseinandersetzung um die sogenannte Repressionsthese. Einige feministische Historikerinnen wie Silvia Bovenschen und Heidemarie Bennent stellten die These auf, dass die von Rousseau betriebene Neubeschreibung der Frau letztlich in ihrer Abwertung endete.10 Die männlichen Autoren hätten der Frau zwar die neuen geheiligten Aufgaben des Kinderkriegens, der Haushaltsführung und Kindererziehung zugesprochen, der Handlungsraum der Frau sei dadurch jedoch entscheidend eingeengt worden. In den 1980er und 90er Jahren wurde diese These in Arbeiten von Liselotte Steinbrügge, Christine Garbe und Pia Schmid kritisiert, die die spätere Einschränkung des weiblichen Handlungsraums auf die selektive Rousseaurezeption zurückführten. Bei Rousseau selbst sei das Geschlechterverhältnis ungleich komplexer gewesen. In seinem Modell gebe es tatsächlich eine weibliche Macht, die sich der männlichen Macht entziehe und sie indirekt kontrolliere. Darüber hinaus sei die neue Rolle der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter von den meisten Frauen, selbst von Kritikerinnen wie Amalia Holst, begeistert angenommen worden, da sie ihnen eine klare Identität, eine moralisch gefestigte Position, wichtige Rechte und Pflichten und den Zugang zu einer Grundund Hausbildung gewährte.11

Die Arbeiten von Steinbrügge, Garbe und Schmid zur indirekten Macht, die Rousseau in seinem Geschlechtermodell der Frau zuspricht, beruhen auf den Arbeiten von Michel Foucault zur „regulierenden Kontrolle“ bzw. zur „Disziplinargewalt“.12 Foucault versteht unter Macht die „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt.“13 Macht ist demnach keine Kontrolle von oben, über die jemand kraft eines Amtes oder einer bestimmten Fähigkeit dauerhaft verfügt, sondern Macht ist dort, wo es Widerstand gibt, ein sozial hergestellter Prozess. Ihre höchste Wirksamkeit entfaltet sie erst, wenn sie sich unsichtbar macht, d.h. wenn der Überlegene sie auf denjenigen, der Widerstand leistet, überträgt und gleichsam hinter ihr verschwindet:

Die traditionelle Macht ist diejenige, die sich sehen lässt und die die Quelle ihrer Kraft gerade in der Bewegung ihrer Äußerung findet. Jene aber, an denen sich die Macht entfaltet, bleiben im Dunkeln. Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt.14

So bestand etwa eine der Neuerungen der philanthropischen Erziehung darin, dem Zögling nicht weiter durch Drohungen und Strafen das Erziehungsziel aufzuzwingen, sondern die Verantwortung nach und nach an ihn zu übergeben, damit er von sich aus das tat, was der Erzieher von ihm verlangte. Im Idealfall konnte der Erzieher sich vollständig zurückziehen und auf die Selbstkontrolle des Zöglings durch die ihm subtil eingepflanzte Instanz des Gewissens vertrauen. Dieser Kampf um den unsichtbaren Ort, an dem man über das höchste Maß der Disziplinargewalt verfügt, wurde von Steinbrügge, Garbe und Schmid nun sowohl für das Rousseausche Erziehungsmodell als auch für das von ihm beschriebene Geschlechterverhältnis festgestellt. Auch wenn dieser Kampf der Geschlechter im Werk von Rousseau sicherlich die höchste Komplexität erfährt, lässt er sich auf die Rezeption seiner Schriften durch Campe, Knigge und Holst übertragen. In gewisser Weise reiht sich auch diese Arbeit in die Diskussion um die Repressionsthese der 1980er und 90er Jahre ein.

Zusammengenommen bieten sich bei der Untersuchung der drei Autoren die folgenden Fragestellungen an, die am Eingang der einzelnen Kapitel noch einmal präzisiert werden: Welche Entwürfe von Geschlechtlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit finden sich in den ausgewählten Texten? Wie stark bleiben die Geschlechter an ihr Geschlecht gebunden, inwieweit können sie sich von ihm befreien? Welche Vorund Nachteile bieten die Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit den Geschlechtern? Wie klar wird die geforderte Geschlechtertrennung in den verschiedenen Texten verwirklicht? Wie stark sind die Entwürfe der Tradition der alten Freiheit verhaftet, inwieweit haben sich die Autoren bereits auf die Suche nach der neuen Sicherheit begeben?

Zwar sollen dabei die Entwürfe von Männlichkeit im Vordergrund stehen, doch werden sie einer methodischen Forderung von Ute Frevert folgend, die sich als eine der ersten auf die „Suche nach dem ersten Geschlecht begab“, immer in ihrer Bezogenheit auf die Entwürfe von Weiblichkeit beschrieben.15 Die zweite methodische Forderung in Freverts wichtigem Aufsatz verlangt bei jeder geschlechtergeschichtlichen Untersuchung eine klare sozialgeschichtliche Einordnung des zu untersuchenden Quellenmaterials. Deshalb habe ich den jeweiligen Kapiteln eine themenbezogene biographische Analyse vorangestellt. Bei Campe und Knigge soll diese Einordnung im biographischen Vergleich erfolgen (Kapitel 4).

Die Arbeit versteht sich als ein historisch soziologischer Beitrag zur Geschlechterund Männergeschichte. Im anglo-amerikanischen Raum seit über 20 Jahren als sogenannte „Men’s studies“ etabliert, ist das Geschlecht des Mannes als historische Kategorie in Deutschland erst in den letzten Jahren ins Blickfeld der historischen Forschung geraten.16 Nachdem die Geschlechtergeschichte, die sich im Zuge der Frauenbewegung und Frauengeschichte der 1970er Jahre herausbildete, lange Zeit im Schatten der politischen Geschichte und der etablierten Sozialgeschichte stand, erfreut sie sich gerade in den letzten Jahren einer größeren Beliebtheit. Noch immer sind wesentliche Forschungsergebnisse nicht in die „allgemeine“ Sozialgeschichte integriert worden bzw. haben noch nicht zu deren geforderter Neuschreibung geführt, doch konnte die Bedeutung, die dem geschlechtlichen Denken in historischen Prozessen zukommt, in den neueren Forschungen immer klarer herausgearbeitet werden. Auch in dieser Arbeit wird der lange Zeit unterschätzte Einfluss der Geschlechtlichkeit auf das Denken und Handeln des scheinbar unproblematischen ersten Geschlechts deutlich sichtbar werden.

1. D IE D ISKURSLANDSCHAFT DER S PÄTAUFKLÄRUNG

In einer Flugsschrift aus dem Jahre 1793 wendet sich der Pädagoge, Schriftsteller und Verleger Joachim Heinrich Campe von Braunschweig aus an seine Mitbürger.17 Als selbstbewusster Bürger verurteilt er darin die revolutionären Entwicklungen in Frankreich und versucht so, der Anschuldigung, als Jakobiner das Ende der Bourbonenherrschaft zu begrüßen, entschieden entgegenzutreten. Seit der Veröffentlichung seiner

„Briefe aus Paris“, in denen er begeistert über das neue Nationalgefühl der Franzosen im Juli 1789 berichtet, galt Campe als einer der führenden Anhänger der Französischen Revolution in Deutschland.18 1792 war er gemeinsam mit Klopstock, Schiller, Pestalozzi u.a. zum Ehrenbürger der Französischen Nation ernannt worden.

