Mathilde Möhring


Clásico, 2009

101 Páginas

Theodor Fontane (Autor)


Extracto


Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Möhrings wohnten Georgenstraße 19 dicht an der Friedrichsstraße. Wirt war Rechnungsrat Schultze, der in der Gründerzeit mit dreihundert Talern spekuliert und in zwei Jahren ein Vermögen erworben hatte. Wenn er jetzt an seinem Ministerium vorüberging, sah er immer lächelnd hinauf und sagte: »Gu'n Morgen, Exzellenz.« Gott, Exzellenz. Wenn Exzellenz fiel, und alle Welt wunderte sich, daß er noch nicht gefallen sei, so stand er, wie Schultze gern sagte, vis-à-vis de rien, höchstens Oberpräsident in Danzig. Da war er besser dran, er hatte fünf Häuser, und das in der Georgenstraße war beinah schon ein Palais, vorn kleine Balkone von Eisen mit Vergoldung. Was anscheinend fehlte, waren Keller und natürlich auch Kellerwohnungen, statt dessen lagen kleine Läden, ein Vorkostladen, ein Barbier-, ein Optikus- und ein Schirmladen in gleicher Höhe mit dem Straßenzug, wodurch die darüber gelegene Wirtswohnung jenen à-deux-mains-Charakter so vieler neuer Berliner Häuser erhielt. War es Hochparterre oder war es eine Treppe hoch. Auf Schultzes Karte stand: Georgenstraße 19 I, was jeder gelten ließ mit Ausnahme Möhrings, die je nachdem diese Frage entschieden wurde, drei oder vier Treppen hoch wohnten, was neben der gesellschaftlichen auch eine gewisse praktische Bedeutung für sie hatte.

Möhrings waren nur zwei Personen, Mutter und Tochter; der Vater, Buchhalter in einem Kleider-Exportgeschäft, war schon sieben Jahre tot und war am Palmsonnabend gestorben, einen Tag vor Mathildens Einsegnung. Der Geistliche hatte daraufhin eine Bemerkung gemacht, die bei Mutter und Tochter noch fortlebte. Ebenso das letzte Wort, das Möhring Vater an seine Tochter gerichtet hatte: »Mathilde, halte dich propper.« Pastor Neuschmidt, dem es gesagt wurde, war der Meinung, der Sterbende habe es moralisch gemeint, Schultzes, die auch davon gehört hatten und neben dem Geld- und Rechnungsrat-Hochmut natürlich auch noch den Wirtshochmut hatten, bestritten dies aber und brachten das Wort einfach in Zusammenhang mit dem Kleider-Exportgeschäft, in dem sich der Gedankengang des Alten bewegt habe; es solle soviel heißen wie: »Kleider machen Leute«.

Damals waren Möhrings eben erst eingezogen, und Schultze sah den Tod des alten Möhring, der übrigens erst Mitte vierzig war, ungern. Als man den Sarg auf den Wagen setzte, stand er am Fenster und sagte zu seiner hinter ihm stehenden Frau: »Fatale Geschichte. Die Leute haben natürlich nichts, und nu war vorgestern auch noch die Einsegnung. Ich will dir sagen, Emma, wie's kommt, sie werden vermieten, und weil es eine Studentengegend ist, so werden sie's an einen Studenten vermieten, und wenn wir dann mal spät nach Hause kommen, liegt er auf dem Flur, weil er die Treppe nicht hat finden können. Ich bitte dich schon heute, erschrick nicht, wenn es vorkommt, und kriege nicht deinen Aufschrei.« Als Schultze diesen Satz geendet, fuhr draußen der Wagen fort.

Die Befürchtungen Schultzens erfüllten sich und auch wieder nicht. Allerdings wurde Witwe Möhring eine Zimmervermieterin, ihre Tochter aber hatte scharfe Augen und viel Menschenkenntnis, und so nahmen [sie] nur Leute ins Haus, die einen soliden Eindruck machten. Selbst Schultze, der Kündigungsgedanken gehabt hatte, mußte das nach Jahr und Tag zugeben, bei welcher Gelegenheit er nicht unterließ, den Möhrings überhaupt ein glänzendes Zeugnis auszustellen. »Wenn ich bedenke, Buchhalter in einer Schneiderei, und die Frau kann doch auch höchstens eine Müllertochter sein, so ist es erstaunlich. Manierlich, bescheiden, gebildet. Und das Mathildchen, sie muß nu wohl siebzehn sein, immer fleißig und grüßt sehr artig. Ein sehr gebildetes Mädchen.«

