Volksmusik und Ideologie

Nachwirkungen aus den 1930er Jahren


Referat (Ausarbeitung), 2009

20 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhalt

1. Enthemmte Volksmusikpflege

2. Ideologie und Ideologiekritik

3. Volksmusikpflege – Ideologiepflege

4. Keine Volksmusikpflege ohne Herder, Huber & Co

5. Ideologischer Anachronismus

6. Stigmatisierung der „Anderen“

7. Erbe und Auftrag

Abstract:

Volksmusik wird in Bayern seit den 1930er Jahren öffentlich wahrnehmbar gepflegt. Nach 1945 gab es in der Volksmusikpflege keinen wirklichen Neuanfang. Einschlägige Ideologien wirken bis heute nach. Das ist vielen Volksmusik-Liebhabern und Vereinen der traditionellen Kulturpflege nicht bewusst.

1. Enthemmte Volksmusikpflege

Neben einer gut vierzigjährigen musikalischen Praxis bin ich seit etwa 30 Jahren heimatpflegerisch tätig – mehr als 20 Jahre davon in hauptamtlicher Stellung.

Durch meinen Beruf als Bezirksheimatpfleger arbeite ich mit vielen professionellen Kulturschaffenden zusammen – z. B. mit Denkmalpflegern, Architekten, Restauratoren, Kunsthandwerkern, Museumsfachleuten, Archivaren, bildenden und darstellenden Künstlern, Schriftstellern, Journalisten, Historikern, Kunstund Kulturwissenschaftlern. „Professionell“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht allein, dass die Vertreter der genannten Gruppen ihre Existenz mit ihren Berufen sichern, sondern dass es sich vor allem um entsprechend qualifiziertes Personal handelt, um Fachkräfte also, die mit der Geschichte und den Methoden ihres Faches vertraut sind und neben Motivation und Engagement auch die notwendige professionelle, sprich kritische Distanz zum eigenen Fachgebiet wa hren.

Darüber hinaus setzt sich die Klientel der Kultur - und Heimatpflege aus vielen nichtprofessionellen Kulturschaffenden zusammen – Menschen, die ein bestimmtes Kultursegment, bspw. das Laienschauspiel, die Heimatschriftstellerei, das Trachttragen oder die Volksmusik als Hobby und Ausgleich zum Beruf in ihrer Freizeit betreiben. Viele von ihnen fühlen sich daher auch kaum an irgendwelche fachliche Standards gebunden. Leidenschaft und Liebe zur Sache werden als motivierende Triebfedern angeführt. Das ist schön und gut. Doch die daraus resultierenden Ausflüge in die kulturpolitische Programmatik missglücken ohne das notwendige kulturhistorische Rüstzeug regelmäßig.

Meine Erfahrung mit dem Kulturbetrieb lässt mich auch immer wieder eines feststellen: In keinem Bereich der Kultur - und Heimatpflege werden Auseinandersetzungen so wenig fundiert geführt als in der Volksmusikpflege und in der Trachtenbewegung, und nirgendwo werden Meinungsverschiedenheiten so unsachlich und emotional ausgetragen wie ebendort.

Um ein Beispiel zu nennen, erinnere ich in diesem Zusammenhang an die ersten Ausstrahlungen der BR-Sendereihe „Wirtshausmusikanten“ in den Jahren 2006/07, in der sich sowohl Vertreter der sogenannten echten Volksmusik als auch solche der Tradimix-Szene präsentierten. Letzteres wurde von manchen Volksmusikliebhabern und Brauchtumsfreunden nicht goutiert. Die Reaktionen, die den Intendanten des

Bayerischen Rundfunks im Nachgang zu den Übertragungen erreichten, waren derart hemmungslos, dass man sich sogar im „Heimatund Trachtenboten“, dem Organ des Bayerischen Trachtenverbands, veranlasst sah, die Kritiker zu maßvollerem Umgang zu ermahnen. Wörtlich:

„Intendant Dr. Gruber persönlich, Frieda Buck von ‚Unter unserem Himmel’ und Evi Strehl als seine Mitarbeiterin in der Abteilung Volksmusik im Hörfunk – um nur drei zu nennen – haben viel getan für die gute, alte Volksmusik. Da haben sie es einfach nicht verdient, nach einer Nicht-Volksmusik-Sendung so von den Volksmusikanten öffentlich diskriminiert zu werden. So erweist man auch der lieben, guten Volksmusik einen Bärendienst ...“[1]

Obwohl die Adjektive „gut“, „alt“ und „lieb“ ungeeignet sind, das Phänomen Volksmusik zu erfassen, ist dem Aufruf zuzustimmen: Diskriminierung ist inakzeptabel.

Nicht wenige der Beiträge, die zum Thema „Wirtshausmusikanten“ in einem eigenen Internet-Diskussionsforum kursierten, waren ebenfalls teils polemisch, diskriminierend oder beleidigend auf mitwirkende „Tradimix“-Gruppen gemünzt. Diese Musik sei eine Schande, hieß es da u. a., oder man würde sich schämen, in so einer Sendung mitzuwirken, so als ob sowohl die Mitwirkung als auch die Sendung selbst etwas Unanständiges gewesen wären.[2] Man versuchte über die sogenannte echte Volksmusik und ihre vermeintlich richtige Pflege zu diskutieren, also über ein kulturelles Phänomen, doch beachtete man dabei noch nicht einmal die selbstverständlichen Formen eines kultivierten Umgangs.[3] Anders formuliert: Der unerschütterliche Glaube an eine echte Volksmusik, ein nach Statuten festgelegtes bodenständiges Gewand und saubere Haartracht garantieren nicht zwangsläufig auch kultivierte Menschen.

In diesem Zusammenhang drängen sich Fragen auf:

Erstens, gelten für einige Volksmusikanten und Trachtenträger statt der üblichen an- dere Verhaltensregeln, die es bspw. erlauben würden, gesellschaftlich normierte Umgangsformen bzw. die „guten alten Sitten“, die man so gerne im Mund führt, zu missachten und andere Menschen persönlich zu diffamieren?

Selbstverständlich nicht. Solches Verhalten disqualifiziert von vorneherein und rückt die gesamte traditionelle Kulturpflege in ein schlechtes Licht.

Auch in der Novemberausgabe von „Musik & Tradition“, dem Vereinsblatt des jungen Bairisch-Alpenländischen Volksmusikvereins e. V., der während der mehrmonatigen

„Wirtshausmusikanten“-Diskussion gegründet wurde, erschienen jüngst Verlautbarungen, in denen die Grenzen der freien Meinungsäußerung sehr weit gefasst wurden. Es werden Namen genannt, Personen gemeint und der „grenzenlosen Dum mheit“ bezichtigt.[4]

In anderen Fällen ist ebenfalls in Verbindung mit Namensnennung von „hohlen Gemeinplätzen“[5], von „dumme[m] Geschreibsl“[6] und von „Hirnrissigkeit“[7] die Rede oder man fordert gleich, bestimmte Personen zu „entsorgen“, damit in der Volksmusik wieder Ruhe einkehre[8].

Bei allem Respekt: Solche Äußerungen gehen entschieden zu weit. Außerdem bedeutet Mei nungsfreiheit nicht Meinungszwang. Man kann bei Themen, für die man nicht ausreichend qualifiziert ist und bildungsfeindlich urteilt – quasi auf der Basis eines „gesunden Volksempfindens“[9], wie dies in der Begrifflichkeit der NS-Zeit hieß – , auch seine Meinung für sich beha lten.

Meine zweite Frage lautet deshalb, was ansonsten wohl rechtschaffene Menschen dazu veranlasst, häufig dort derart stilistisch zu entgleisen, wo eine andere volksmusikpflegerische Auffassung als die eigene vertreten oder ein anderer Umgang mit Volksmusik als der eigene praktiziert wird? Fühlt man sich im Besitz der Wahrheit und deshalb im Recht unkulti viert oder ehrenrührig zu agieren?

