Mensch oder Bürger?

Rousseaus Erziehungs-Utopie unter den Aspekten Authentizität und Identität


Hausarbeit, 2006

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Begriffe & Grundlagen

III. Rousseaus Erziehungs-Utopie

IV. Vier Phasen

V. Überleitung

VI. Die Machtfrage, Teil 1

VII. Identität vs Authentizität

VIII. Die Machtfrage, Teil 2 – Eine Frage der Erziehungs-Berechtigung?

IX. Vorläufiges Fazit

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) lebte in der Epoche der sogenannten ‚Aufklärung’. Nach ihrem prominentesten Denker, Immanuel Kant, bezeichnet Aufklärung den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit [sei] das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“[1]

Was hier wie ein Punkt oder besser: ein Ausrufungszeichen am Ende eines Satzes steht, markiert zum einen tatsächlich den vorläufigen, vor allem theoretischen Höhepunkt eines bereits in der Renaissance des 15. Jahrhunderts begonnenen Prozesses. Zum anderen jedoch befand sich die praktische Umsetzung jenes als Aufklärung bezeichneten Ideals zu dieser Zeit gerade in ihren blutigen Anfängen. Der theoretische und die Praxis regelnde Rahmen hierfür wurde von der sich parallel etablierenden wissenschaftlichen Disziplin der Pädagogik gesteckt; die entsprechenden Handwerkzeuge nannten sich Erziehung und Bildung.

Mit seiner Erziehungs-Utopie Emile oder Über die Erziehung legte Rousseau gleichsam den Grundstein für diese Entwicklung, indem er die Kindheit erstmals als einen eigenständigen Lebensabschnitt (an)erkannte und sie zudem mit einer Bedeutung jenseits des bloßen Heranwachsens zur Arbeits- oder Regierungsfähigkeit versah: der Möglichkeit und Notwendigkeit des ‚positiven’ Einwirkens durch einen Erzieher.

Die historischen Rahmenbedingungen spielten auch hierbei eine entscheidende Rolle. Heftiger als in Deutschland wehte in Frankreich bereits der Wind der Veränderung; der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) – der letzte (religiöse) ‚Glaubenskrieg’ Europas – hatte dessen Völker in Armut und Chaos gestürzt. Die Auswirkungen waren noch im 18. Jahrhundert zu spüren. Nicht zuletzt deshalb stand das absolutistische Herrschaftssystem auf wackligen Beinen, die von einem notleidenden Volk sowie einem zunehmend selbstbewussten und besonders in Frankreich: radikalen Bürgertum weggerissen zu werden drohten. Rousseau selbst hielt es bereits knapp dreißig Jahre vor der Revolution für „unmöglich, daß die großen Monarchien Europas noch lange bestehen werden“[2]. Die gottgewollte Organisationsform der menschlichen Gesellschaft bzw. der gesamten ‚Natur’ stand auf dem säkularen Prüfstein; die modernen Naturwissenschaften begannen sich endgültig zu etablieren und verwandelten den Glauben an göttliche Fügung zunehmend in Wissen bzw. in Glauben an Wissen. Vor diesem Hintergrund stieg die Hoffnung auf einen fortan vernunftgeleiteten Fortgang der Menschheitsgeschichte.

Als gesellschaftliche Organisationsform schien offenbar allein ein an die antike Polis angelehnter (National-)Staat vorstellbar; im Geiste der Aufklärung nun jedoch ein Staat mündiger Bürger. Da solche Bürger seinerzeit nicht existierten und in anbetracht der, laut Rousseau: generell ‚entarteten’ Menschheit, war es nach dessen Ansicht zunächst einmal nötig, den Menschen gewissermaßen zu ‚renatuieren’, d.h. ihn in jener Lebensphase namens Kindheit naturgemäß zu erziehen. Ob solch ein naturgemäß erzogener Mensch nicht zwangsläufig in Konflikt mit seiner künftigen Rolle als Bürger bzw. der dann bürgerlichen Gesellschaft geraten müsse, ist eine Frage, die seitdem nicht nur in den Erziehungswissenschaften heiß diskutiert wird. Rousseau selbst formulierte dieses Dilemma folgendermaßen: „Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine natürliche Ursprünglichkeit bewahren will, der weiß nicht, was er will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Neigungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch noch Bürger sein. Er ist weder sich noch anderen nützlich.“[3]