Das war nun schon wieder sechs Jahr her, und Mathildchen war nun eine richtige Mathilde von dreiundzwanzig. Das heißt, eine so ganz richtige Mathilde war sie doch nicht, dazu war sie zu hager und hatte einen grisen Teint. Und auch das aschblonde Haar, das sie hatte, paßte nicht recht zu einer Mathilde. Nur das Umsichtige, das Fleißige, das Praktische, das paßte zu dem Namen, den sie führte. Schultze hatte sie auch mal ein appetitliches Mädchen genannt. Dies war richtig, wenn er sie mit dem verglich, was ihm an Weiblichkeit am nächsten stand, enthielt aber doch ein bestimmtes Maß von Übertreibung. Mathilde hielt auf sich, das mit dem »propper« hatte sich ihr eingeprägt, aber sie war trotzdem nicht recht zum Anbeißen, was doch das eigentlich Appetitliche ist, sie war sauber, gut gekleidet und von energischem Ausdruck, aber ganz ohne Reiz. Mitunter war es, als ob sie das selber wisse, und dann kam ihr ein gewisses Mißtrauen, nicht in ihre Klugheit und Vortrefflichkeit, aber in ihren Charme, und sie hätte dies Gefühl vielleicht großgezogen, wenn sie sich nicht in solchen kritischen Momenten eines unvergeßlichen Vorgangs entsonnen hätte. Das war in Halensee gewesen an ihrem siebzehnten Geburtstag, den man mit einer unverheirateten Tante in Halensee gefeiert hatte. Sie hatte sich in einiger Entfernung von der Kegelbahn aufgestellt und sah immer das Bahnbrett hinunter, um zu sehn, wieviel Kegel die Kugel nehmen würde, da hörte sie ganz deutlich, daß einer der Kegelspieler sagte: »Sie hat ein Gemmengesicht.« Von diesem Worte lebte sie seitdem. Wenn sie sich vor den alten Stehspiegel stellte, dessen Mittellinie ihr grad über die Brust lief, stellte sie sich zuletzt immer en profil und fand dann das Wort des Halenseer Kegelschützen bestätigt. Und durfte es auch; sie hatte wirklich ein Gemmengesicht, und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können, aber mit dem edlen Profil schloß [es] auch ab, die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte, aschgraue Haar, das zu klein gebliebne Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und am nüchternsten wirkten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man früher von einem Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick sprechen. Ihre Chancen auf Liebe waren nicht groß, wenn sich nicht jemand fand, dem das Profil über alles ging. Sie hatte deshalb auch den gebildeten Satz akzeptiert und operierte gern damit: »In der Kunst entscheidet die Reinheit der Linie.« Rechnungsrat Schultze hatte sich anfangs durch diesen Satz blenden lassen. Als er ihn aber nochmals gehört hatte, merkte er die Absicht und wurde verstimmt und sagte zu seiner Frau: »Ich bin mehr fürs Runde.« Das tat der Rechnungsrätin wohl, denn es war das einzige, was sie hatte.

Zweites Kapitel

Die Sonne schien, und eine milde Luft ging, und jeder, der in die Georgenstraße einbog und die Bäume sah, die hier und da noch ihre vollbelaubten Zweige über einen Bretterzaun streckten, hätte auf Anfang September raten müssen, wenn nicht vor mehreren Häusern und auch vor dem Rechnungsrat Schultzeschen Hause ein großer Riesenwagen gestanden hätte mit einem Leinwandbehang und der Inschrift Möbel-Transport von Fiddichen, Mauerstraße 17. Die Seitenwände mehrerer auseinandergenommener Bettstellen waren schräg an den Wagen gelegt, und auf dem Straßendamm stand ein Korb mit Küchengeschirr und an den Korb gelehnt ein Bild in Barockrahmen: hohes gepudertes Toupet und geblümtes Mieder, soweit sich davon sprechen ließ, denn das wichtigste Stück, soweit die Dezenz in Betracht kam, hatte der Maler zu malen unterlassen und der sich darin bergenden Natur freien Lauf gelassen. Alles in allem, es war Ziehzeit, also nicht Anfang September, sondern Anfang Oktober, Ziehzeit, wodurch die Georgenstraße sehr gewann; solchen Wagen und solch Porträt sah man in der Georgenstraße nicht alle Tage, weshalb etliche Menschen und eine ganze Anzahl Kinder den Wagen und das Bild umstanden.

Unter denen, die das Bild mit Interesse musterten, war auch ein junger Mann von etwa sechsundzwanzig. Sein Alter zu bestimmen war nicht leicht, weil zwischen dem Ausdruck seines Gesichts und seinem schwarzen Vollbart ein Mißverhältnis war, der Ausdruck war jugendlich, der Bart plädierte für Mann in besten Jahren. Aber der Bart hatte unrecht, er war erst sechsundzwanzig, etwas über mittelgroß, breitschultrig, Figur und Bart nach ein Mann und überhaupt so recht das, was gewöhnliche Menschen einen schönen Mann nennen. Er hätte sich sehen lassen können.

Als er mit seiner Musterung des Bildes fertig war, nahm er seine eigentliche Aufgabe wieder auf und begann über den Straßendamm weg die an der andern Straßenseite stehenden Häuser zu mustern. Er war nämlich auf der Wohnungssuche. Die Götter waren mit ihm, und kaum daß sich sein Blick auf das Haus gegenüber gerichtet hatte, so las er auch schon an einem über der Haustür angebrachten Zettel: »Drei Treppen hoch links ein elegant möbliertes Zimmer zu vermieten.« Er nickte, wie wenn er zu sich selbst sagte: »Scheint mir; hier will ich Hütten baun.« Und gleich danach ging er über den Damm und stieg die drei Treppen hinauf: oben angekommen, war er ein wenig unwirsch, daß es eigentlich vier waren. Er klingelte und hatte nicht lange zu warten; Frau Möhring öffnete.

»Ist es bei Ihnen?«

»Wegen des Zimmers? Ja, das ist hier. Wenn Sie sich's ansehen wollen...«

»Ich bitte darum.«

Und nun trat Frau Möhring in ein einfenstriges Mittelzimmer zurück, das als Entree für rechts und links diente und drin nichts stand als ein einreihig besetzter Bücherschrank mit einem Vogelbauer darauf. Der im Sommer gestorbne Zeisig war noch nicht wieder ersetzt worden. Sonst nur noch zwei Stühle und ein weißer Leinwandstreifen als Läufer und am Fenster eine Aralia mit einer kleinen Gießkanne daneben. Alles dürftig, aber sehr sauber. Und nun öffnete Frau Möhring die Tür, die rechts nach dem zu vermietenden Zimmer führte.

Hierher hatten sich alle Anstrengungen konzentriert: ein etwas eingesessenes Sofa mit rotem Plüschüberzug und ohne Antimakassar, Visitenkartenschale, der Große Kurfürst bei Fehrbellin und das Bett von schwarz gebeiztem Holz mit einer aus Seidenstückchen zusammengenähten Steppdecke. Die Wasserkaraffe auf einem großen Glasteller, so daß es immer klapperte.

