Besprochen werden die Themenbereiche Freiheit, Beratung, Entschluss und Zurechnung, wie sie Aristoteles im dritten Buch seiner Nikomachischen Ethik erläutert. Er selbst setzte dabei Begriffe voraus, deren Übertragung und Wiedergabe sich heute oft als problematisch erweisen. In der vorliegenden Arbeit geht es sowohl um die Klärung dieser griechischen Begriffe, wie auch um ihre inhaltliche Einbettung in die aristotelische Ethik insgesamt. Die vier Themenbereiche werden neben der Grundlage des aristotelischen Textes auch unter Zuhilfenahme aktueller Publikationen erörtert. Greifbare Beispiele für die ethischen Theorien werden gegeben. - Häufig scheint es erstaunlich, wie aktuell sich die Ansichten des Aristoteles bis heute ausnehmen. Tatsächlich finden sie sich vielfach in unserem eigenen Wertekanon wieder, woran Potenzial und Zeitlosigkeit deutlich werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Freiwilliges und Unfreiwilliges
3. Entschluss und Entscheidung
4. Verantwortlichkeit und Zurechnung
5. Aristoteles und die hexis -Entstehung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Dass die Nikomachische Ethik des Aristoteles einer der bedeutendsten und weitreichendsten Texte der Philosophiegeschichte ist[1] und auch heute noch in einigen ethischen Belangen eine starke Gegenwärtigkeit besitzt, wird an zahlreichen Stellen der einschlägigen Literatur deutlich. Diese Aktualität liegt unter anderem in der Zeitlosigkeit der Fragestellungen begründet, denen sich Aristoteles zuwendet; aber nicht allein darin: auch seine Erklärungsversuche, Ergebnisse und Erkenntnisse sind nach mehr als 2300 Jahren nach wie vor gefragt. Auf diese trifft ebenfalls jene Zeitlosigkeit und damit auch Gegenwartsbezogenheit seiner Aussagen zu, die sich schon aus der Geschichtslosigkeit seiner Fragen ergibt; zwar werden auch diese von der jeweiligen Gegenwart, in der sie auftreten und rezipiert werden, geprägt, geformt und beherrscht - die Themen aber, die Aristoteles behandelt, haben eine solche Allgemeinheit zu eigen, dass sie auch für heutige Menschen und deren Wirklichkeit eine vergleichsweise hohe Relevanz besitzen. Olof Gigon bemerkt in seinem Einführungstext zur Nikomachischen Ethik zutreffend: “Ethik ist in ihrem Wesen nicht Bestätigung dessen, was der Mensch ohnehin tut und tun möchte, sondern gerade der pathetische Widerspruch dazu.”[2] Dies trifft vielleicht - ebenso mit Hinblick auf viele Fälle des heutigen Handelns - auch auf die aristotelische Ethik zu[3] ; es mag trivial erscheinen, dies hervorzuheben, die wichtigsten Gesichtspunkte der Nikomachischen Ethik sprechen in dieser Hinsicht jedoch für sich: Glück, Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit, Zurechnung, Gerechtigkeit, Beherrschtheit und Unbeherrschtheit, Lust, Freundschaft, verschiedene Lebensformen, und, nicht zu vergessen, die Tugenden des Charakters und des Geistes. Es handelt sich vollständig um Fragen des täglichen Lebens, oder besser: um Einwirkungen darauf; und auch für deren Erörterung benutzt Aristoteles Anhaltspunkte aus der Wirklichkeit des Durchschnittsmenschen; der noch für Platon äußerst bedeutsame Gegensatz zwischen herkömmlichem Meinen und Natur wird bei ihm entkräftet. “Denn was die Menschen überall und seit jeher gemeint haben, das ist gerade ein Hinweis auf das naturgemäß Richtige.”[4] Dass jedoch Aristoteles auch bei den Themenstellungen der Nikomachischen Ethik, an denen ein durchaus zeitloses allgemeines Interesse besteht, von seiner eigenen Wirklichkeit und Alltäglichkeit ausgeht, muss natürlich berücksichtigt werden; ebenso, dass er als Basis seiner Untersuchungen von der politischen Situation des klassischen Griechenlands ausgeht[5] und die Nikomachische Ethik sogar als einen Teil der politischen Wissenschaft bezeichnet[6], was uns heute als eher befremdlich anmuten mag; die historische Situation, die seine Ausführungen zumindest mitbestimmt, wenn nicht sogar entscheidend prägt, ist mitzudenken - man darf sie jedoch nicht überbewerten, denn gerade Aristoteles als äußerst begabtem und intelligentem Denker sollte eine große Fähigkeit zur Aussage zeit- und situationsunabhängiger Erkenntnisse zugesprochen werden.
