Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks. Der Verfall einer Familie.“ zählt zu den größten
Werken der deutschen Literaturgeschichte. Kaum ein anderes schriftstellerisches Werk
bestimmt den Kanon der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts so nachdrücklich wie das
epochale Werk Thomas Manns, das in einzigartiger Weise die Geschichte des vorletzten
Jahrhunderts reflektiert und prägte.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es sich bei diesem Roman nicht nur um eine
Familiengeschichte handelt, die die Topographie Lübecks und die Sozialhistorie der
Jahrhundertwende(19. Jh. zum 20. Jh.) aufgreift, sondern unter Einbeziehung einer so
genannten Zivilisationskrankheit den Zeitgeist und die Empfindungen der Menschen des Fin-de-Siécle widerspiegelt. Diese Krankheit, die sich als Phänomen von der letzten Hälfte des
19. Jahrhunderts bis zum Beginn des I. Weltkrieges deuten lässt, wird als Neurasthenie
bezeichnet.
Im heutigen Konversationslexikon steht der Begriff Neurasthenie für Nervenschwäche. Er ist
ein Sammelbegriff für mehrere organisch nicht fassbare Symptome, wie Kopfschmerzen,
Ermüdung, Reizbarkeit. Diese Symptome sind sowohl Folge körperlicher als auch geistiger
Überforderung. In der heutigen Zeit bezeichnet man diese Krankheit als vegetative Dystonie.
Doch in welchem Zusammenhang steht die Neurasthenie mit Thomas Manns Buddenbrooks?
In der Literaturwissenschaft ist es eindeutig bewiesen, dass die beschriebenen
Krankheitsgeschichten der Figuren aus dem Roman sich wie ein Leitfaden der
Neurasthenieentwicklung lesen lassen. Im Einzelnen möchte ich hierbei auf Thomas und
Christian Buddenbrook eingehen, da die beiden Brüder sehr exemplarisch zeigen, inwiefern
die Nervenschwäche den Alltag beeinflusst sowie ihre Auswirkungen im Zusammenhang mit
dem Verfall der Familie Buddenbrook. Doch im Vorfeld wird erst einmal die Bedeutung und
Betrachtung der Neurasthenie im 19. Jahrhundert geklärt. Darüber hinaus ist die Entwicklung
im Zusammenhang mit der Degeneration der Nerven und der Dekadenz-Lehre mit
einzubeziehen. Anhand der beiden oben genannten Buddenbrooks soll dies im Einzelnen
unter Berücksichtigung der Symptomatik der Neurasthenie dargelegt werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Neurasthenie im Blick des 19. Jahrhunderts
2.1 Definition des Begriffs der Neurasthenie
2.2 Entwicklung
2.3 Dekadenz und Neurasthenie
3. Textanalyse
3.1 Zusammenhang zu den Buddenbrooks
3.2 Thomas Buddenbrook
3.3 Christian Buddenbrook
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
5.1 Quelle
5.2 Darstellungen
5.3 Internet
1. Einleitung
Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks. Der Verfall einer Familie.“ zählt zu den größten Werken der deutschen Literaturgeschichte. Kaum ein anderes schriftstellerisches Werk bestimmt den Kanon der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts so nachdrücklich wie das epochale Werk Thomas Manns, das in einzigartiger Weise die Geschichte des vorletzten Jahrhunderts reflektiert und prägte.[1]
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es sich bei diesem Roman nicht nur um eine Familiengeschichte handelt, die die Topographie Lübecks und die Sozialhistorie der Jahrhundertwende(19. Jh. zum 20. Jh.) aufgreift, sondern unter Einbeziehung einer so genannten Zivilisationskrankheit den Zeitgeist und die Empfindungen der Menschen des Fin-de-Siécle widerspiegelt. Diese Krankheit, die sich als Phänomen von der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des I. Weltkrieges deuten lässt, wird als Neurasthenie bezeichnet.