Der schöne Mann mit dem Vollbart sah sich um, und wahrnehmend, daß die beiden Dinge fehlten, gegen die er eine tiefe Aversion hatte, Öldruckbilder und Antimakassars, war er sofort geneigt zu mieten, vorausgesetzt, daß er Aussicht hatte, für seine kleinen Bequemlichkeiten seitens der Wirtin gesorgt zu sehn. Gegen den bescheiden bemessenen Preis hatte er keine Einwendungen zu erheben, Portierfrage, Hausschlüssel, alles war geregelt, und er frug eben nach dem Hausschlüssel, als Mathilde Möhring vom Entree her eintrat. »Meine Tochter«, sagte Frau Möhring, und Mathilde und der schöne Mann begrüßten sich und musterten einander, sie eindringlich, er oberflächlich.

»Ich nehme an, daß ich die Kleinigkeiten, die man so braucht, ohne viel Umstände zu machen, haben kann: Frühstück, Kaffee und mal ein Ei, Tee, Sodawasser, ich brauche viel Sodawasser und dem ähnliches.«

Mathilde, die wie selbstverständlich das Wort nahm, versicherte, daß man das alles im Hause habe und daß von Umstände keine Rede sein könne. So was gehöre ja wie mit dazu, das Haus sei ruhig und anständig, ohne Musik, der Wirt, ein sehr liebenswürdiger Herr, nähme keinen ins Haus, der Klavier spiele.

»Das trifft sich gut«, lächelte der mit dem Vollbart. »Nun, im Laufe des Tages komme ich noch mit heran und bringe Ihnen bestimmten Bescheid.«

Und bei diesen Worten nahm er wieder seinen breitkrempigen Hut aus weichem Filz und empfahl sich von Mutter und Tochter.

Mathilde begleitete ihn bis an die Flurtür. Als sie wieder zurückkam, hatte sich die Mutter auf das Plüschsofa gesetzt, was sie für gewöhnlich ungern tat, und strich über ein kleines seidnes Rollkissen hin, drauf gelbe Sterne aufgenäht waren.

»Nun, Thilde, was meinst du. Die Stube steht nu schon seit den Ferien leer. Es wird Zeit, daß wir einen Mieter finden. Er will sich noch besinnen und uns dann einen bestimmten Bescheid bringen. Das ist so Rückzug; das sagen alle die, die nicht wiederkommen wollen.«

»Der kommt wieder.«

»Ja, Thilde, woher weißt du das? Dann hätte er doch gleich mieten können.«

»Freilich. Das hätt er gekonnt, aber so einer sagt nie gleich ja, der besinnt sich immer. Das heißt, eigentlich besinnt er sich nicht, er schiebt nur so bloß ein bißchen raus, gleich ja oder nein sagen, das können nicht viele, und der schon gewiß nicht.«

»Gott, Thilde, du sagst das alles so hin wie 's Evangelium und weißt doch eigentlich gar nichts.«

»Nein, alles weiß ich nicht, aber manches weiß ich. Und wenn ich sage: ›Mutter, so und so‹, dann ist es auch so. Der kommt wieder.«

»Ja. Kind, warum soll er wiederkommen?«

»Weil er bequem ist, weil er keinen Muck hat, weil er ein Schlappier ist.«

»Ach, Thilde, sage doch nur nicht immer so was. Du hast so viele Wörter, die du nicht in den Mund nehmen solltest.«

»Ja, Mutter, warum nicht?«

»Weil es dir den Ruf verdirbt.«

»Ach, was Ruf. Mein Ruf ist ganz gut und muß auch; ich weiß, wo Bartel Most holt, und weil ich's weiß, paß ich auf. Ich passe ganz schmählich auf. Mir soll keiner kommen. Und was die paar Redensarten sind, na, Mutter, die laß man ruhig. Da halt ich mich dran fest, die tuen mir wohl, und wenn ich so höre, daß einer immer so fromm und faul drum rumgeht, da wird mir ganz schlimm.«

»Ganz schlimm. Das ist nun auch wieder so. Na, rede, wie du willst, ändern kann ich dich doch nicht, du hast immer deinen Willen gehabt von klein an, und Vater hat immer gesagt: ›Laß man; die wird gut, die frißt sich durch.‹ Ja, das hat er gesagt, aber wenn es man wahr ist. Und warum hat er denn keinen Muck? Ich meine den Herrn, von dem du sagst, er wird schon wiederkommen. Und warum wird er denn wiederkommen?«

»Du siehst auch gar nichts, Mutter. Hast du denn nicht seine Augen gesehn? Und den schwarzen Vollbart und or'ntlich ein bißchen kraus. Soviel mußt du doch wissen, mit solchen ist nie was los. Ich will dir was sagen, so ganz hat es ihm nicht gefallen, aber es hat ihm auch nicht mißfallen, und weil Wohnungsuchen und Treppensteigen langweilig ist und einem Mühe macht, so denkt er bei sich: Gott, eine Wohnung ist wie die andre. Und ruhig ist es und kein Klavier da und die bunte Steppdecke ... warum soll ich da nicht mieten. Und ich will dir auch sagen, wie er nun seine Zeit hinbringt, von Suchen und Sichumtun ist keine Rede, dazu ist er viel zu bequem. Er ist nu hier rübergegangen nach dem Bahnhof, da ißt er ein deutsches Beefsteak oder vielleicht auch bloß eine Jauersche und trinkt ein Kulmbacher. Und dann geht er noch in Café Bauer, und wenn ihm das schon zu unbequem ist, denn er geniert sich nicht gern und sitzt nicht gerne grade, was man da doch muß, dann geht er nach den Zelten und trinkt seinen Kaffee und sieht zu, wie sie Skat spielen oder Schach, und lacht so ganz still vor sich hin, wenn ein reicher Budiker mit seinem Wagen vorfährt und seinem Pferd ein Seidel geben läßt. Und wenn er damit fertig ist, dann schlendert er so durch den Tiergarten hin bis an den Schiffbauerdamm ran, und dann kommt er über die Brücke und steigt die drei Treppen rauf und mietet. Ich will keinen Zeisig mehr im Bauer haben, wenn es nicht so kommt, wie ich sage.«