Abgesehen davon, dass solches Verhalten weder mit vielfach vorgeschobener Volksmusikbegeisterung noch mit Heimatliebe zu rechtfertigen ist, spricht aus den hier angeführten Fällen massive Intoleranz. Letztere fußt in unserem Kontext auf I- deologie, die sich als Kulturideologie oder Heimatideologie bereits im 19. Jahrhundert artikulierte und spätestens in den 1930er Jahren ihre totalitäre Trimmung erhielt. Insofern muss man sich, wann immer die Pflege echter, bodenständiger oder traditioneller Volksmusik derartig propagiert und aggressiv vertreten wird, zwangsweise auch mit dem Ideologiebegriff auseinandersetzen.

2. Ideologie und Ideologiekritik

Der Begriff Ideologie[10] (griechisch: idea, Erscheinung, und logos, Lehre) bezeichnet eine Weltanschauung oder ein System von Wertvorstellungen. Er wird in der Wissenschaft oft als wertneutral und rein beschreibend verwendet, dient darüber hinaus aber ebenso zur kritisierenden Kennzeichnung festgefügter Weltbilder. Vor allem im alltäglichen Gebrauch wird der Begriff meistens kritisch verwendet, um auf fehlende Objektivität hinzuweisen.

In der Tradition der Aufklärung, auf die man diese Auffassung zurückführt, wurden Ideologien als „Vorurteile, mit denen die Vernunft behaftet ist“[11], verstanden; dem entspricht die Annahme, dass Ideologen starr bzw. dogmatisch an ihren Ansichten festhalten, stereotyp urteilen und einen unangemessenen Wahrheitsanspruch erheben.

Ganz wesentlich scheint die Feststellung zu sein, dass Ideologien orientierend wirken und die Wahrnehmung bestimmter sozialer Gruppen in eine gewünschte Richtung lenken (sollen). Widerspruchsfreiheit wird durch Ausblendung entgegenstehender Auffassungen, Sichtweisen, Erfahrungen und Erkenntnisse erreicht.

Weil Ideologien den Besitz der Wahrheit beanspruchen, werden zugrundeliegende Ideen für axiomatisch, d. h. absolut richtig, gehalten. Daher wird die kritische Hinterfragung derselben nicht betrieben oder abgelehnt.

Insbesondere Politik und Gesellschaft erweisen sich als ideologieanfällig, nicht zuletzt deswegen, weil sich mit Ideologien z. B. Werturteile rechtfertigen und begründen lassen.

Die kompromisslose Auslegung von Ideologien bezeichnet man mit den Begriffen Fundamentalismus und Fanatismus. Fundamentalisten versuchen die Durchsetzung ihrer Ideologie mit Mitteln des geistigen Kampfs und entsprechenden kulturpolitischen Maßnahmen oder, im Extremfall, mit kriegerischen Mitteln zu erreichen. Totalitäre Ideologien mit umfassendem Wahrheitsanspruch weisen oftmals Elemente von Mythenbildung, Geschichtsklitterung, Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung konkurrierender Vorstellungen auf. Das war im real existierenden Sozialismus nicht anders als im Nationalsozialismus.

Im Zuge der Aufklärung wurde die Abgrenzung von der Ideologie zu einem Bestandteil der Wissenschaften, die sich – im Gegensatz zur Ideologie – darum bemühen, wertfrei, neutral und intersubjektiv vorzugehen und die Gültigkeit ihrer Theorien und Hypothesen empirisch-analytisch zu überprüfen.

Die wissenschaflich gestützte Ideologiekritik geht von einer verzerrten Wahrnehmung der (gesellschaftlichen) Realität aus, sie versucht, „die Zusammenhänge zwischen den Interessenslagen von Gruppen und den von ihnen vertretenen Ideologien [aufzuzeigen]“[12] und den Zugang zu den wirklichen Verhältnissen freizulegen.