Dass Aristoteles die nötigen Fähigkeiten, ja die nötige Weitsicht für die Ausarbeitung eines ernst zu nehmenden philosophischen ethischen Systems wie das der Nikomachischen Ethik besitzt, steht außer Frage; und weil er - durch diese Tatsache unterstützt - “eine Ethik im Sinn der Lehre vom guten Leben”[7] verfasst, die von ihrer Intention her also auch für das eigene praktische Leben gedacht ist, erscheint ein zeitloses, also auch ein modernes Interesse daran als fast selbstverständlich. Ein weiterer Grund für dieses bis heute bestehende Interesse ist die Vielfalt und die breite Fächerung der Themen; die Nikomachische Ethik beinhaltet nicht nur philosophiegeschichtlich und philosophisch relevantes Material, sondern auch rechtlich, soziologisch oder moraltheologisch interessante Ansätze[8] und einiges mehr; zahlreiche moderne Wissenschaftsdisziplinen können hier berücksichtigenswerte Themenstellungen und Erklärungen finden. Ein weiteres Eingehen hierauf gehört nicht zu den Aufgaben dieser Arbeit, welche auf ein bestimmtes Themenfeld der Nikomachischen Ethik referieren soll.
Die Themen der vorliegenden Arbeit sind die folgenden: Freiwilligkeit, Beratung, Entschluss und Zurechnung; es sollen also “zentrale handlungstheoretische Kategorien”[9] betrachtet werden, die Aristoteles im dritten Buch der Nikomachischen Ethik innerhalb der Unterpunkte eins bis sieben darstellt. Hierbei handelt es sich nicht um Gegenstände, die für sich allein und abgeschlossen dastehen - was verständlicherweise auch auf die Thematiken der anderen Bücher zutrifft; sie stehen stattdessen in diversen Beziehungen zu den anderen Themenbereichen der Nikomachischen Ethik und bauen teils auf diese auf; sich ein Blick auch auf die Themen der anderen Bücher zu wahren, ist daher immer empfehlenswert. Als Beispiel für eine solche Beziehung der Inhalte von Buch drei in den Abschnitten eins bis sieben zum Inhalt eines anderen Buches sei die Gerechtigkeit genannt; Aristoteles bestimmt im zweiten Buch eine wahrhaft gerechte Handlung nicht dadurch, dass die Handlung äußerlich betrachtet einer gerechten gleicht, sondern dadurch, dass “die Person in einer entsprechenden Verfassung [handelt], nämlich wissentlich und aufgrund einer prohairesis”[10], also aufgrund einer Entscheidung; diese findet dann im nächsten, hier zu behandelnden Buch eine ausführliche Betrachtung. Mit Sicherheit ließen sich noch zahlreiche solcher Verbindungen finden und darstellen, hier jedoch soll die lediglich oberflächliche Nennung dieser einen genügen; im Folgenden wird ohnehin noch ab und an eine solche erwähnt werden. Die oben genannten sieben ersten Unterpunkte des dritten Buches lassen sich passenderweise in drei thematische Abschnitte einteilen[11] ; eine Einteilung, nach der auch diese Arbeit verfahren wird: Freiwilliges und Unfreiwilliges (in dieser Arbeit Punkt 2), Entschluss und Entscheidung (Punkt 3), Verantwortlichkeit und Zurechnung (Punkt 4). Im Rahmen der folgenden drei Punkte sollen zunächst die von Aristoteles behandelten Inhalte und Probleme umrissen und diskutiert werden.