Mathilde behielt recht. Ob der Mann mit dem Vollbart in den Zelten gewesen war, entzieht sich der Feststellung, aber soviel steht fest, daß er zwischen fünf und sechs wieder oben bei Möhrings war und mietete.

»Meine Sachen stehen noch auf dem Bahnhof hier drüben.

Hier ist meine Karte. Sie können vielleicht jemand rüberschicken und sagen lassen, daß ein Kofferträger oder ein Dienstmann sie rüberbringt. Ich will noch einen Freund besuchen, und wenn ich wiederkomme, hoff ich alles vorzufinden.«

Frau Möhring versprach alles. Als er fort [war], sagte Mathilde: »Siehst du, Mutter. Wer hat recht? Du wirst auch noch hören, daß er in den Zelten war.«

Drittes Kapitel

Die Sachen kamen, ein Koffer und eine große Kiste, und als Mutter und Tochter die Kiste bis dicht ans Fenster geschoben, den Koffer aber auf einen Kofferständer gestellt hatten, zogen sie sich in ihr an der linken Seite des Entrees gelegenes Wohnzimmer zurück. Es sah sehr ordentlich darin aus und auch nicht ärmlich. Vor dem hochlehnigen Kissensofa lag ein Teppich, Rosenmuster, und neben dem Stehspiegel mit dem Riß in der Mitte standen zwei Ständer, in die Blumentöpfe, ein roter und ein weißer Geranium, gesetzt waren. Auf einem Mahagonischrank stand ein Makart-Bouquet, neben dem Schrank eine Hänge-Etagere mit einer geschweiften Perlenstickerei. Der weiße Ofen war blank, die Messingtür noch blanker, und zwischen Ofen und Tür an einer Längswand, dem invaliden Sofa gegenüber, stand eine Chaiselongue, die vor kurzem erst auf der Auktion eines kleinen Gesandten erstanden war und nun das Schmuckstück der Wohnung bildete. Daneben ein ganz kleiner Tisch mit einer Pendeluhr darauf, die einen merkwürdig lauten Schlag hatte.

Mathilde stellte sich vor den Spiegel, um sich den Scheitel etwas glattzustreichen, denn ihr Haar war sehr dünn und hatte eine Neigung, sich in Streifen zu teilen, Mutter Möhring aber setzte sich auf das Sofa, grad aufrecht, und sah nach der Wand gegenüber, wo ein Pifferaro auf einem Felsen saß und, seinen Dudelsack blasend, einfältig und glücklich in die Welt sah. Mathilde sah im Spiegel, wie die Mutter so steif und aufrecht dasaß, und sagte, ohne sich umzudrehn: »Warum sitzt du nu wieder auf dem harten Sofa und kannst dich nicht anlehnen. Wozu haben wir denn die Chaiselongue?«

»Na, doch nicht da zu.«

»Freilich dazu. Freilich, und war noch dazu gar kein Geld. Und nu denkst du gleich, du ruinierst es und sitzt ein Loch hinein. Ich hab es mir gespart und habe mich gefreut, als ich dir's aufbaun konnte.«

»Ja, ja, Thilde, du meinst es gut.«

»Und Rückenschmerzen hast du immer und klagst in einem fort. Und doch willst du nicht drauf liegen. Und wenn du noch recht hättest. Aber es ruiniert nicht, und wovon sollt es auch, du wiegst ja keine hundert Pfund.«

»Doch, Thilde, doch.«

»Und wenn auch: je eher das Ding eine kleine Sitzkute hat, desto besser; so steht es bloß da wie geliehn und als graulten wir uns, uns draufzusetzen. Und so schlimm ist es doch nicht, wir haben ja doch unser Auskommen und bezahlen unsre Miete mit 'm Glockenschlag. Also warum machst du dir's nicht bequem. Und dann sieht es auch besser aus, wenn man so sieht, es ist in Dienst. Der Spiegel ist alt, und das Sofa ist alt, und da darf die Chaiselongue nicht so neu sein. Das paßt nicht, das stört, das ist gegen 's Ensemble.«

»Gott, Thilde, sage nur nicht so was Franzö'sches; ich weiß dann immer nicht recht. Zu meiner Zeit, da war das alles noch nicht so, und mein Vater wollte von Schule nichts wissen. Na, du weißt ja. Wohin man kuckt, immer hapert es. Sieh mal hier seine Karte. Hugo Großmann. Na, das versteh ich, aber nu kommt sein Titel oder was er ist, und da weiß ich nicht, was soll das heißen Cand. jur.?«

»Das heißt, daß er Kandidat ist.«

»Soso, na, das ist gut, dann ist es ein Prediger oder wird einer.«

»Nein, dieser nicht. Dieser is bloß ein Rechtskandidat. Das heißt soviel als wie, er hat ausstudiert und muß nun sein Examen machen, und wenn er das gemacht hat, dann ist er ein Referendarius. Er ticktackt jetzt so hin und her zwischen Student und Referendarius.«