3. Volksmusikpflege – Ideologiepflege

Ausgehend von diesen Erläuterungen erweist sich die Volksmusikpflege durchaus als eine ideologische Bewegung. Hierzu einige Beispiele.

Der Erfinder der Volksliedpflege, Johann Gottfried Herder (1744-1803), forderte im Gefolge von Jean Jacques Rousseaus Aufruf „Zurück zur Natur“ wider die vermeintlichen Fehlentwicklungen seiner Zeit die „Sammlung und Kultivierung [...] unverbrauchter urwüchsiger Poesie und Musik, damit sie das zeitgenössische Schaffen von Dichtern und Komponisten befruchten könnten“[13]. Ferner sollte die Nationaldichtung, gemeint waren damit u. a. Volksgesänge, die Sitten bessern und einen neuen Vaterlandsgeist erzeugen.[14]

Mit seinen internationalen „Volksliedern“ setzte Herder 1778/79 einen Maßstab, der den Umgang mit dem Volkslied bis heute bestimmt: „Volk heißt nicht der Pöbel auf den Gassen, der singt und dichtet niemals, sondern schreit und verstümmelt.“[15]

Das heißt erstens: Die Bevölkerung repräsentiert nicht das Volk – „Volk“ war bei Herder ein ideeller Begriff; und zweitens: Nicht alles, was gesungen oder gespielt wird, ist von gleichem Wert. Herders Volksliedbegriff beruhte bekanntermaßen auf den drei Wesensmerkmalen Schönheit, Alter und allgemeine Verbreitung[16] und war ein Idealkonstrukt.

[...]


[1] Hötzelsperger, Toni: Aufgespießt. Echo der Volksmusikanten oder der Umgang mit dem Bayerischen Rundfunk. In: Heimatund Trachtenbote. Zeitschrift des Bayerischen Trachtenverbandes e. V. 73/2006, Nr. 24, S. 3.

[2] Aufzeichnung des Verfassers vom 12. Mai 2007.

[3] Sämtliche Beiträge wurden mittlerweile gelöscht.

[4] Henner, Bertl: Sei tuat’s was ... In: Musik & Tradition. Musterkofferl des Bairisch-Alpenländischen Volksmusikvereins e. V. 6/2008, S. 36 f.

[5] Brief an die SMZ-Redaktion vom 9.9.2002.

[6] „Kein Gespür für das Volksempfinden“. Lesermeinung. In: Der Bayerwaldbote. 28.8.2003.

[7] Mail vom 21.9.2003 an: Dr.Hans.Wuerdinger@bistum-passau.de.

[8] Mail an das Kulturreferat des Bezirks Niederbayern vom 11.8.2008.

[9] Vgl. Anm. 6.

[10] Zusammenfassung nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Ideologie. 31.12.2008.

[11] Ebd.

[12] http://www.socioweb.de/lexikon/lex_soz/f_j/ideologi.htm. 31.12.2008.

[13] Hartinger, Walter: Volkstanz, Volksmusikanten und Volksmusikinstrumente in der Oberpfalz zur Zeit Herders. Regensburg 1980, S. 8.

[14] Suppan, Wolfgang: Volkslied. Stuttgart 21978, S. 55.

[15] Herder, Johann Gottfried: Vorrede der Volkslieder. In: Ders.: Stimmen der Völker in Liedern [nach der Ausgabe von Johann v. Müller. Tübingen 1807]. Halle o. J., S. 69.

[16] Vgl. Klusen, Ernst: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969, S. 133 f.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Volksmusik und Ideologie
Untertitel
Nachwirkungen aus den 1930er Jahren
Veranstaltung
20. Seminar für Volksmusikforschung und -pflege
Note
"-"
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V121984
ISBN (eBook)
9783640260447
ISBN (Buch)
9783640260102
Dateigröße
403 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Volksmusik, Ideologie, Seminar, Volksmusikforschung
Arbeit zitieren
Dr., M.A. Maximilian Seefelder (Autor:in), 2009, Volksmusik und Ideologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121984

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