2. Freiwilliges und Unfreiwilliges
Einer der wichtigsten Begriffe in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik ist der der Tugend (aretê); zu Beginn des dritten Buches wird denn auch betont, dass, wer die Tugend erforscht, auch das Freiwillige (hekousion, hêkon) und Unfreiwillige (akousion, akôn) bestimmen müsse. Freiwillige Handlungen werden von Lob (epainos) und Tadel (psogos) getroffen; unfreiwillige Handlungen dagegen können Verzeihung[12] erlangen. Schon hier scheint die Thematik der Zurechnung gegenwärtig zu sein: ist das freiwillig Getätigte deshalb moralisch bewertbar, weil die jeweilige Person sich bei Bewusstsein dafür entschieden hat oder weil es in den Bereich der Zurechnungsfähigkeit eines Menschen gehört? Ist das Unfreiwillige deshalb entschuldbar, weil der jeweilige Mensch bei seiner Handlung nicht zurechnungsfähig war? Was kommt zuerst? Die Zurechnung oder die Freiwilligkeit? Es scheint offenkundig zu sein, dass eine Handlung freiwillig getan werden muss, damit sie dem jeweils Handelnden zugerechnet werden kann; die Freiwilligkeit also scheint die notwendige Bedingung für eine sinnvolle Zurechnung zu sein, jedoch gibt es auch Handlungen, die Menschen sich fälschlicherweise zurechnen, obwohl sie bei der Ausführung keine Freiwilligkeit besaßen - sie unterstellen also im Nachhinein eine Pseudo-Freiwilligkeit. Wie aber steht es mit Handlungen, die kausal von einem Menschen ausgehen, jedoch von diesem nicht bewusst freiwillig getan werden, sondern unter Zwang oder sogar Gewalt? Es ist zweifellos ersichtlich, dass all diese Phänomene - Freiwilliges und Unfreiwilliges, Entschluss und Zurechnung - aufs Engste miteinander verknüpft sind; wie eng und inwieweit dies der Fall ist und sinnvoll ausformuliert werden kann, stellt weitere Probleme in den Raum. Aristoteles versucht, Ordnung in die Begriffe und Phänomene zu bringen, indem er sie voneinander ‘loslöst’ und separat darstellt; er versucht sie zu systematisieren. Damit kehren wir zurück zur Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Eine wichtige Erläuterung, wie Aristoteles den Begriff des hekousion, des Begriffs also, den wir üblicherweise mit “freiwillig” übersetzen, seinem Sinn nach verstanden haben mag, findet sich bei Ursula Wolf[13]: es wird festgestellt, dass mit besagtem Begriff nicht unsere modernen Begriffe der Handlungsfreiheit oder gar der Willensfreiheit gleichgesetzt werden dürfen, sondern dass hekousion bzw. hekôn eine gravierend schwächere Bedeutung als diese haben, da Aristoteles sie auch Kindern und Tieren zuschreibt; der Sinn dürfte daher am besten getroffen sein, wenn man mit “etwas hekôn tun” “etwas gerne tun” gleichsetzt. Als Übersetzung werden deshalb auch die Ausdrücke “willentlich” und “unwillentlich” vorgeschlagen, die den schwächeren Bedeutungscharakter zum Ausdruck bringen sollen. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch die Ausdrücke “freiwillig” und “unfreiwillig” beibehalten, da sie auch in den gebräuchlichen deutschen Übersetzungen verwendet werden. Es soll nun zunächst der Begriff des Unfreiwilligen bei Aristoteles näher erläutert werden.
Unfreiwillig ist das, was entweder aufgrund von (a) Gewalt (bia), oder aufgrund von (b) Unkenntnis (agnoia) geschieht oder getan wird.