Auch wenn an der Politisierung der 1790er Jahre in Deutschland vor allem die führenden Köpfe des Besitzund Bildungsbürgertum partizipierten, richtet sich Campe mit seiner Anrede „An meine Mitbürger“ auch an den Bürger als Menschen in seiner anthropologischen Dimension. Die Flugschrift hat somit einen realen sozialen und einen programmatisch universellen Adressatenkreis. Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben zwar große Teile der Bevölkerung von der aktiven Teilhabe an der Politik ausgeschlossen. Einen führenden Aufklärer wie Joachim Heinrich Campe hinderte das jedoch nicht daran, sich als Interessensvertreter aller Menschen zu verstehen.

Die Doppelbedeutung des Begriffes Bürger als Angehöriger einer sozialen Gruppe und als politisch mündiges Mitglied eines Gemeinwesens ist uns heute selbstverständlich geworden.19 Wenn uns auch der ökonomisch selbstständige Bürger bereits in den Handelsmetropolen des Spätmittelalters begegnet, begreifen wir den politisch mündigen Bürger jenseits aller sozialen Schranken als eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. In einer Flut von philosophischen, politischen und literarischen

Veröffentlichungen, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts stetig anschwillt und sich seit der Mitte des Jahrhunderts nach und nach professionalisierte, bemühte das Bürgertum sich um seine Neukonstruktion. Seit den 1760er Jahren weitete sich auch das Lesepublikum immer schneller aus und organisierte sich in den bekannten Lesezirkeln, Salons, Akademien und Debatierclubs, die die bislang wenig untersuchten und von der Forschung lange unterschätzten privaten Lesezirkel ergänzten und eine breitere

Rezeption der neuesten Veröffentlichungen ermöglichten. Das Bürgertum entdeckte seine Begeisterung sowohl für philosophische und pädagogische Schriften, in denen sich der Bürger auf die Suche nach seiner verloren gegangenen Natur begibt, als auch für literarische Texte.20 So stieg etwa die Produktion von Romanen in der Zeit zwischen 1770 bis 1780 um das Doppelte an.21 Obwohl die Idee von einem Lesepublikum jenseits der Standesgrenzen weiterhin Utopie blieb, konnte der sich ständig erweiternde Buchmarkt gerade mit „leichterer“ Lektüre neue Lesergruppen erschließen.22

Spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts verlor der christlich ständische Gesellschaftsentwurf im bürgerlichen Aufklärungsdiskurs immer weiter an Bindekraft.23 Der anthropologische Neuentwurf des Menschen versuchte den Einzelnen nicht weiter über seine ihm zugewiesene Stellung im Sozialgefüge zu definieren, sondern ihn, ausgehend von seiner natürlichen Bestimmung zur „Perfektibilität“, aus der strengen Gesellschaftshierarchie der absolutistischen Gesellschaft herauszulösen.24 Der Mensch sollte nicht weiter als Angehöriger eines Standes, sondern als freies vernunftbegabtes Individuum das Licht der Welt erblicken. Auch wenn die sozialen Bindungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch immer nicht ihre Bedeutung verloren: Den Idealen der Aufklärer gemäß soll der Mensch nicht länger nach seiner Herkunft, sondern nach seiner Leistung beurteilt werden. Auch im Interesse von Wirtschaft und Gesellschaft wurde der Entwicklung des Einzelnen höchste Priorität zugesprochen. Noch war der Glaube an die „Erziehung des Menschengeschlechts“ ungebrochen.

Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch der Rückgriff auf die Natur des Menschen und seine ihm angeborene Vernunft in der Tradition christlich monistischer Erklärungsmuster steht. In gewisser Weise wird das Letztbegründungs-Schema Gott durch den Rückgriff auf die menschliche Natur abgelöst. Zudem resultiert die in der späteren Rezeption gängige Gegenüberstellung von christlichem und aufklärerischem Denken aus der primären Beschäftigung der historischen Forschung mit dem französischen Vorbild. Während sich jedoch Voltaire und die Enzyklopädisten explizit von der Kirche und der christlichen Religion abwandten, gelingt gerade den vorwiegend protestantisch geprägten, deutschen Aufklärern der Spagat zwischen christlichem und aufklärerischen Denken. Die Kontinuität christlichen Denkens in der deutschen Aufklärung und darüber hinaus wurde in der historischen Forschung lange unterschätzt. Gerade in den Schriften von Campe wird diese Integrationsleistung, wie wir noch sehen werden, beispielhaft vorgeführt.

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, war die Begeisterung für die freie und gleiche Natur des Menschen zwar gegen Ende des Jahrhunderts von einem spürbaren Bedürfnis nach einem klarer umrissenen Menschenbild verdrängt worden, doch erwies sich gerade die Zeit vor 1800 als diskursiv äußerst produktiv.25 Einerseits begann das bürgerliche Projekt, d.h. die Abgrenzung des Bürgertums von den anderen Ständen, immer klarer an Kontur zu gewinnen, doch hatte die bürgerliche Gesellschaft noch nicht die Geschlossenheit des 19. Jahrhunderts erreicht.26 Die Jahrzehnte zwischen 1770 und 1830 waren noch immer eine „Phase des Experimentierens“ (Wolfgang Kaschuba), in der offen verschiedene Meinungen vertreten und unterschiedliche Lebensentwürfe miteinander verglichen wurden. Gerade die französischen Vorbilder, wie etwa Rousseau, wurden von der deutschen Aufklärung zum Teil begeistert zum Teil auch kritisch gelesen und in zahlreichen öffentlichen und privaten Rezensionen lebhaft diskutiert. Der hier genauer untersuchte Geschlechterdiskurs zieht sich nur als ein Faden durch das dichte Netz von Diskursen, das die Zeit um 1800 für die Geschichtsforschung so interessant macht.

2. SUBTILE MACHTKÄMPFE : JEAN JACQUES ROUSSEAU : EMIL ODER ÜBER DIE ERZIEHUNG (1762)

So wie der Abenteuerroman „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe „für lange Zeit die ganze Bibliothek von Emil“ ausmachen sollte, war der Erziehungsroman „Emil“ (1762) von Jean Jacques Rousseau, das Buch, von dem der Erziehungsdiskurs des 18. Jahrhunderts sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ausgehen und zu dem er immer wieder zurückkehren sollte.27 Bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen lag Rousseaus Roman in einer deutschen Übersetzung vor, die auch das Herzstück der 16- bändigen „Allgemeinen Revision des gesamten Schulund Erziehungswesens“ (1785- 1792) von Joachim Heinrich Campe bildet.28 Gerade der Hass Rousseaus auf alle Bücher, die nur „lehren, von dem zu reden, was man nicht weiß,“ ließ ihn ein Buch schreiben, das auch in Deutschland eine in unzähligen Schriften sich ständig fortentwickelnde Diskussion über die neue Bedeutung der Erziehung auslösen sollte. Statt von der „kopernikanischen Wende“ (Hermann Nohl) in der Erziehungsliteratur zu sprechen, könnte man Rousseaus pädagogischen Entwurf auch als das Buch beschreiben, das das Interesse an Kindheit und Erziehung überhaupt erst zu wecken vermochte.29 Sein Einfluss auf die pädagogische Literatur des 18. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden.30

Fragt man nach den revolutionären Neuerungen seines Erziehungsromans, könnte man ihm sowohl die „Wiederentdeckung“ des menschlichen Körpers, die Erfindung der Kindheit als auch die theoretische Fundierung des bürgerlichen Geschlechtermodells zuschreiben. Sicherlich wäre es zu einfach, diese für das bürgerliche Zeitalter so zentralen Ideen auf Rousseau allein zurückzuführen, doch nimmt er gerade in der für uns maßgeblichen deutschen Rezeption dieser Ideen eine ganz zentrale Position ein. Die von mir untersuchten bürgerlichen Geschlechtermodelle wären ohne die Rousseausche Vorarbeit undenkbar.