»Na, wenn er nur bleibt. Glaubst du, daß er bleibt?«

»Natürlich bleibt er.«

»Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, daß er bleibt?«

»Ach, Mutter, du siehst auch gar nichts. Wo der mal sitzt, da sitzt er. Der ist bequem. Und eh der wieder auszieht, da muß es schon schlimm kommen. Und schlimm kommt es bei uns nicht. Wir sind artig und manierlich und immer gefällig und laufen alle Gänge und sehen bloß, was wir sehen wollen.«

»Glaubst du, daß er...«

»I, Gott bewahre. Der is wie Gold. Mit dem kann man drei Tage und drei Nächte fahren. Einen so Anständigen haben wir noch gar nicht gehabt. Und dann mußt du bedenken, er is vorm Examen, und wir haben kein Klavierspiel. Auf dem Hof das bißchen Leierkasten, das hört er nicht. Und ich will dir noch mehr sagen, Mutter; der bleibt nicht bloß, der bleibt auch lange. Denn sehr anstrengen wird er sich nicht. Er sieht so recht aus wie ›Kommst du heute nicht, so kommst du morgen‹. Und vielleicht morgen auch noch nicht.«

Hugo Großmann, der noch keine Schlüssel hatte, war drei Minuten vor zehn nach Hause gekommen und [hatte] für alles, was ihm noch angeboten wurde, gedankt; er sei sehr müde, vorige Nacht unterwegs, und sei auch noch soviel andres. Mutter Möhring, die sich noch einen Augenblick im Entree zu schaffen machte, hörte noch, daß er das Streichhölzchen strich, und sah den Lichtschimmer, der gleich danach unter der Tür weg bis in das Entree fiel. Dann hörte sie, daß er sich die Stiefel mit einem raschen Ruck auszog, wie einer, der schnell ins Bett will, und keine Minute mehr, so war es wieder dunkel.

Der nächste Tag war so schön wie der vorige. Möhrings waren Frühaufs, und heute waren sie schon um sechs auf, weil sie doch nicht wissen konnten, ob ihr Mieter nicht ein Frühauf sei.

»Ich glaube nicht, daß er ein Frühauf ist«, sagte Mathilde, »aber man kann doch nicht wissen. Und in der ersten Nacht schlafen viele so unruhig.«

Es war wohl schon acht, als Mathilde das aussprach und hinzusetzte: »Du sollst sehn, Mutter, der hat einen Bärenschlaf. Um den brauchst du dir die Nacht nicht um die Ohren zu schlagen, und von Weckeraufziehn is nu schon gar keine Rede mehr. Na, mir recht. Wenn erst Winter ist, schlaf ich auch gern aus und warte lieber mit meinem Kaffee. Bloß, daß man um acht die ausgesuchten Semmeln kriegt.«

Unter diesen Worten stand sie auf und sah nach der kleinen Pendeluhr. Es war schon ein paar Minuten über halb neun. »Mutter, ich werde doch wohl klopfen müssen. Ich hatte ihn so auf neun Stunden taxiert, aber nun ist es schon zehn und eine halbe. Was meinst du?«

»Versteht sich; es kann ihm ja auch was passiert sein.«

»Gewiß, kann. Aber es wird wohl nicht.«

Um ein Uhr trat der neue Mieter bei Möhrings ein und sagte, daß er nun zu Tisch wolle; sie brauchten sich in seinem Zimmer nicht zu übereilen, er werde vor sieben nicht wieder dasein. Und wenn wer käme, möchten sie sagen, »um acht«. Damit empfahl er sich sehr artig, und als er aus dem Hause trat, sahen ihm Mutter und Tochter vom Entreefenster aus nach.

Als sie das Fenster wieder geschlossen hatten, sagte die Mutter: »Es ist eigentlich ein sehr hübscher Mensch. Ich wundre mich nur, daß er noch so ein halber Student ist. Am Ende irrst du dich doch, Thilde. Er muß doch nah an dreißig sein.«

»Ja, du hast recht, Mutter, er sieht so aus. Das macht der schwarze Vollbart, und weil er so breit ist. Aber glaube mir, er ist nicht älter als sechsundzwanzig. Und der Vollbart ist es auch nicht mal. Er ist bloß faul und hat kein Feuer im Leibe. Das sieht denn so aus, als ob einer alt wäre, bloß weil er schläfrig ist. Und sentimental ist er auch.«

»Ja, das wird er wohl«, sagte die alte Möhring, aber doch so, daß man hören konnte, sie dachte sich nichts bei »sentimental« und wollte bloß nicht widersprechen.

Eine Stunde später hatte Mathilde das Zimmer zurechtgemacht, während die Mutter sich in der Küche beschäftigte. Man war übereingekommen, sich jeder ein Setzei zu spendieren, dazu Bratkartoffeln. Als der Tisch gedeckt und zu den Bratkartoffeln ein Extra von zwei Setzeiern aufgetragen war, war auch die Tochter mit dem Zurechtmachen des Zimmers fertig, und Mutter und Tochter setzten sich.

»Bist du zufrieden, Thilde?« sagte die Alte und wies auf zwei Setzeier, die sie zu Ehren des Tages spendiert hatte.

»Ja«, sagte Thilde, »ich bin zufrieden, wenn du sie beide ißt und wenn ich sehe, daß sie dir schmecken. Denn du gönnst dir nie was, und davon magerst du auch so ab. Kartoffeln ist was ganz Gutes, aber viel Kraft gibt es nicht. So ängstlich is es ja auch gar nicht mit uns, wir haben ja das Sparkassenbuch. Ich werde dich nun wieder besser verpflegen, und wenn wir gegessen haben, gieße ich dir eine Tasse Tee auf. Er hat nicht mal seinen Zucker verbraucht und auch nicht weggepackt. Man sieht an allem, daß er ein anständiger Mensch. Aber nun nimm, Mutter.« Und sie legte der Alten vor und patschelte ihr die Hand.

