Körperschmerzen männlicher und weiblicher Musiker

Befragung zur Meidung von Arztkontakten durch Berufsmusiker eines klassischen Orchesters


Scientific Study, 2008

17 Pages


Excerpt


ZUSAMMENFASSUNG

Hintergrund

Schlechte Körperhaltung, einseitige Bewegungsgewohnheiten sowie durch Musikinstrumente unterschiedlicher Art induzierte Dysbalancen begünstigen bei Orchestermusikern entzündliche sowie degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates. Diese können Berufskrankheiten entsprechen und durch ihre erhebliche Schmerzhaftigkeit die Tätigkeit eines Instrumentalmusikers einschränken oder unterbinden. Daher sollten bereits in der Ausbildung Physioprophylaxe und Prävention ansetzen. Da es jedoch für Musikerkrankheiten keine ausgewiesenen Fachärzte gibt, gibt es auch keine verbindlichen ärztlichen Präventionsempfehlungen. Physiotherapeutische Betreuungen entstammen im Großen und Ganzen bewährten Entspannungs- und Entlastungstechniken. Musikerkrankheiten werden meistens erst mit dem Auftreten von Schmerzen erfasst; die Betroffenen werden am Wohn- oder Arbeitsort von dort ansässigen Orthopäden umsorgt, die häufig selber Musikinstrumente spielen und sich aus diesem Verständnis heraus in den für Musiker typischen somatischen Symptomatiken fortgebildet haben. Über Art und Ausprägung der körperlichen Beschwerden liegen Studien unterschiedlicher Designs vor, die als Grundlage ärztlicher Behandlungen genutzt werden können. Musikhochschulen bieten zunehmend die Möglichkeiten, die sich aus der Vernetzung von Forschung Wissenschaft, Lehre und Praxisbezug anbieten, inwieweit jedoch der Einzelne bereit ist sich dieser Konsequenz zu stellen, ist weniger bekannt. Hierüber besteht Bedarf an w eiteren Untersuchungen.

Fragestellung

Es soll im Rahmen einer Pilotstudie an einer Gruppe von klassischen Orchestermusikern untersucht werden, inwieweit berufsbedingte körperliche Schmerzen vorliegen und ob sie sich deswegen in ärztlicher Behandlung befinden. Hieraus ergibt sich ein Verhältnis von ärztlich erfassten und in weiterer Folge möglicherweise als Berufskrankheiten eingestuften Beschwerden zu einem Dunkelfeld inoffizieller Schmerzleiden. Ärztliche Befunde zu möglichen Ursachen der von den Musikern angegebenen Symptomen wurden daher nicht erfragt. Alters- sowie Geschlechts-bezogene Aspekte sollen miteinbezogen werden.

Individuelle künstlerisch-musikalische Aspekte sowie mögliche Einflüsse der gesamten Lebenssituation auf die körperlichen Beschwerden wurden nicht berücksichtigt.

Material und Methode

Im Oktober 2007 wurde an 62 Orchestermusiker beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichen Musikinstrumenten und von unterschiedlichen Stammorchestern ein kurzer Fragebogen zur anonymen Beantwortung ausgeteilt.

Ergebnisse

Mehr als die Hälfte der aktiven Orchestermusiker gibt an, unter vermutlich berufsbedingten Schmerzen zu leiden, fast die Hälfte davon unter chronischen Schmerzen. Allerdings begibt sich nur etwa ein Drittel jener mit Schmerzen bzw. knapp die Hälfte derer mit Dauerschmerzen in ärztliche Behandlung. Dies ergibt einerseits eine hohe Dunkelziffer im Hinblick auf die offiziell bekannte Prävalenz von berufsbedingten Schmerzen bei Musikern und lässt andererseits auch ein Dunkelfeld innerhalb des Spektrums der verschiedenen Schmerzsymptomatiken erahnen.

EINLEITUNG

Erfolgen körperliche Fehlbelastungen mit einseitigen Muskel- und Gelenkbeanspruchungen über einen längeren Zeitraum ohne adäquate Physioprävention, können sie zu schmerzhaften entzündlichen sowie degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates führen [1]. Deren Ursachen können in allen Bereichen des täglichen Lebens auftreten. Bestehen sie jedoch als chronifizierende und chronische Veränderungen im Zusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten am Arbeitsplatz, werden sie in Deutschland als Berufskrankheiten klassifiziert, wenn es sich gemäß §6 SGB 7 (gesetzliche Unfallversicherung) um Krankheiten handelt, die in einer Berufsgruppe häufiger auftreten als in der Normalbevölkerung [2]. In Abgrenzung zu Arbeitsunfällen können sie sich auch erst nach abgeschlossener Tätigkeit einstellen; berufsspezifisch sind sie allerdings auch aufgrund plötzlicher Ereignisse möglich. Nach §9 Abs. 1 SGB 7 wird in der Beurteilung unterschieden in Listenerkrankungen und Quasiberufserkrankungen. Mit Krankheit ist hier generell ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand gemeint, wobei es jedoch im Unterschied zum Krankenversicherungsrecht nicht auf Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit ankommt.