Wie bei allen Werken von vergleichbarer geistesgeschichtlicher Bedeutung ist auch die Forschungsliteratur zu Rousseaus pädagogischen Schriften bedenklich angeschwollen.31 An dieser Stelle sollen nur einige für das spätere Verständnis grundlegende Neuerungen des Rousseauschen Denkens näher vorgestellt werden.

2.1 Die „Wiederentdeckung“ des menschlichen Körpers

Sowohl in den christlichen Geschlechtermodellen, die gemäß der biblischen Tradition den Geschlechtern klare Rollen in der Nachfolge von Adam und Eva zuwiesen als auch in den cartesianisch egalitären Modellen eines Poulain de la Barre, die auf der Basis des Leib-Seele-Dualismus Descartes’, von einer geschlechtlichen Gleichheit der Seele ausgingen, behielt die Theorie von der grundsätzlichen Trennung von Körper und Geist bis ins 18. Jahrhundert ihre Gültigkeit.32 Der Frau wurde entweder als Verführerin der Makel der Erbschuld angelastet, oder sie wurde, der Idee der Seelengleichheit aller Menschen entsprechend, „geistig emanzipiert“. Der Körper als der Ursprung der Ungleichheit der Geschlechter blieb sowohl im christlichen als auch im cartesianischen Denken von der Seele getrennt. Bis ins 18. Jahrhundert standen die Geschlechtermodelle entweder in religiöser oder in philosophischer Tradition. Der Körper, der im Laufe des Jahrhunderts immer präziser definiert werden sollte, wurde erst in den Argumentationsmustern der Aufklärer wieder entdeckt.33

Zwar wissen wir durch neuere Studien der Geschichte der Körperwahrnehmung, dass der moderne, uns heute als a-historisch erscheinende Körper, erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Fortentwicklung der Anatomie produziert worden ist, doch beginnt die neue Bedeutung von Körper und Körperkraft bereits in dem pädagogisch-philosophischen Diskurs, der durch Rousseaus Erziehungsschriften mitinitiiert worden ist.34 In Deutschland fand diese neue Körperlichkeit etwa Ausdruck in den philanthropischen Erziehungsanstalten der 1770er und 1780er Jahre und in der Turnerbewegung und dem gesteigerten Interesse an Körper und Sport im frühen 19. Jahrhundert.

Der veränderte Blick auf den eigenen Körper ist bei Rousseau auch Folge einer neuen Selbstwahrnehmung als Schriftsteller, Erzieher und Liebhaber. Von den Reaktionen auf sein schriftstellerisches Werk enttäuscht, hatte sich Rousseau in die Einsamkeit des einfachen Landlebens zurückgezogen. Viele seiner Erziehungsmethoden resultieren aus der Beobachtung des Landvolkes, das er gegenüber dem schwächlichen Bürgertum und der adligen Hofgesellschaft klar favorisierte. Sowohl Erziehungsmethoden, wie harte körperliche Arbeit, als auch Erziehungsziele, wie das Selbststillen des Kindes, wurden im bäuerlichen Leben seit Jahrhunderten praktiziert. Auch die später noch einflussreiche Utopie eines zwar einfacheren, jedoch authentischeren Landlebens ist im Zuge der Rousseaurezeption immer wieder aufgegriffen worden. So zogen sich auch Joachim Heinrich Campe und Adolph Freiherr von Knigge wiederholt aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und gaben sich über Monate der erholsamen Gartenarbeit hin (s. Kapitel 4).

Die aus seiner unmittelbaren Umgebung abgeleitete Idee von einem einstmals natürlichen menschlichen Körper, der durch die zahllosen Verhaltensnormen der absolutistischen Gesellschaft vollständig pervertiert worden sei, steht am Anfang von Rousseaus Ideen über Natürlichkeit, Entwicklung und Versöhnung von Natur und Kultur im bürgerlichen Staat.35 Interessanterweise stellt jedoch der bürgerliche gegenüber dem bäuerlichen Körper eine entscheidende Neuerung dar. Der Bürger erhält zum ersten Mal einen abgeschlossenen Körper, der nur ihm allein gehört und sich nach individuellen Gesetzmäßigkeiten entwickelt.36 Der von Rousseau beschriebene Körper ist gerade kein wiederentdeckter, sondern ein neu erfundener Körper, ein absolutes

Novum, das erst durch die Entwicklungen der vergleichenden Anatomie und der individuellen Patophysiologie seine uns natürlich erscheinende A-Historizität erhält. Rousseau richtet nicht, wie von ihm behauptet, den Blich zurück: Er schaut voraus.37

2.2 Die natürliche Erziehung und das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling

Der Erziehungsroman „Emil“ beginnt nicht etwa mit der Geburt des Zöglings und den ersten erzieherischen Maßnahmen, sondern mit einigen „Grundgedanken“ zur Natur des Menschen und den sich daraus ergebenden „Arten der Erziehung“. Die Idee eines verloren gegangenen goldenen Zeitalters ist dem christlichen Denken nicht fremd, doch wird sie bei Rousseau nicht auf die Versöhnung des Menschen mit Gott, sondern auf das Versöhnt-Sein des Menschen in der Natur vor dem Eintritt in die entfremdende Kultur bezogen. Der Mensch ist Rousseau zufolge, wie alles Natürliche, von Natur aus gut. Unter den Händen des Menschen wird er jedoch „wie ein Schulpferd“ dressiert und dadurch zu einem kraftlosen, entarteten Wesen erzogen. Die revolutionäre Idee von Rousseau besteht nun darin, die menschliche Natur möglichst lange sich frei entwickeln zu lassen, um sie so vor den Pervertierungen der Gesellschaft zu bewahren. Von Natur aus als einheitliches Wesen geboren, soll der Mensch durch den Blick nach innen auf seine eigene Natur und durch den Blick nach außen auf die ihn umgebene Natur seine„absolute Existenz“ bewahren.

Das Ziel, dem Zögling keine Tugenden anzuerziehen, sondern seine natürlichen Tugenden lediglich zu bewahren, kann Rousseau zufolge nur durch die Erziehung durch die drei natürlichen Lehrer erreicht werden. Der Mensch wird von seiner inneren Natur geschult, lernt aus der Welt, die ihn umgibt und wird durch einen Erzieher davor bewahrt, dass die Gesellschaft zu früh in diese natürliche Entwicklung eingreift. Die Aufgabe des Erziehers besteht somit nicht darin, dem Zögling ein Vorbild zu sein und seine Lebenserfahrung an ihn weiterzugeben. Seine Aufgabe ist eher negativer Art: Wie auf einer Insel soll der Zögling in der Natur durch die Natur geschult werden, um so zu seiner, durch die Kultur verschütteten Natur zurückzufinden.38

Sobald der Zögling im Alter von vier Jahren die erste elementarste Entwicklung abgeschlossen hat, soll er gänzlich in die Obhut eines Erziehers gegeben werden, der ihm für einige Jahre sowohl Vater und Mutter als auch Geschwister und Spielkameraden ersetzen wird. Seine Rolle ist dabei weniger die eines fürsorglichen Vaters, als vielmehr die eines älteren Freundes oder Gefährten, zu dem sich eine durchaus spannungsreiche Beziehung entwickeln kann. Diese Beziehung, in der bereits grundlegende Ideen zur Machtverteilung zwischen den Geschlechtern vorgezeichnet sind, wird uns noch weiter beschäftigen.