»Ja, du bist gut, Thilde. Wenn du nur einen guten Mann kriegtest.«

»Ach, laß doch.«

»Ich denke immer daran. Und warum auch nicht? Wie du da vorhin vor dem Spiegel standst: von der Seite bist du ganz hübsch.«

»Ach laß doch, Mutter. Das mit dem Gemmengesicht mag ja wahr sein, und ich glaube selbst, daß es wahr ist. Aber ich kann doch nicht immer von der Seite stehn.«

»Brauchst du auch nicht. Und dann am Ende, du hast die gute Schule gehabt und die guten Zeugnisse, un wenn dein Vater länger gelebt hätte, wärst du jetzt Lehrerin, wie du's wolltest. Manche sind so sehr fürs Gebildete. Wie hast du's denn drüben bei ihm gefunden? Alles in Ordnung? alles anständig?

Ein ganz Armer kann es nicht sein. Ein ganzlederner Koffer beinah ohne Holz und Pappe; das haben immer bloß solche, die guter Leute Kind sind.«

»Ganz recht, Mutter, das stimmt. Da sind wir mal einig. Und so ist es auch mit ihm. Guter Leute Kind. Auf der Kommode lagen noch die Schnupftücher und die wollenen Strümpfe. Nun, du mußt es dir nachher ansehn, alle ganz gleich gezeichnet und auch die Strümpfe und nicht mit Wolle gezeichnet, alle mit rotem Zeichengarn. Er muß eine sehr ordentliche Mutter haben oder Schwester, denn ein andrer macht es nicht so genau. Und die Stiefel auch in Ordnung. Er muß aus einer guten Ledergegend sein, das sieht man an allem, und hat auch eine Juchtenbriefmappe, schön gepreßt, ich rieche Juchten so gern. Und die Bücher alle sehr gut eingebunden, fast zu gut, und sehen auch alle so sonntäglich aus, als ob sie nicht viel gebraucht wären, nur sein Schiller steckt voller Lesezeichen und Eselsohren. Du glaubst gar nicht, was er da alles hineingelegt hat, Briefmarkenränder und Zwirnsfaden und abgerissene Kalenderblätter. Und dann hat er englische Bücher dastehn, das heißt übersetzte, die muß er noch mehr gelesen haben, da sind so viele Ausrufungszeichen und Kaffeeflecke, und an mancher Stelle steht ›famos‹ oder ›großartig‹ oder irgend so was. Aber nu werde ich dir den Tee aufbrühen. Du hast doch noch kochend Wasser?«

»Versteht sich, kochend Wasser is immer...«

Und damit ging Thilde und kam nach einer Minute mit einem Tablett zurück. Es war dasselbe Tablett und dieselbe Teekanne, daraus der Mieter seinen Morgentee genossen hatte.

»Das ist ein rechtes Glück, daß er Tee trinkt«, sagte Thilde und goß der Mutter und dann sich selbst eine Tasse von dem Neuaufguß ein. »Kaffee, das schmeckt dann immer nach Trichter. Aber von Tee schmeckt das zweite eigentlich am besten.« Und während sie das sagte, zerbrach sie zwei Zuckerstückchen in viele kleine Teile und schob das Schälchen der Mutter hin.

»Nimm doch auch, Thilde.«

»Nein, Mutter. Ich mag nicht Zucker. Aber du bist für süß.

Und nimm nur immer ein bißchen in den Mund. Ich freue mich, wenn es dir schmeckt und wenn du wieder dick und fett wirst.«

»Ja«, lachte die Alte. »Du meinst es gut. Aber dick und fett. Gott, Thilde, wo soll das herkommen?«

Viertes Kapitel

Um sieben war Hugo Großmann zurück. Er traf Thilde im Entree. »War wer da, Fräulein?«

»Ja, ein Herr. Er kam um die fünfte Stunde. Und ich sagte ihm, daß Sie um acht wieder dasein wollten. Da wollt er wiederkommen.«

»Gut. Und hat er nicht seinen Namen gesagt?«

»Ja doch. Von Rybinski, glaub ich.«

»Ah, Rybinski. Nun, das ist gut.«

Und acht war kaum vorüber, so klingelte es auch, und Rybinski war wieder da und wurde hineingeführt.

»Guten Tag, Großmann.«

»Tag, Rybinski. Bedaure, daß du mich verfehltest. Aber nimm Platz. Nachmittags bin ich immer unterwegs.«

»Weiß«, sagte Rybinski und schob einen Stuhl an das Sofa. »Käpernick! Wird denn diese Dauerläuferei nicht mal ein Ende nehmen? Paßt doch eigentlich nicht zu dir. Du hast entschieden mehr vom Siebenschläfer als vom Landbriefträger. Also warum pendelst du zwischen Grunewald und Wilmersdorf immer hin und her? Oder hast du jetzt eine andre Pendelbewegung?«

»Muß sich erst herausstellen, Freund. Ich bin ja erst gute vierundzwanzig Stunden hier, gestern früh angekommen, hier drüben Friedrichsstraße. Gott sei Dank, daß ich wieder da bin, und auch wieder nicht. Owinsk ist ein Nest, natürlich, und wenn man aufgestanden ist, kann man auch schon wieder zu Bette gehn, und dazu die ewige Klagerei von Mutter und Schwester und keine Spur Verständnis für ein Buch oder ein Bild, und wenn ein Tanzbär auf den Markt kommt, dann ist es, als ob die Wolter gastierte... Na, das alles is nicht grade mein Geschmack. Aber ein Gutes hat solch Nest doch, man hat Muße, man kann seinen paar Gedanken nachhängen, wenn man welche hat, und die Büffelei hat ein Ende. Ach, Rybinski, das geht nun wieder los. Wie steht es denn mit dir? Wenn ich dich so ansehe mit deiner Polenmütze, nimm mir nicht übel, es sieht so 'n bißchen theaterhaft aus, und deinen Stiefeln über der Hose – du siehst mir auch nicht aus, als kommst du recte vom Repetitorium.«

»Welche feine Fühlung du hast, Großmann. Recte vom Repetitorium: nein. Aber was von recte ist auch dabei; recte vom Galgen...«

»Wie Roller?«

Rybinski nickte.