Berufsspezifische Erkrankungen von Musikern sind bereits aus dem 15. Jahrhundert überliefert [3], 1832 erschien ein „Ärztlicher Ratgeber für Musiktreibende“, aber erst 1923 erteilte das preußische Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Bildungswesen einen Lehrauftrag an der Berliner Musikhochschule zu Vorlesungen über „Berufskrankheiten der Musiker“[4] [5].

Voraussetzung für eine musikalische Karriere ist die musikalische Intelligenz. Als ein angeborenes Potenzial ist sie ein definierter Bestandteil im Spektrum der Intelligenzen [6]. Generell können besondere Begabungen Veränderungen des Blickwinkels gegenüber etablierter Zuordnungen bewirken; Musiker können daher bereits in der Kindheit gegenüber ihrer Umwelt hohen psychischen Belastungen unterliegen. Werden sie nicht von ihrer sozialen Umwelt gefördert, können sie sich in ihrer Studienzeit festigen, und bei Unterschätzung und Nichtbeachtung in interaktiven Vernetzungen schließlich zu möglichen Dauerschäden auf psychischer und somatischer Ebene führen. Auch auf physischer Ebene können sich Überbeanspruchungen möglicherweise langfristig gesamtgesundheitlich auswirken, wenn bei intensiver Beschäftigung mit Musikinstrumenten vor Abschluss des Körperwachstums keine adäquaten Ausgleichsmöglichkeiten geboten werden [7] [8] [9].

Als verantwortliche Ursachen für mögliche Berufskrankheiten von Orchestermusikern gelten generell die berufseigenen Beanspruchungen mit ihren jeweiligen Wechselwirkungen zwischen akuten körperlichen Belastungen, instrumentenspezifischen Besonderheiten, psychomentalen Anforderungen und Belastungen durch Perfektions-, Konkurrenz- und Zeitdruck, sowie dem immer stärkeren Druck durch die Arbeits- und Organisationsform des Kulturbetriebs [10].

Instrumentalmusiker sind für Fehlbelastungshaltungen prädestiniert. Generell werden Fehlhaltungen dem Betroffenen erst durch ihre schmerzhaften Einschränkungen bewusst. Daraus resultierende ausweichende Belastungshaltungen können wiederum Fehlhaltungen induzieren, schließlich bis zu ganzkörperlichen Funktionsstörungen. Je nach Studie und instrumenteller Spezifität haben bis zu 89% der befragten Musiker Erkrankungen des Stütz- und Bewegungssystems. Die meisten Instrumentalmusiker haben demnach zumindest temporär Schmerzen im Skelett-Muskel-Gelenksystem, da nach den Erfordernissen ihres jeweiligen Musikinstrumentes generell Zwangshaltungen vorgegeben sind, die je nach Konstitution und Spielpraxis zu körperlichen Konsequenzen führen [11]. Hinzu kommen, allerdings in geringerem Ausmaß, Probleme mit Visus, und mit Akustik [12], aber auch mit Psychopharmaka und mit psychiatrischen Erkrankungen; ca. 25-30% der Musiker wird die regelmäßige Einnahme von Tabletten oder Alkohol gegen Auftrittsängste unterstellt [13]. Immerhin 15% der Orchestermusiker gehen wegen Berufsunfähigkeit in so genannte Frührente [14].

In Deutschland gab es 2002 etwa 11.500 Berufsmusiker in Symphonie- und Theaterorchestern, weitere 35.700 in Musikschulen, sowie 25.500 Musikstudenten. Zwar hat inzwischen so gut wie jede Musikhochschule im deutschsprachigen Raum einen Lehrbeauftragten für Musikermedizin, dennoch sind entsprechende Forschungseinrichtungen, spezifische Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten sowie Präventionsstrategien unterrepräsentiert im Verhältnis zu anderen Berufsgruppen mit ähnlichen körperlichen und mentalen Herausforderungen wie z.B. Sportlern [15]. Im Unterschied zu diesen müssen Berufsmusiker ihre Leistungen bis zum Eintritt ihres gesetzlichen Rentenalters erbringen, während Leistungssportler spätestens in der Mitte des 30. Lebensjahres ihre Aktivitäten einstellen.

Einen ausgewiesenen Facharzt für Musikermedizin gibt es bislang nicht und somit auch keine festgelegte Ausbildung für diesen Bereich. Die konventionelle orthopädische Untersuchung ist nicht spezifisch genug, um neben den primären Fehlfunktionen Funktionsstörungen aufzuspüren, die erst beim Musizieren symptomatisch werden. Zwar bemühen sich Musikhochschulen verstärkt diese Lücke zu schließen, jedoch werden Prävention, sowie die Therapie und Rehabilitation von erkrankten Musikern meistens als ein Tätigkeitsschwerpunkt von Ärzten übernommen, die selber ein Instrument zu spielen gelernt haben und somit pathogene Verhaltensmuster nachvollziehen können [16].