2.3 Die Ordnung der Geschlechter

Neben der größeren Bedeutung, die Rousseau dem menschlichen Körper zusprach, und der Begeisterung für Kindheit und Jugend, die durch den Roman ausgelöst wurde, hatte das hier beschriebene Verhältnis der Geschlechter entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung des bürgerlichen Geschlechtermodells in den nächsten 100 Jahren. Steht am Anfang des Romans noch die „gemeinsame Berufung, Mensch zu sein“ im Vordergrund, wird der Schritt von der universellen zur differenzierten menschlichen Natur bald zum zentralen, wenn auch meist impliziten Distinktionsmuster des Rousseauschen Entwicklungsmodells.

Die Zuweisung der Geschlechterrollen vollzieht sich dabei auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der Kinder wird die Trennung in Jungen und Mädchen und die daraus resultierende unterschiedliche Erziehung erst im fünften Buch ausdrücklich zum Thema gemacht, nachdem Emil das Alter der Geschlechtsreife erreicht hat, und der Erzieher ihm das zu ihm passende weibliche Wesen Sophie zur Seite stellt. Erst bei der Vorbereitung dieses Schöpfungsaktes entwickelt Rousseau in einem den Grundgedanken über die menschliche Natur und die Arten der Erziehung vergleichbaren theoretischen Vorspann das in der Folge so einflussreiche Modell der Geschlechter. Emil, zunächst als Mensch entworfen, wird sich erst durch die Entdeckung des Geschlechtstriebes seines Geschlechts bewusst. Die Trennung der Geschlechter funktioniert somit einerseits rückwirkend. Erst durch die Erfindung der Frau wird der Mann auch von Geburt an zum Mann.

Auf der anderen Seite liegt dem Text auf der Ebene der Erwachsenen die Ordnung der Geschlechter von Beginn an zugrunde, da sie nicht nur durch die Rückprojektion des Geschlechtermodells, sondern auch über die Erzählposition des Erziehers und die dadurch unterschiedlich gesteuerte Rezeption durch den Leser hergestellt wird. Nimmt man diese beiden Ebenen zusammen, beginnt die Trennung der Geschlechter mit der unterschiedlichen Erziehung von Emil und Sophie und endet mit den ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen nach Erreichen der Pubertät. Im Folgenden werde ich mich deshalb bei der Darstellung des Geschlechtermodells nicht an die Chronologie des Buches halten, sondern eine systematische Darstellung wählen.

2.3.1 Die Erziehung von Emil und Sophie

Ganz dem oben erwähnten „Modell der Zweiten Geburt“ in der Pubertät entsprechend, ist die Trennung nach den Geschlechtern vor der Geschlechtsreife weniger scharf ausgeprägt. Rousseau zufolge gibt es eine Reihe von Erziehungszielen und Erziehungssituationen, die für beide Geschlechter gleich sind. Dennoch bleibt die Erziehung Sophies letztlich auf ihre Bestimmung bezogen, Emil eine gute Geliebte und ihren Kindern eine gute Mutter zu sein.

Die Frauen brauchen nicht so stark zu sein wie sie [die Männer], sie müssen für sie stark sein, damit die Männer, die sie gebären, es auch sind.39

Ihr natürliches Streben nach Schönheit diene dazu, Emil zu gefallen, um so Macht über ihn zu gewinnen; die weibliche Bildung wiederum verbessere einerseits die Erziehung ihrer Kinder, helfe ihr andererseits, ihre natürliche Schwäche zu kompensieren. Dabei soll die Bildung der Frau klar auf ihre Funktionen als Geliebte und Mutter begrenzt bleiben und nicht ihrer Selbstverwirklichung dienen: „Sie müssen viel lernen, aber nur das, was sich schickt.“40 So bilden Nützlichkeit und die Orientierung an der öffentlichen Meinung im Denken Rousseaus den Rahmen für die weibliche Erziehung.

2.3.2 Das voll entwickelte Geschlechtermodell

Das für unsere Untersuchung grundlegende Geschlechtermodell begegnet uns, wie bereits erwähnt, einerseits auf der Erzählebene, andererseits in dem theoretischen Vorspann zu dem fünften Buch „Sophie oder die Frau.“ Einmal erschließt es sich nur implizit als dem eigentlichen Erziehungsmodell unterlegter Subtext, im anderen Fall beschreibt Rousseau den Menschen explizit als männlich-weibliches Doppelwesen. Das Konzept bleibt allerdings auf beiden Ebenen das Gleiche.

Die Zuschreibung der Geschlechterrollen funktioniert dabei von zwei Seiten. Auf der einen Seite scheint die männliche Geschlechtsreife und die daraus folgende Erschaffung Sophies der zentrale Ausgangspunkt zu sein. In der Forschungsliteratur wurden meist die unterschiedlichen Rollen der Geschlechter beim Sexualakt als der Ursprung des Geschlechtermodells angesehen.41 Der Mann sei augrund seiner größeren Körperkraft von Natur aus der aktivere Sexualpartner. Der Frau falle als dem schwächeren Partner eine eher passive Rolle zu. Da der Mann in der entwickelten Gesellschaft jedoch nicht weiter die Möglichkeit habe, sich die Frau durch Vergewaltigung gefügig zu machen, bleibe er von der Gunst der Frau abhängig, die wiederum um die Gunst des Mannes werben müsse, um von ihm ernährt zu werden. Der Kampf der Geschlechter ist somit bereits in dem Geschlechtstrieb angelegt.

Auf der anderen Seite jedoch steht die Frau als Mutter am Ausgangspunkt des differenzierenden Denkens. „Würden die Frauen wieder zu Müttern, werden die Männer wieder zu Vätern und Ehegatten.“42 Rousseaus Geschlechtermodell wurzelt somit nicht nur in den von Natur aus unterschiedlichen Rollen der Geschlechter beim Geschlechtsakt, sondern in einer der neuen Innerlichkeit entsprechenden Aufwertung der Frau als Mutter. Mit dieser Forderung steht Rousseau ganz in der Tradition physiokratischer Gesellschaftsmodelle, die den Kinderreichtum als wesentliche Voraussetzung für den Reichtum der Gesellschaft begriffen. Nur eine natürliche Entwicklung könne das Überleben des Kindes garantieren. Dass die dafür notwendigen Voraussetzungen, d.h. die neue Intimität zwischen Mutter und Kind, die Kotrolle der Geburten, die verbesserte Hygiene und das Selbststillen, nur durch die Fremdkontrolle durch die Sittenpolizei einerseits und durch die Selbstkontrolle der Mutter andererseits erreicht werden konnte, bleibt einer der Hauptwidersprüche dieses Erziehungskonzeptes.