Im heutigen Konversationslexikon steht der Begriff Neurasthenie für Nervenschwäche. Er ist ein Sammelbegriff für mehrere organisch nicht fassbare Symptome, wie Kopfschmerzen, Ermüdung, Reizbarkeit. Diese Symptome sind sowohl Folge körperlicher als auch geistiger Überforderung. In der heutigen Zeit bezeichnet man diese Krankheit als vegetative Dystonie.[2]
Doch in welchem Zusammenhang steht die Neurasthenie mit Thomas Manns Buddenbrooks?
In der Literaturwissenschaft ist es eindeutig bewiesen, dass die beschriebenen Krankheitsgeschichten der Figuren aus dem Roman sich wie ein Leitfaden der Neurasthenieentwicklung lesen lassen[3]. Im Einzelnen möchte ich hierbei auf Thomas und Christian Buddenbrook eingehen, da die beiden Brüder sehr exemplarisch zeigen, inwiefern die Nervenschwäche den Alltag beeinflusst sowie ihre Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Verfall der Familie Buddenbrook. Doch im Vorfeld wird erst einmal die Bedeutung und Betrachtung der Neurasthenie im 19. Jahrhundert geklärt. Darüber hinaus ist die Entwicklung im Zusammenhang mit der Degeneration der Nerven und der Dekadenz-Lehre mit einzubeziehen. Anhand der beiden oben genannten Buddenbrooks soll dies im Einzelnen unter Berücksichtigung der Symptomatik der Neurasthenie dargelegt werden.
2. Neurasthenie im Blick des 19. Jahrhunderts
2.1 Definition des Begriffs der Neurasthenie
Für die Definition dieser Krankheit, die von vielen auch als die Zivilisationskrankheit des Fin-de-Siécle bezeichnet wird[4], ziehe ich, ähnlich wie Thomas Mann, Meyers Konversations-Lexikon (1888) heran.[5] Dieser Artikel beschreibt die Neurasthenie aufs Genaueste. So sind anfangs die Intellektuellen betroffen, die vom Leben in der Großstadt „geschwächt“ werden. Aber nicht nur diese sind an der Neurasthenie erkrankt, sondern auch ein Großteil der Arbeiter.
“[…] Bei der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Symptome sei hier an einem Beispiel dargethan, wie bei einem ehrgeizigen Mann die N. aus Überanstrengung sich zu entwickeln pflegt: Im besten Mannesalter stehend, bisher gesund und kräftig, hat er zehn Stunden und darüber angestrengt arbeiten können, ohne an Frische dabei einzubüßen. Unter dem Einfluß einer Gemütsaufregung fühlt er sich plötzlich bei der Arbeit unruhig und zerstreut, zeitweise schwinden die Gedanken, indessen rafft er sie zusammen und arbeitet weiter, bis er wiederum von Aufregung und Angstgefühl befallen wird […].“
Anfänglich lässt sich dieser Zustand der Schwäche noch bekämpfen, doch mit der Zeit führt die gedankliche Auseinandersetzung über den krankhaften Zustand zur Arbeitsunfähigkeit. Des Weiteren kommt es zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Der Erkrankte fühlt eine immer größer werdende Angst aufkommen, die ihm die Brust zusammenschnürt. Auch ein Ekel vor dem Essen sowie stärkere Magen-Darm-Probleme sind damit verbunden.