»Ach, mache keinen Unsinn, Rybinski. Was meinst du?«

»Was ich meine, davon später. Erzähle mir erst ein Wort von dir und von den Owinskern. Hast du zufällig meinen Onkel gesehn? Er kommt ja dann und wann in die Stadt, bei Pferdemarkt oder wenn er Geld braucht. Auf meinen letzten Brief hat er nicht geantwortet; es wird wohl grade Ebbe bei ihm gewesen sein. Und dein Vater? Woran starb er denn eigentlich? Er kann ja noch keine Sechzig gewesen sein. Und wie steht es mit dem Vermögen? Es hieß immer, er hätte was.«

»Ja, so heißt es immer, und wenn Gott den Schaden besieht, ist nichts da. Da war eine Kiste, so eine Art Arnheim, in seinem Bureau, die wir immer mit Respekt betrachteten, weil wir uns alle sagten, da liegt es drin. Und nun denke dir, was wir nachher gefunden haben.«

»Nun, die Hälfte.«

»Ja, proste Mahlzeit; eine Zereviskappe, ein Kommersbuch und ein Paar hohe Jagdstiefeln, gelbes Leder, genau wie wenn er sie von Wallenstein hätte.«

»War er denn ein Nimrod...? Übrigens könntest du mir erst eine Zigarre geben. Ich sah da eine kleine Kiste; sie enttäuscht mich hoffentlich nicht so wie dich die große Erbkiste. Ja, war er denn solch Jäger vor dem Herrn?«

»I Gott bewahre. Dazu war er viel zu bequem und fror immer. Er wird wohl, als er eben Burgemeister geworden war, mal eine Jagd mitgemacht haben, aber als ich so 'n halbwachsner Junge war, so kurz vorher, eh wir nach Inowroclaw aufs Gymnasium kamen, fuhr er immer bloß raus, wenn das Getafle beim Oberförster oder beim Amtsrat losging. Und einmal war es beim Torf-Inspektor, das weiß ich noch genau.«

»Und dabei war dein Vater doch eigentlich ein famoser Knopp.«

»Ja, das war er.«

»Eigentlich forscher als du.«

»Na, wie man's nehmen will. So im meisten sind wir uns gleich. Fürs Repetieren war er auch nie. Darin mögen wir uns wohl gleich sein, und als er den Referendarius hinter sich hatte, schnappte er ab und sagte: ›Zweimal fall ich durch und denn Assessor mit Ach und Krach und 800 Taler. Nein, da lieber Burgemeister in Owinsk.‹ Und verlobt war er ja auch schon lange.«

»Ja sieh, Hugo, das ist eben, was ich das Forsche nenne. Es war doch ein Entschluß, und seine Familie war doch gewiß dagegen und wollte einen Minister aus ihm backen. Unterm Minister tun's die guten Kleinstädter nicht, die bei der bekannten Glücksjagd, zu der wir uns alle geladen glauben, bloß den Kirchturm mit dem goldnen Hahn sehn und nicht wissen, wie weit es ist und wieviel Gräben unterwegs, um reinzufallen. Ich bin für die, die abspringen.«

»Du meinst so im allgemeinen, so theoretisch.«

»Nein, ganz praktisch. Du mußt mir eine Photographie von deinem Vater schenken; den seh ich mir dann an, so vorbildlich.«

»Aber Hans, du willst doch nicht auch Burgemeister werden. Und bist ja auch noch vorm Referendar; mein Vater hatte doch die halbe Quälerei hinter sich. Sie nehmen jetzt nicht all und jeden, und Referendar ist das wenigste. Und du siehst mir nicht aus, als ob du in meiner Abwesenheit und sozusagen hinter meinem Rücken den Referendar gemacht hättest und nun bloß kämst, um dich mir in deiner neuen Würde vorzustellen. Aber verzeih, ich werd uns drüben erst ein bißchen Abendbrot bestellen, was man in einer Chambre garnie so Abendbrot nennt. Ein Glück, daß die Menschen den Schweizerkäse erfunden haben. Und soll ich Tee bestellen oder Grog?«

»Im allgemeinen bin ich für das Übergehn aus dem einen in den andern, man hat das Spiel ja dabei so hübsch in der Hand, vorausgesetzt, daß einen die Flasche nicht im Stich läßt. Aber heute laß es gut sein, Hugo. Sparen wir uns das Gelage für eine große Gelegenheit.«

»Examen?«

»Das ist zu unsicher, erst an sich, das heißt, ob wir bis dahin kommen, und dann in seinem Resultat. Nein, wenn ich von Aufsparen und großer Gelegenheit spreche, so hab ich was andres im Sinn und meine meinen ersten Abend.«

»Ich kann dir nicht folgen, Hans. Es ist lächerlich zu sagen, aber du bist so mystisch; erst recte vom Galgen und die Zusage spätrer Rätsel-Lösung und nun erster Abend...«