Rousseaus Erziehungs-Konzept vorzustellen und die darin aufgeworfene Mensch-Bürger-Problematik zu beleuchten, soll das Anliegen dieser Arbeit sein. Zudem werde ich der aus dieser Problematik resultierenden Frage nach der menschlichen Identität nachgehen. Als Reibungsfläche werde ich hierbei Alfred Schäfers Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Portrait. aus dem Jahre 2002 hinzuziehen, in dem der Verfasser die Zwiespältigkeit des Rousseauschen Erziehungs-Konzepts anhand der darin (hypothetisch) angestrebten ‚Identität’ des natürlichen Menschen ‚mit sich selbst’ darstellt.

II. Begriffe & Grundlagen

Die Anerkennung der Kindheit als eigenständigen und sinnvollen Lebensabschnitt leitete Rousseau nicht zuletzt aus seiner Hypothese der menschlichen ‚Perfektibilität’ ab. Im Zweiten Diskurs hatte er den Menschen vom Tier dahingehend unterschieden, „daß bei den Operationen des Tieres die Natur allein alles tut, wohingegen der Mensch bei den seinen als frei Handelnder mitwirkt“[4]. Was hier zunächst nach einer Art Vorteil klingt, wurde später durch Begriffe wie ‚Imperfektheit’ oder ‚Mängelwesen’ noch in ganz andere Dimensionen katapultiert. Die entscheidende Konsequenz dieser (hier also zunächst:) graduellen und zweifellos zwiespältigen Unbestimmtheit durch die Natur besteht laut Rousseau jedoch in der „Fähigkeit, sich zu vervollkommnen; eine[r] Fähigkeit, die, mit Hilfe der Umstände, sukzessive alle anderen entwickelt und bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt“[5].

Der einzelne Mensch sowie die Menschheit seien demnach, und nicht zuletzt aufgrund jener Unangepasstheit an bzw. Unbestimmtheit durch die natürliche Umwelt, zu einer ‚positiven’ Entwicklung fähig. Die Voraussetzung einer solchen Entwicklung jedoch ist, dass nun nicht die Gesellschaft deren Rahmen absteckt und somit die das Leben der Tiere bestimmende Funktion der Natur übernimmt – ein Aspekt, der seitdem unter dem Begriff ‚Mensch-Bürger-Problematik’ diskutiert wird. Rousseau beschreibt diesen Gegensatz folgendermaßen: „Der natürliche Mensch ruht in sich. Er ist eine Einheit und ein Ganzes; er bezieht sich nur auf sich oder seinesgleichen. Als Bürger ist er nur ein Bruchteil, der vom Nenner abhängt, und dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen liegt, d.h. zum Sozialkörper. Gute soziale Einrichtungen entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur und geben ihm für seine absolute eine relative Existenz. Sie übertragen sein Ich in die Allgemeinheit, so daß sich der einzelne nicht mehr als Einheit, sondern als Glied des Ganzen fühlt und angesehen wird.“[6] Als Beispiel für diese Übertragung des Einzelnen in ein Allgemeines, in einen Sozial- bzw. Staatskörper führt er die antike Polis ins Feld. In dieser hatte jeder Bürger einen ihm zugewiesenen Platz bzw. eine ihm anerzogene Rolle eingenommen und sein Leben nach den Anforderungen dieser Rolle ausgerichtet; letztlich zum Wohle bzw. Erhalt jener Polis.