Die hohe Anzahl von Erkrankungen des Bewegungsapparates resultiert häufig aus Vernachlässigungen ergonomischer Abstimmungen von Körper und Musikinstrument als senso- und psychomotorische Einheit bereits in der Ausbildung, wodurch sich Dysbalancen dauerhaft etablieren können [17]. Daher erscheint es sinnvoll, beispielsweise über offene Beobachtungsstudien und oder durch Befragungen aktiv tätiger Musiker häufige bzw. für bestimmte Musikergruppen typische Fehlhaltungsmechanismen zu eruieren, um dazu beizutragen, den Pool der Berufsfeldforschung zum Nutzen frühzeitiger Prävention und Prophylaxe aufzufüllen.

In dieser vorliegenden Untersuchung geht es allerdings weniger um mögliche Varianten der Beschwerden, sondern es soll in Form einer Pilotstudie überhaupt einmal erfasst werden, wie viele der befragten Musiker Schmerzen haben, und ob sie deswegen in ärztlicher Behandlung sind.

MATERIAL UND METHODE

Im Oktober 2007 wurden 62 Orchestermusiker beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters zu berufsbedingten körperlichen Schmerzen befragt. Ärztliche Hintergrund-Diagnosen als Ursachen wurden nicht erfragt.

Absicht war, die Häufigkeit des Auftreten von Schmerzen bzw. chronischen Schmerzen und das Verhältnis von Schmerzen zu ärztlichen Behandlungen zu untersuchen und, ob es hierbei Unterschiede zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Altersgruppen gibt.

Aus der Beantwortung kann auf eine mögliche Dunkelziffer geschlossen werden, wonach die ärztlich erfassten und von den sozialen Institutionen als Musiker-Berufskrankheiten eingeordneten Beschwerden hinsichtlich ihrer Häufigkeit und möglicherweise auch hinsichtlich der Ausprägung nur einen Teil des tatsächlichen Spektrums erfassen.

Die Befragung wurde anonym mittels eines Fragebogens durchgeführt (vgl. Abb.1). Die meisten Fragen waren durch Ankreuzen zu beantworten, insbesondere die Angaben dazu, ob und in welchen Bereichen des Körpers Schmerzen empfunden werden.

Als offene Angabe einzutragen waren im Fragebogen das Alter, das gespielte Musikinstrument, mögliche zusätzliche, d.h. nicht in der Liste davor aufgeführte, Schmerzen und das Datum, wann die Schmerzen erstmals auftraten.

Die Studienteilnehmer spielten grundsätzlich mit ihren jeweiligen Instrumenten klassische Musik in verschiedenen Orchestern. Während der Befragung hatten sie sich jedoch für zwei unterschiedliche, aufeinanderfolgende Konzertveranstaltungen zu zwei getrennten Orchestern formiert. Dies könnte möglicherweise die Freimütigkeit in der Beantwortung des Fragebogens unterstützt haben. Stammmitglieder eines Orchesters unterliegen innerhalb dieser Gruppe einem situationsgeprägten Sozialverhalten, wonach es nicht immer geboten erscheint, Beschwerden deutlich zu äußern. Solche vorsichtigen Zurückhaltungen können bei Befragungen trotz garantierter Anonymität bestehen bleiben und das Spektrum beeinträchtigen. In ortsfremdem Milieu scheinen die Anonymität und die Offenheit in der Beantwortung eher gewahrt.

Nach einer kurzen persönlichen Vorstellung der Studie und einer Aufklärung über das Procedere wurde das Einverständnis zur Teilnahme erfragt und daraufhin jeder Person ein Fragebogen übergeben. Zur Beantwortung waren 15 Minuten angesetzt. Zur Wahrung der Anonymität wurden die Fragebögen anschließend von jeder Person doppelt gefaltet und in einen Karton mit Einwurfschlitz zurückgegeben.

[...]

Excerpt out of 17 pages

Details

Title
Körperschmerzen männlicher und weiblicher Musiker
Subtitle
Befragung zur Meidung von Arztkontakten durch Berufsmusiker eines klassischen Orchesters
Authors
Year
2008
Pages
17
Catalog Number
V121127
ISBN (eBook)
9783640243983
ISBN (Book)
9783640247004
File size
668 KB
Language
German
Keywords
Körperschmerzen, Musiker
Quote paper
Dr.med.dent. Hubertus R. Hommel (Author)Harald Lothaller (Author)Heinz Spranger (Author)Christian P. Endler (Author), 2008, Körperschmerzen männlicher und weiblicher Musiker, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121127

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