Den Müttern wird von Beginn an als Teil des Lesepublikums eine verehrungswürdige Sonderrolle zugewiesen. Während der Autor den männlichen Leser entweder gar nicht oder durch ein vertrautes „Ihr“ oder „Wir“ anredet, d.h. mit ihm von Gleich zu Gleich spricht, wird die Hinwendung an die Mutter meist besonders hervorgehoben:

„Ich wende mich an dich, liebe und weise Mutter.“ Bei der Erziehung Emils bleibt die Rolle der Mutter hingegen erstaunlich begrenzt. Sobald er die ersten Worte sprechen könne, solle der Haupteinfluss der Mutter ein Ende finden. Allenfalls durch Singen und Wiegen könne sie den Zögling auf den Spracherwerb vorbereiten. Die eigentliche Spracherziehung hingegen müsse dem Erzieher vorbehalten bleiben, der von jetzt an dem Zögling Vater und Mutter ersetzen wird. Diese beiden Forderungen werden in den späteren Erziehungsmodellen nicht konsequent aufgegriffen. Während die Rolle der Mutter bei der frühen Erziehung kontinuierlich ausgeweitet wird, heben die späteren, praxisnäheren Erziehungsmodelle die scharfe Trennung zwischen Vater und Erzieher weitgehend auf, so dass etwa bei Campe, Vater und Mutter, wenn auch nach Funktionen scharf getrennt, gemeinsam die Erziehung der Kinder übernehmen.

Nicht nur der Frau, sondern auch dem Mann wird in Rousseaus Theorie ein klarer Funktionsraum zugewiesen. Der Mann als Vater stehe in einer dreifachen Schuld „Dem Geschlecht schuldet er Kinder, der Gesellschaft gemeinschaftsfähige Menschen und dem Staat Bürger.“43 Interessanterweise wird diese dreifache Vaterrolle als Erzeuger, öffentlicher Mann und politisch aktiver Bürger im Fortlauf der Ausführungen nicht weiter aufgegriffen. Der Mann tritt dem Leser nun primär als Erzieher gegenüber, und zwar gerade nicht als der Vater des Zöglings, sondern als allenfalls väterlicher Freund.

Die Rolle des Mannes bleibt somit merkwürdig zerrissen. Einerseits soll er sich aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen, andererseits sich geradezu hingebungsvoll der Erziehung eines einzelnen Zöglings widmen. Der Mann schwankt in Rousseaus Geschlechtermodell somit zwischen Vater und Freund, zwischen Kultur und Natur, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Dadurch dass er dem Zögling Vater und Mutter ersetzt, verlangt Rousseau dem Mann sogar mütterliche Qualitäten ab. Ideal scheint ihm dafür der noch junge, jedoch bereits weise Mann mit der „Vernunft eines Weisen“ und der „Stärke eines Athleten“ zu sein.44 Auch hier zeigt sich das bei Rousseau grundsätzliche Dilemma zwischen dem Naturund dem Kulturzustand. So vereinfacht wie etwa bei Campe, der Natur und Kultur, Vater und Freund harmonisch auszugleichen sucht, ist diese Spannung bei Rousseau noch nicht.

Während die Geschlechterrollen bei dem Umgang mit dem Zögling, d.h. bei dem Akt des Zeugens, des Gebärens und des Erziehens, klar voneinander getrennt bleiben, erreichen sie bei der Beschreibung des elterlichen Verhältnisses die ganze Komplexität des Rousseauschen Denkens. Wer hat die Macht? Wer hat sie wirklich? Wer glaubt sie zu haben? Der Kampf der Geschlechter ist, wie schon erwähnt, bereits in Rousseaus

Erziehermodell angelegt. Bei dem Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling ist dies vielleicht noch einfacher zu beschreiben.

Der Zögling herrscht, doch der Erzieher kontrolliert seine Natur. Der Zögling zeigt an, wie er sich entwickeln will, doch der Erzieher lenkt ihn letztlich in die richtige Richtung. Daraus entsteht das Dilemma, dass einerseits die Natur des Zöglings Ausgangsund Endpunkt der Erziehung sein soll, diese andererseits jedoch von dem Erzieher deutend geleitet werden muss. Die Natur kann ohne die Struktur der Kultur nicht sein, der Charakter des Zöglings wird immer an die Weisungen des Erziehers gebunden bleiben. In dem negativen Erziehungsmodell nimmt der Erzieher sich zwar scheinbar zurück, wodurch der Zögling sich der Illusion der Freiheit hingibt, doch wird diese Freiheit immer Illusion bleiben. Während der Zögling dem Schein der Herrschaft erliegt, zieht der Erzieher im Unsichtbaren die Fäden:

Mag er [Emil] doch glauben, er sei der Herr, während in Wirklichkeit ihr es seid. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt: So nimmt man den Willen selbst gefangen. Ist euch das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und nichts kennt, nicht völlig ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles, was es umgibt? Könnt ihr es nicht beeinflussen, wie ihr wollt?45

Rousseau war sich dieser Problematik durchaus bewusst. Er verstand dieses Dilemma jedoch dahingehend als Vorteil, dass der Zögling gerade an den unsichtbaren Wänden dieses scheinbaren Reiches seine Kraft erproben könne. Erst durch den subtilen Machtkampf mit dem Erzieher entwickelt Emil seine volle männliche Stärke.

Dieses komplizierte Ringen um scheinbare und unscheinbare Macht lässt sich nun auf das Verhältnis der Geschlechter anwenden. Zunächst scheint der Mann als Erzeuger, Ernährer und Erzieher der gebärenden, passiven Frau gegenüberzustehen. Der Mann nimmt sich zurück, beansprucht unauffällig das Menschsein für sich und wertet die Frau durch die Aufwertung als Mutter letztlich ab, weist ihr eine klare Rolle zu und hält sie so in einem Zustand der Machtlosigkeit gefangen. An diesem Punkt setzten, wie bereits erwähnt, die Antworten von Liselotte Steinbrügge, Christine Garbe und Pia Schmid an. Die Frau könne den männlichen Geschlechtstrieb dadurch instrumentalisieren, dass sie den Mann durch den Entzug der Sexualität auf seine geschlechtliche Abhängigkeit verweise: „Die Herrschaft steht der Frau nicht zu, weil die Männer es gewollt haben, sondern weil die Natur es so will.“46 Durch diese von Rousseau gefürchtete „weibliche

List“ könne die Frau „im männlichen Text“ an der Macht partizipieren, wenn nicht gar die Herrschaft unsichtbar an sich reißen.

Die List der Frau zielt darauf, den anderen eben das sagen zu lassen, was sie selbst sagen möchte, aber nicht darf. Sie versteht es ferner, den anderen dabei im Glauben zu wiegen, er selbst sei das Subjekt seiner Rede, seiner Anordnungen, seiner Befehle, während er doch in Wirklichkeit nur das ausspricht, was sie ihm gewissermaßen in den Mund gelegt hat.47

Bei dem Machtvergleich der beiden Modelle die Frau jedoch mit dem Erzieher und den Mann mit dem Zögling gleichzusetzen, verkennt die bereits angedeutete Komplexität des Geschlechterverhältnisses. Während Erzieher und Zögling als eine Einheit immer aufeinander bezogen bleiben, sind den Geschlechtern unterschiedliche Sphären zugewiesen; sie können sich trennen und sind nur zeitweilig aufeinander angewiesen. Entgegen dem unmündigen Zögling verfügt der Mann natürlich neben der direkten Macht, die keinesfalls immer scheinbar, sondern durchaus effektiv sein kann, auch über die unsichtbare Macht, die er etwa mit der oben beschriebenen Taktik „Abwertung durch Aufwertung“ strategisch höchst wirksam einsetzen kann.