»Ich habe doch deine Fassungskraft überschätzt, was übrigens nach Ansicht einiger eine ganz untergeordnete Gabe sein soll, vielleicht in Zusammenhang mit Logik und Mathematik. Alle Logiker verstehen gar nichts. Aber wundern muß ich mich doch. Zu was sind wir denn um den Königsplatz ungezählte Male herumgelaufen, links den Mond und rechts Kroll und die kleine F., und haben unter Verwerfung aller bisherigen Hamlet-Auffassungen einer neuen, tieferen nachgeforscht? um was habe ich meine Parallelen gezogen zwischen Amalie und Adelheid von Runeck, zwischen der Milford und der Eboli – wenn du schließlich nicht einmal verstehen willst, wenn ich von meinem ersten Abend spreche. Also rundheraus, ich spreche von meinem ersten ›Räuber‹-Abend. Kosinsky. Die Geschichte mit dem Repetitorium wurde mir zu langweilig. Und wenn man den guten Ausgang noch sicher hätte. Kurzum, ich bin zu Deichmann gegangen. Heute war die dritte Probe mit mir, Kraußneck brillant als Roller, ich denke, daß ich über kurz oder lang auch ins Charakterfach überspringe. Liebhaber ist bloß Durchgang.«

»Durchgang! Und die ›Räuber‹! Ist es möglich? Dann wird also in acht Tagen auf dem Zettel stehn: Kosinsky – Herr Rybinski. Oder willst du dein ›von‹ beibehalten?«

»Nein, man muß auch etwas für seine Familie tun. Mein ›von‹ wird gestrichen, wenigstens solange ich unberühmt bin; nachher kann ich es wieder aufnehmen.«

»Rechnest du darauf?«

»Natürlich rechne ich darauf. Jeder rechnet darauf. Garrick war ursprünglich auch von Adel. Denkst du, daß er mit der ganzen Geschichte angefangen hätte, wenn er sich nicht gesagt hätte: ›Ruhm geht über Adel‹.«

»Und das alles sagst du im Ernst?«

»In vollem Ernst. Und ich will dir auch noch mehr sagen und auch im Ernst. In ganz kurzer Zeit kommst du zu mir und sagst mir: ›Rybinski, du hast recht gehabt, den ganzen Kram an den Nagel zu hängen. Was meinst du, zu welcher Rolle paßte ich wohl? Dunois oder Karl Moor.‹ Ich sage dir, du bist der geborne Karl Moor, und wenn du deinen Arm an die Eiche bindest, oder vielleicht auch, wenn du den Alten aus dem Turm holst, du mußt großartig sein.«

»So, meinst du?«

»Du hast ganz das schwärmerisch Schwabblige, was dazugehört, und hast auch den Brustton der Überzeugung, wenn er sagt: ›Diese Uhr nahm ich dem Minister.‹ Es ist natürlich der Justizminister gewesen, und auf den wirst du bald ebenso schlecht zu sprechen sein wie ich. Ich habe die Schiffe hinter mir verbrannt. Alles im Leben ist bloß Frage der Courage.«

»Na, höre, Hans, es spielt doch noch manches andre mit.«

»Du meinst Liebe. Damit komm mir nicht. Larifari. Manche sind so verrückt, und dir trau ich schon was zu; wer soviel spazierenläuft und dieselbe Schwärmerei für Lenau wie für Zola hat (was dir beiläufig erst einer nachmachen soll), der ist zu jedem Liebesunsinn fähig. Es sieht dann auch aus wie Courage, ist aber das Gegenteil davon, bloß Schlapperei, Bequemlichkeit, Hausschlüsselfrage. Hugo, sieh dich vor. Aber soviel will ich dir schon heute sagen, wenn du dich normal entwickelst und nicht einen kolossalen Fauxpas machst und dich sozusagen normal und folgerichtig weiterentwickelst, so kommst du morgen da an, wo ich heute schon bin. Und wenn du Referendar werden solltest, was vielleicht möglich, Assessor wirst du nie. Laß doch die Einpaukerei. Alles umsonst. Ich kenne meine Pappenheimer.«

Indem klopfte es. Großmann erhob sich und ging auf die Tür zu und öffnete. Draußen stand Mathilde Möhring. Sie müsse noch in die Stadt, und weil keiner da sei außer ihrer Mutter, wolle sie nur fragen, ob Herr Großmann noch irgendwas zu Abend beföhle.

»Danke, Fräulein Mathilde. Herr von Rybinski hat alles abgelehnt. Ich gehe noch in den ›Franziskaner‹ hinüber. Wenn Sie mir vielleicht eine Flasche Sodawasser hinstellen wollen.«

Als er seinen Platz wieder eingenommen hatte, sagte Rybinski: »Dadurch wirst du dich auch nicht insinuieren. Sodawasser. Das trinkt doch bloß ein Philister.«

»Das ist erstlich noch sehr die Frage, denn es hängt viel davon ab, was man vorher getrunken hat, und dann will ich mich auch gar nicht insinuieren. Frau Möhring ist eine Philöse, und das Fräulein ist ihre Tochter. Und da insinuieren. So weit sind wir doch noch nicht runter. Und man hat seinen Lenau doch nicht umsonst intus.«

»Grade das, grade das. Lyrik schützt vor Dummheit nicht. ›Auf dem Teich, dem regungslosen, weilt des Mondes holder Glanz‹ – es braucht bloß ein bißchen Mondschein, so verklärt sich alles, und der Teich kann auch 'ne Stubendiele sein.«

»Ich begreife dich nicht, Hans. Und so ganz ohne Veranlassung.«

Final del extracto de 101 páginas

Detalles

Título
Mathilde Möhring
Autor
Año
2009
Páginas
101
No. de catálogo
V121218
ISBN (Ebook)
9783640252640
ISBN (Libro)
9783640252657
Tamaño de fichero
852 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Mathilde, Möhring
Citar trabajo
Theodor Fontane (Autor), 2009, Mathilde Möhring, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121218

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