Noch heute wird der antike Stadtstaat bisweilen als Musterbeispiel einer funktionierenden (und in gewisser Weise: demokratischen) Gesellschaftsform dargestellt. Die Möglichkeit der freien Rede auf öffentlichen Plätzen, die ‚blühende Kultur’, der Schutz der Bürger durch das bereits recht ausgefeilte Rechtssytem oder die hoch entwickelte Kriegskunst, die zudem von den Staatsoberhäuptern nicht selten am besten beherrscht und obendrein an vorderster Front bewiesen wurde, dienen in der Regel als Argumente. Der ‚wissenschaftlich’ legitimierte Ausschluss von Sklaven und Frauen (kaltes Blut!) wird hierbei entweder übersehen oder aus welchen Gründen auch immer ausgeblendet. Vermutlich geht es bei solchen Darstellungen jedoch eher um das Prinzip eines überhistorischen Sachverhalts, in diesem Falle: das Ur-Bild einer funktionierenden Staatsform; und auch der jeweilige Kontext darf wohl nicht außer Acht gelassen werden.[7] Wie dem auch sei: zu Rousseaus Zeiten war die das Leben der Menschen bzw. Bürger bestimmende Verpflichtung gegenüber der Polis längst von jener gegenüber des christlichen Gottes, der ihnen in gewisser Weise auch eine Rolle – entweder als Herrscher oder Beherrschte bzw. Leibeigene – zugewiesen hatte, abgelöst worden und gerade im Begriff, sich wiederum davon abzulösen; dies freilich nicht absolut, d.h. in verschiedenen Abstufungen und Formen. Ein neuer (absoluter) ‚Götze’ war noch nicht gefunden. Die Zeichen standen also günstig für Utopien.

III. Rousseaus Erziehungs-Utopie

Rousseaus Erziehungs-Utopie, die er in seinem Epoche machenden Werk Emile oder Über die Erziehung formulierte, besteht nun in einer jener ‚natürlichen’ Vervollkommnungsfähigkeit entsprechenden Erziehung, deren Modus bzw. Umstände er anhand einer idealen Erziehungssituation beschreibt. Hierbei gäbe es drei Erzieher: die Natur, die Dinge und die Menschen. Zwar ist der Mensch in diesem Bunde der einzig kontrollierbare hinsichtlich einer (deshalb ohnhin nie) gelingenden Erziehung; unter der Prämisse, „[a]lles [sei] gut, wie es aus den Händen des Schöpfers [bzw. der Natur] kommt, alles entart[e] unter den Händen des Menschen“[8], ist er als Repräsentant der Gesellschaft jedoch gleichzeitig eine Art Störfaktor und steht einer natürlichen Erziehung zunächst einmal im Weg. Um dieses Dilemma aufzulösen, ersann Rousseau für jene ideale Erziehungssituation auch einen idealen Erzieher. Das Ideal besteht darin, dass der Zögling – ein Waisenkind – fern der Gesellschaft, also auf dem Land und von einem Erzieher, der neben dieser Aufgabe keine zweite, ja nicht einmal ein eigenes (gesellschaftliches) Leben hat, betreut bzw. bei seiner Vervollkommnung unterstützt und angeleitet wird. Hinzu kommt eine recht eigenwillige, jedoch die Kindheit in gleichsam radikaler Weise anerkennende und herausstellende Einteilung in vier Entwicklungs-Phasen, an denen sich das pädagogische Einwirken auszurichten habe.

[...]


[1] Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? (1783). zitiert in: Heinz-Elmar Tenorth: Geschichte der Erziehung. 3. völlig überarbeitete Auflage. Juventa, Weinheim/München 2000, S.78; im Folgenden: Tenorth: Geschichte der Erziehung

[2] Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung (1762). Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 1991 (13. Auflage), S.192; im Folgenden: Rousseau: Emile

[3] ebd., S.13

[4] Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über Ursprung und Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu editiert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 1984, S.99

[5] ebd. S.103

[6] Rousseau: Emile, S.12

[7] vgl. (z.B.) Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Suhrkamp, Berlin 1997, S.39-110

[8] Rousseau: Emile, S.9

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Mensch oder Bürger?
Untertitel
Rousseaus Erziehungs-Utopie unter den Aspekten Authentizität und Identität
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Erziehungswissenschaften/Abteilung Historische Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Pädagogische Theorien im historischen Kontext des 18. Jahrhunderts
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
20
Katalognummer
V122222
ISBN (eBook)
9783640270682
ISBN (Buch)
9783640270842
Dateigröße
441 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jean-Jacques Rousseau, Erziehungstheorie, Identität, Authentizität
Arbeit zitieren
Mike Schmidt (Autor:in), 2006, Mensch oder Bürger?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122222

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