Der Mann ist in Rousseaus Geschlechtermodell somit keineswegs an seinen blinden Geschlechtstrieb ausgeliefert; dieser diente der Frau lediglich dazu, die Macht des Mannes zu kontrollieren. Der Geschlechtstrieb fungiert in seinem Modell somit als eine Art „egalitäres Prinzip.“ Erst wenn die Frauen ihre weiblichen Fähigkeiten verleugnen würden und sich männliche Fähigkeiten anmaßten, wäre die Herrschaft der Männer total. „Je mehr sie Männern gleichen, um so weniger werden sie sie beherrschen, und dann wären die Männer wirklich die Herren.“48 Da die Frau ihre Natur jedoch nicht aufgeben wird, bleiben die Geschlechter in einem komplizierten Machtkampf gefangen. Christine Garbe zufolge hat Rousseau in diesem Spannungspotential bereits das notwendige Scheitern einer harmonischen Geschlechterbeziehung angelegt gesehen.49 Mann und Frau stehen sich mit zu viel Macht bewaffnet in einem „paradoxen“ Verhältnis gegenüber. Wenn sie beide ihre Waffen einsetzen, muss die Harmonie der Geschlechter zwangsläufig daran zerbrechen.

3. D ER G ESCHLECHTERDISKURS DER S PÄTAUFKLÄRUNG

Bei dem kurzen Überblick über die Diskurslandschaft des 18. Jahrhunderts haben wir festgestellt, dass der Geschlechterdiskurs der Spätaufklärung als Teil eines allgemeinen Differenzierungsprozesses des späten 18. Jahrhunderts beschrieben werden kann. Während das Interesse der Frühaufklärung vor allem der Vernunft des Menschen galt, wird in den Texten über das Verhältnis von Mann und Frau gegen Ende des Jahrhunderts ein spürbares Interesse an präziser definierten Geschlechterrollen sichtbar. Die bürgerliche Gesellschaft hat sich auf die Suche nach dem „sicheren Geschlecht“ begeben.50

Nur schade, dass die Gränzen des Rechts der Herrschaft, welche die eine Hälfte des menschlichen Geschlechts über die andere, die männliche über die weibliche, behauptet, bisher so unbestimmt und schwankend waren, dass Jeder, nach Beschaffenheit der Umstände und nach dem Maße seiner Kraft, sie willkürlich ausdehnen oder zusammenziehen konnte!51

Denn wie selten ist doch jetzt in dieser Sphäre der Mann, der keine weibische und das Weib, das keine männliche Eigenschaft oder Fehler zeigte! Wie selten jener ohne Weiblichkeit, zarte Körperverfassung, kleinliche Denkart, Eitelkeit, Ängstlichkeit, Unbeständigkeit u.s.w. und wie selten diese ohne männliche Prätentionen auf gelehrte Kenntnisse, ohne Begierde sich in die Amtsund Berufsangelegenheiten des Mannes zu mischen, ohne Zertreuungssucht u.s.w. Wahre Mannheit und wahre Weiblichkeit, in jedem würdigen Sinne des Wortes genommen – was für seltene Erscheinungen sind die jetzt.52

Dem hier von Joachim Heinrich Campe formulierten Wunsch nach einer klareren Geschlechterkonzeption, der für seine Zeit als exemplarisch angenommen werden kann, will ich in diesem Kapitel genauer nachgehen.53 Dabei bieten sich folgende Fragestellungen an: Worin liegt die Modernität dieses Geschlechtermodells begründet, an welche Traditionen knüpft es an? Wie lässt sich das gesteigerte Interesse an den Geschlechterrollen bzw. das darin ausgedrückte Bedürfnis nach deren Neudefinition erklären? Von wem wird der Geschlechterdiskurs geführt und an wen richtet er sich? Wo, d.h. an welchem medialen Ort, wird er geführt und wie entwickelt er sich? Welchen Einfluss hatten die theoretischen Entwürfe auf die tatsächliche Begegnung der Geschlechter im alltäglichen Leben?54

Der pädagogische Geschlechterdiskurs ist für unsere Untersuchung nicht nur aufgrund der Quellenauswahl von besonderem Interesse, sondern stellt geradezu ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Geschlechterdiskursen des 18. Jahrhunderts dar. Der Erziehungsgedanke beeinflusste sowohl die frühen Schriften über den anthropologischen Neuentwurf des Menschen als auch die späteren medizinischen Schriften, wie etwa über die Fruchtbarkeit, das Selbststillen, die zu verbessernde Hygiene oder die Gefahren der Selbstbefriedigung. So wie der Geschlechterdiskurs den Humanwissenschaften als wichtiges Schema zugrunde lag – wesentliche Professionalisierungsprozesse im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurden durch die fortschreitende Differenzierung der Geschlechterrollen bedingt – so griff er selbst immer wieder auf die Idee der Erziehung des Menschen zurück.55 Die Wissenschaft vom Menschen basierte auf dem neuen Interesse an der Verschiedenheit von Mann und Frau. Die Verschiedenheit von Mann und Frau wiederum griff auf die Idee der Formbarkeit des Menschen zurück. Entgegen dem geringen Ansehen, das heute den pädagogischen Berufen entgegengebracht wird und das zu dem Alter der Zöglinge in einem proportionalen, d.h. vom Hochschullehrer bis zur Kindergärtnerin absteigenden Verhältnis steht, war der Glaube an die „Erziehung des Menschen“ unter Philosophen, Theologen, Ärzten und Literaten im 18. Jahrhundert noch ungebrochen. Sie alle wenden sich in unzähligen Schriften an den neuen Familienvater und die neue Familienmutter. Gerade darin, in der gegenseitigen Beeinflussung der Diskurse, liegen Komplexität und Dynamik des Geschlechterdiskurses begründet.

[...]


1 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit , Sammlung Luchterhand: Darmstadt und Neuwied 1962; Reinhard Kosellek, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt , 8. Auflage, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1997

2 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben , in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas , Ernst Klett Verlag: Stuttgart 1976, S. 363-394; Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit , Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1986; Reinhard Siedler, Sozialgeschichte der Familie , Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1987

3 Anne-Charlotte Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbstständige Weiblichkeit, Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und1840 , Vandenhoeck und Ruprecht Verlag: Göttingen 1996; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums, Eine Familiengeschichte (1750-1850) , Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen 2000

4 Ferdinand Beneke, Jahresübersicht , 1809, zit. nach: Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit , S. 181. In der Person des Bremer Rechtsanwalts Ferdinand Beneke, dessen interessanter Entwicklung vom keuschen Mann hin zum stolzen Familienvater Anne-Charlotte Trepp in ihrer Untersuchung über Geschlechterund Ehekonzepte im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 genauer nachgegangen ist, wird diese lange unterschätzte Bindung des bürgerlichen Mannes an die private Sphäre besonders deutlich.

5 Brockhaus , in 20 Bd., 4. Bd., S. 226-236 u. 12. Bd., S. 128, Brockhaus Verlag: Leipzig 1832

6 Immanuel Kant, Werke , hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main 1960-1964, Bd. 12, S. 657

7 In meiner Arbeit stütze auch ich mich auf den in der Geschichtswissenschaft mittlerweile gängigen Diskursbegriff von Michel Foucault. s.: Foucault, Archäologie des Wissens , Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1994, S. 74 ff. u. 100 ff.. In dem Kapitel „Was ist ein Diskurs?“ geht Foucault davon aus, dass in spezifischen Diskursen Aussagen zu Axiomen, d.h. zu diskursiv produzierten Wahrheiten, werden, die von den Zeitgenossen augrund ihres historisch gebundenen Denkens nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können. Der Historiker hat nun die Aufgabe, in den Texten Schicht für Schicht andere Lesarten als die diskursiv produzierten Wahrheiten aufzuspüren.