(a) Zunächst wird nun eine kurze Definition des Gewaltsamen gegeben: gewaltsam ist das, was seinen Ursprung bzw. seine Ursache außerhalb des Handelnden bzw. Erleidenden hat, so dass dieser keinen Einfluss darauf nehmen kann. Aristoteles nennt dafür folgendes Beispiel: es sei ein Schiff samt Besatzung gedacht, das durch einen Sturm irgendwohin verschlagen wird. Die Seefahrer haben in dieser Situation keinerlei Einfluss auf den sich ereignenden Vorgang, dieser vollzieht sich also für sie ganz unter Gewalteinwirkung; es handelt sich sogar um einen Vorgang, den man im Grunde gar nicht als eine Handlung bezeichnen würde; hieran wird jedoch der weitere bzw. andere Umfang des Begriffs im Griechischen deutlich, den dieser unter Umständen haben kann. Aristoteles versteht eine Handlung als eine Art von Bewegung und bei einem solchermaßen unfreiwillig ablaufenden Vorgang, wie dem gerade beschriebenen, liegt die Bewegursache eben außerhalb der betroffenen Personen bzw. der jeweils betroffenen Person[14].
[...]
[1] Dazu z.B. Olof Gigon in: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olof Gigon, dtv München, 6. Aufl. 2004, S. 53: „Die <Nikomachische Ethik> des Aristoteles ist die repräsentativste Zusammenfassung und Weiterbildung der philosophischen Ethik, so wie sie bei den Griechen durch die sogenannte Sophistik geschaffen und durch die Sokratik aufs reichste entwickelt worden ist.“
[2] Gigon, Olof, ebd., S. 65.
[3] Auch wenn es in vielen Fällen eher auf die ihrem Charakter nach populäreren, die stoischen oder epikureischen Lehren, zutreffen mag. Diese, von ihren Haltungen her zu urteilen, extremeren Ethiken haben zudem „unvergleichlich tiefer gewirkt, als die aristotelische. Ob dies für oder gegen Aristoteles spricht, dies zu entscheiden mag dem Urteil des Einzelnen überlassen bleiben.“ So Olof Gigon, ebd., S. 102.
[4] Gigon, Olof, a.a.O., S. 101. Die zentrale Bedeutung der „Natur des Menschen“ bei Aristoteles, aus der sich auch die starke empirische Ausrichtung seiner Philosophie zumindest zum Teil begründen lässt, betont auch Ursula Wolf in: Wolf, Ursula, Aristoteles’ »Nikomachische Ethik«, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2002, S. 17.
[5] Was jedoch auch als zuträglich für die Aktualität der Nikomachischen Ethik angesehen werden kann, da Aristoteles bereits von der „Einfügung in die Gemeinschaft“ als „dem zentralen Wert“ ausgeht. Er kennt zwar auch das heroisch-aristokratische Ideal der archaischen Zeit noch, dieses steht bei Platon und Aristoteles allerdings zunehmend im Hintergrund. So bei Ursula Wolf, ebd., S. 16.
[6] Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olof Gigon, dtv München, 6. Aufl. 2004, S. 106. Im Folgenden wird sich in den Zitaten - wenn nicht anders erwähnt - auf diese Ausgabe gestützt.
[7] Wolf, Ursula, a.a.O., S. 15.
[8] Wolf, Ursula, a.a.O., S. 13.
[9] Ebd., S. 116.
[10] Ebd., S. 116.
[11] Dies schlägt auch Christof Rapp im sechsten Abschnitt des Sammelbandes von Otfried Höffe (Rapp, Christof, „Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1-7)“, aus: Höffe, Otfried (Hg.), Die Nikomachische Ethik. Reihe: Klassiker Auslegen, Berlin, 2. Aufl. 2006.) vor.
[12] Aristoteles, a.a.O., S. 106.
[13] Wolf, Ursula, a.a.O., S. 117.
[14] Rapp, Christof, a.a.O., S. 111.
- Arbeit zitieren
- Hans Gebhardt (Autor:in), 2007, Aristoteles über Freiwilligkeit, Beratung, Entschluss und Zurechnung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121466
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