8 Zu den genauen bibliographischen Angaben s.: Einleitungen zu den jeweiligen Kapiteln.

9 Der Philanthropismus geht auf den Gründer Johann Bernard Basedow (1724-1790) zurück und prägte als wichtige pädagogische Bewegung die letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Hauptvertreter waren neben Basedow und Campe Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) und Ernst Christian Trapp (1745-1818). Einem Diktum Campes folgend, sollte die philanthropische Erziehung den Kinder „das Gute liebenswürdig und das Böse hassenswert machen.“ Joachim Heinrich Campe, Über das Zweckmäßige und Unzweckmäßige in den Belohnungen und Strafen , hrsg. v. Albert Reble, Verlag Julius Klinkhart: Bad Heilbronn 1961, S. 13. Die Philanthropen verfassten zahlreiche Schulbücher als neue Unterrichtsgrundlage, betonten die Bedeutung der modernen Fremdsprachen im Gegensatz zu dem veralteten Latein und stellten neben der intellektuellen und moralischen Erziehung die körperliche Betätigung in Spiel und Sport in den Mittelpunkt. Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die meisten der rund 60 Philanthropine in Deutschland aufgelöst und die pädagogische Reformbewegung geriet ins Stocken.

10 Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschicht- lichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen . Frankfurt am Main 1979; Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophie-geschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur , Frankfurt/ New York 1985. Einen Überblick über die Entwicklung der Repressionsthese bietet: Pia Schmid, Rousseau Revisted, Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik , hrsg. v. Dietrich Benner et. al., Nr. 38, 1992, S. 839-843.

11 Liselotte Steinbrügge, Das moralische Geschlecht, Theorie und literarische Entwürfe über die Natur der Frau , Beltz Verlag: Weinheim und Basel 1987; Christine Garbe, Die weibliche List im männlichen Text. J.-J. Rousseau in der feministischen Kritik , Verlag J.B. Metzler: Stuttgart 1992; Pia Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800 , in: Elke Kleinau u. Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, Bd. 1, Vom Mittelalter zur Aufklärung , Campus Verlag: Frankfurt am Main 1996, S. 327-346

12 Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit , Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1977, S. 166

13 Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 113

14 Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses , Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1976, S. 241

15 Ute Frevert, Männergeschichte oder die Suche nach dem ersten Geschlecht , in: Manfred Hettling (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Festschrift für Hans-Ulrich Wehler, C. H. Beck Verlag: München 1991, S. 36. Wie bereits erwähnt, spielte das geschlechtliche Denken in den Diskursen des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Die Bindung an das Geschlecht, sowie die Versuche, sich von diesem zu befreien und es auf das andere Geschlecht zu übertragen, sollen als Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern verstanden werden.

16 Zur anglo-amerikanischen Männergeschichte der 1980er Jahre s.: Michael S. Kimmel (Hg.), New Directions in Research on Men and Masculinity , Sage Publications: London, New Delhi 1987; Harry Brod (Hg.), The Making of Masculinity – The New Men’s Studies , Allan & Unwin: London Sydney, Wellington 1987; Neuere deutsche Veröffentlichungen zur Männergeschichte: Dieter Lenzen, Vaterschaft: Vom Patriarchat zur Alimentation , Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 1991; Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten , Vandenhoeck und Ruprecht Verlag: Göttingen 1998; Walter Erhart und Britta Herrmann (Hg.), Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit , Verlag J. B. Metzler: Stuttgart, Weimar 1997; Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte, Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne , Campus Verlag: Frankfurt am Main, New York 1996; Werkstatt Geschichte 29 (September 2001), Männer , Ergebnisse Verlag: Hamburg.

17 Joachim Heinrich Campe, An meine Mitbürger , abgedruckt in: Louis Kientz, J.H. Campe et la Revolution fran aise avec les Lettres et Documents inedits , Paris 1939, S. 115-122.

18 Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben , Nachdruck der ersten Ausgabe, Schulbuchsammlung: Braunschweig 1790, Gerstenberg Verlag: Hildesheim 1977

19 Manfred Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum , in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe , Bd. 1, Ernst Klett Verlag: Stuttgart 1972, S. 672-725

20 Zudem gewannen neue Literaturformen wie der empfindsame Briefroman oder die ersten Kinderund Jugendbücher immer mehr an Popularität. s.: Hans-Heino Ewers, Joachim Heinrich Campe als Kinderliterat und Jugendschriftsteller , in: Carola Pohlmann und Rüdiger Steinlein (Hg.), Erfahrung schrieb’s und reicht’s der Jugend, Joachim Heinrich Campe als Kinderliterat und Jugendschriftsteller , Ausstellungskatalog Staatsbibliothek zu Berlin 1996, S. 31; Eva Funke, Bücher statt Prügel, Zur philantropistischen Kinderund Jugendliteratur , Aisthesis Verlag, Bielefeld 1988, S. 8.

21 Reinhard Wild, Die Vernunft der Väter , Metzlersche Verlagsbuchhandlung: Stuttgart 1987, S. 10

22 Sybille Kershner, „Aus Furcht zu zerspringen.“ Grenzen der Selbsterkenntnis, Krankheit und Geschlecht in popularphilosophischen Texten von Weikard, Pockels und Moritz , in: Das Achtzehnte Jahrhundert , Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts, Jhrg. 16, H. 2, Hitzeroth Verlag: Wolfenbüttel, S. 120

23 Steinbrügge, Liselotte, Das moralische Geschlecht, Theorie und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung , Beltz Verlag: Weinheim und Basel 1987, S. 11

24 Zum anthropologischen Neuentwurf des Menschen s.: Steinbrügge, Das moralische Geschlecht , S. 11, Heide von Felden, Die Frauen und Rousseau. Die Rousseaurezeption zeitgenössischer Schriftstellerinnen in Deutschland , Campus Verlag: Frankfurt am Main, New York 1997, S. 42 f; Ute Frevert, Frauen- Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit , Neue Historische Bibliothek, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986, S. 31.

25 Pia Schmid, Weib oder Mensch, S. 338

26 Frevert, Frauen-Geschichte , S. 19

27 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung , 11. Auflage, Ferdinand Schönigh Verlag: Paderborn, München, Wien, Zürich 1993

28 Ortrun Niethammer, Autobiografien von Frauen im 18. Jahrhundert , Francke Verlag: Tübingen und Basel 2000, S. 58

29 Herrmann Ulrich, Kindheit und Jugend im Werk Joachim Heinrich Campes , in: N eue Sammlung, Göttinger Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, hrsg. v. Hellmut Becker et. al., 15. Jahrgang 1975, S. 467. Trotz unserer heutigen Kritik an dem subtil disziplinierenden und moralisierenden Erziehungsstil darf der enorme Fortschritt des philanthropischen Erziehungsmodells nicht übersehen werden. Entgegen der vorher üblichen rein rezipierenden Erziehungsart wurden die Kinder in den von Campe und Salzmann entwickelten Erziehungsgesprächen „redend eingeführt“ und zum Selbstdenken angeleitet. Ewers, Campe als Kinderliterat , S. 9.

30 Jean Jacques Rousseau ist uns heute wahrscheinlich eher als Autor des „Gesellschaftsvertrags“ bekannt. Dies hängt jedoch mit der größeren Bedeutung, die wir politischen gegenüber pädagogischen Schriften zusprechen zusammen, und darf für das 18. Jahrhundert so nicht angenommen werden.

31 Einen Überblick über die neuere Forschungsliteratur finden wir in: Heide von Felden, Die Frauen und Rousseau , S. 9.

32 Zu Fan◇oir Poulin de la Barre, Von der Gleichheit der Geschlechter (1673), s.: Steinbrügge, Das moralische Geschlecht , 57 f.. Seine zentrale These von der geistigen Gleichheit der Geschlechter („L’esprit n’a point de sexe“) beruht auf der von René Descartes behaupteten grundsätzlichen Trennung von Leib und Seele. s. auch: Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850 , Campus Verlag: Frankfurt am Main, New York: 1991, S. 87.

33 Erst ab 1750 wird im philosophischen Diskurs die Trennung zwischen Körper und Geist wieder aufgebrochen und stattdessen die wechselseitige Bedingtheit untersucht. Zur Resexualisierung von Seele und Geist s.: Honegger, Ordnung der Geschlechter , S. 87. Über die gestiegene Bedeutung des Körpers im englischen Empirismus und französischen Sensualismus s.: Steinbrügge, Das moralische Geschlecht , S. 47. Die „Abhärtung an Leib und Seele“ und zwar von Mann und Frau sollte auch zu einem Leitprinzip der philanthropischen Erziehung werden.

34 In ihrer Untersuchung über die Krankentagebücher des Eisenacher Arztes Dr. Storch ist Barbara Duden dieser Geschichte der Körperwahrnehmung im 17. und 18. Jahrhunderts nachgegangen. Barbara Duden, Geschichte unter Haut , Klett-Cotta: Stuttgart 1987. s.: auch: Niethammer, Autobiographien , S. 76 f..

35 Die Versöhnung von Natur und Kultur, das Bei-Sich-Sein des nicht entfremdeten, natürlichen Menschen ist zwar die zentrale Utopie im Werk von Jean-Jacques Rousseau, sie bleibt jedoch letztlich unerfüllt. Die Illusion der unschuldigen Natürlichkeit soll möglichst lange aufrechterhalten werden, irgendwann wird sie dennoch zusammenbrechen, und der natürliche Mensch zum kultivierten Bürger reifen. s.: von Felden, Die Frauen und Rousseau , S. 40. In der meist selektiven Rezeption seiner Schriften, etwa auch durch die Philanthropen, wurde dieses Spannungsverhältnis aufgelöst. So gibt sich Campe nicht mit einem notwendigerweise unbefriedigenden Kompromiss zufrieden, sondern beschreibt den natürlichen Menschen und kultivierten Bürger als harmonisch vereint.

36 Wie Barbara Duden festgestellt hat, wurden durch diese Individualisierung des menschlichen Körpers ältere, im Volksglauben verwurzelte körpermagische Verbindungslinien zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umwelt aufgebrochen.

37 Über die Unmöglichkeit des Weges zurück in die Natur s.: Volker Kraft, Rousseaus Emile , Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbronn 1993, S. 136.

38 „So lassen wir die einsame Insel in Wirklichkeit erstehen. Ich gebe zu, dass dies nicht der Regelfall in der menschlichen Gesellschaft ist; Emil wird später wahrscheinlich auch nicht so leben. Aber nach diesen Verhältnissen soll er die anderen messen.“ Rousseau, Emil , S. 180. Die Idee der Insel als einem idealen pädagogischen Modell spiegelt sich in der Empfehlung Rousseaus wider, dem Zögling als einziges Buch „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe zu erlauben. Erst auf der einsamen Insel findet Robinson zu Gott, der Natur und letztlich sich selbst zurück. Als Lehrmeister dienen ihm dabei harte körperliche Arbeit, Demut vor den Gewalten der Natur und die Erkenntnis, wie sehr der Mensch auf die Gesellschaft angewiesen bleibt und wie weit er sich bereits von einer natürlichen Lebensform entfernt hat. Rousseaus

Vorschlag, den Abenteuerroman Defoes als einzige Lektüre der Jugend zu erlauben, wurde sofort aufgegriffen. Die Robinsonade wird zu einer der beliebtesten Literaturgattungen des 18. Jahrhunderts. Gerade die noch genauer zu untersuchende Bearbeitung „Robinson der Jüngere“ von Joachim Heinrich Campe, der sich in dem Vorwort zu der Erzählung explizit auf die Empfehlung von Rousseau bezieht, wurde zu einer der wichtigsten Robinsonaden und zählte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum Kanon der Kinderund Jugendbuchliteratur (s.: Kapitel 5).

39 Rousseau, Emil, S. 395

40 Rousseau, Emil , S. 393

41 vgl.: von Felden, Die Frauen und Rousseau , S. 27.

42 Rousseau, Emil, S. 20

43 Rousseau , Emil , S. 23

44 Rousseau, Emil , S. 26 u. 104. Rousseau fand sowohl für die Mutter als auch für den Vater sein Vorbild in der erbarmungslosen Abhärtung der Spartaner.

45 Rousseau, Emil, S. 102

46 von Felden, Die Frauen und Rousseau , S. 28

47 Christine Garbe, Die weibliche List im männlichen Text. J.-J. Rousseau in der feministischen Kritik , Verlag J.B. Metzler: Stuttgart 1992, S. 79

48 Rousseau, Emil , S. 393

49 Garbe, Weibliche List , S. 35

50 In der zeitgenössischen Diskussion wurde die zunehmende Beschäftigung mit der Geschlechterfrage, die hier als Geschlechterdiskurs bezeichnet wird, bereits wahrgenommen und meist unter dem Modebegriff der „Bestimmung der Geschlechter“ diskutiert. So stellt etwa Amalia Holst in der Einleitung zu ihrem Buch „Über die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung“ von 1802 fest: „Seit kurzem wird so viel über die weibliche Bestimmung geschrieben.“ Holst, Geistesbildung , S. 1.

51 Campe, Väterlicher Rat , S. 24

52 Campe, Allgemeine Revision , Bd. 15, 1791, S. 181

53 Es bleibt an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass ich bei meiner Studie hauptsächlich das bürgerliche Modell untersuchen werde, das sich letztlich als das erfolgreichste erwies. Adlige und bäuerliche Geschlechtermodelle unterschieden sich zu dieser Zeit grundlegend von dem bürgerlichen Entwurf, der sich sowohl gegen die adlige Libertinage und die behauptete Gefühlskälte zwischen den zwangsverheirateten Adligen einerseits als auch gegen die bäuerliche Unkultiviertheit und die fehlenden sexuellen Normen des Bauernstandes andererseits abgrenzte.

54 Die folgenden Ausführungen sind als Überblick über die komplizierte Diskursentwicklung zu verstehen. Neuere Antworten, die die Sozialund Geschlechtergeschichte auf diese Fragen anbietet, können an dieser Stelle nur angedeutet werden und sollen primär der Einordnung der zu untersuchenden Quellen dienen. Bei umstrittenen Fragen, etwa der Frage nach dem Adressatenkreis oder der Frage nach der Wirkung des Geschlechtermodells auf das alltägliche Leben, will ich versuchen, die sich abzeichnende Forschungsentwicklung möglichst ausgeglichen dazustellen.

55 Zur „Scientifizierung“ des Geschlechterdiskurses s.: Honegger, Ordnung der Geschlechter .

Ende der Leseprobe aus 122 Seiten

Details

Titel
Die Frage nach dem sicheren Geschlecht
Untertitel
Entwürfe von Männlichkeit bei Joachim Heinrich Campe, Adolph Freiherr von Knigge und Amalia Holst
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2002
Seiten
122
Katalognummer
V120891
ISBN (eBook)
9783640248346
ISBN (Buch)
9783640248605
Dateigröße
1695 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlechtergeschichte, Aufklärung, Rousseau, Knigge
Arbeit zitieren
Dr. Martin Nissen (Autor:in), 2002, Die Frage nach dem sicheren Geschlecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120891

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