„[…]Die Gemütsverstimmung kann sich zur Hypochondrie... und zu voller Schwermut steigern. Alle diese Symptome hängen vom Gehirn ab (cerebrale Neurasthenie). Das Herzklopfen, Blutwallungen und rasch folgende Blässe, übertriebene [...] Schweiß- und Speichelsekretion deuten auf Störungen im sympathischen Nervengeflecht hin. Daran schließt sich zuweilen als drittes Glied eine Reihe von krankhaften Störungen des Rückenmarks (spinale Neurasthenie), schnelles Ermüden von Arm und Beinen, Zittern der Hände beim Ausstrecken mit gespreizten Fingern (Tremor), krampfartige Muskelzuckungen und ein Gefühl von unaufhörlichen oder zeitweise aussetzenden schlatternden Bewegungen. Störungen der Empfindung äußern sich in Taubsein, Eingeschlafensein oder Ameisenlaufen, besonders in den Füßen, Schmerzen in der Wirbelsäule, welche im Verlauf der Nerven auf die Extremitäten ausstrahlen. Zuweilen ist die sexuelle Erregbarkeit gesteigert (Satyriasis), zuweilen erloschen (Azoospermie) […].“
Der Begriff der Neurasthenie umfasst also eine Reihe unspezifischer Symptome, die sich in zwei Hauptformen untergliedern lassen:
Bei der ersten Form handelt es sich vermehrt um Müdigkeit nach geistiger Anstrengung, die zur Verminderung der Effektivität bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und abnehmende Arbeitsleistung zur Folge hat. Von den Betroffenen wird sie als Konzentrationsschwäche und unangenehmes Eindringen ablenkender Assoziationen oder Erinnerungen beschrieben. Die zweite Form legt den Fokus auf die körperliche Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung. Im Vordergrund steht hier das Empfinden der Unfähigkeit, sich zu entspannen, begleitet von muskulären und anderen Schmerzen.
Beiden Formen sind eine Reihe weiterer unangenehmer körperlicher Empfindungen gemein wie: Schwindel, Spannung, Kopfschmerzen, Gefühl allgemeiner Unsicherheit, Reizbarkeit, Freudlosigkeit, Schlafstörungen, Zwangsvorstellungen, verschiedenen Graden von Depression und Angst.
2.2 Entwicklung
Einen Zusammenhang zwischen den Nerven und einer Krankheit kam zur Zeit der Aufklärung auf, als die Menschen über das bürgerliche Ich anfingen nachzudenken. Die „Psychologen“ dieser Zeit suchten eine „körperliche Basis für seelische Zustände“[6], dabei trafen sie auf das Nervensystem. Darin sollte der physiologische Grund für das Denken und Fühlen liegen.
Mit der fortlaufenden Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung der Alltagswelt veränderte sich auch das Denken und Fühlen der Menschen. Der Faktor Zeit, unter dem Begriff Hektik besser greifbar, geriet dabei immer mehr in den Mittelpunkt.[7] Diese Entwicklung musste ihre Folgen haben, die sich gerade am Ende des 19. Jh. deutlich bemerkbar machte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich in der Medizin, somit auch in der Psychiatrie, eine „besondere Schule“ durch, die der körperorientierten Somatiker und mit ihnen die Nerven. Sie konnten mit wissenschaftlichen Versuchen die eigentliche Beschaffenheit der Nerven nicht beweisen, so dass eine so genannte black box entstand, die nun viel Raum für Spekulationen und Annahmen bot. Folglich konnte dann um so einen Ort viel Literatur entstehen.[8]
Auguste Bénédict Morel, ein französischer Psychiater, brachte 1857 sein Buch über die Degeneration heraus, das größere Folgen nach sich zog, als es gedacht war.[9] Er behauptet, dass der „Vorgang fortschreitender erblicher Abweichung vom gesunden Normaltyp – gut beobachtbar in keimgeschädigten menschlichen Familien […] im Zuge von vier Generationen“[10] geschieht. Bei Morel steht der Begriff der Entartung im engen Zusammenhang mit der Krankheit, sie ist nach seiner Definition nicht heilbar, wird vererbt und steigert sich von Generation zu Generation.[11]
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hielt die Elektrizitätslehre Einzug in den psychiatrisch-medizinischen Diskurs. Damit wurde ein neues Paradigma, die Neurologie, geschaffen. Hierbei besteht ein Zusammenhang zwischen der Elektrifizierung der Großstadt und der "elektrifizierenden" Interpretation des Nervensystems. Diese Verknüpfung führte dann zur "Entdeckung" des neuen Krankheitsbildes "Neurasthenie". George Miller Beard formulierte als erster 1881 eine Theorie über diese Namensschöpfung als eigenständige Krankheitseinheit. Anfangs galt seine Beschreibung der Krankheit als ein Phänomen der amerikanischen Gesellschaft. Doch in Kürze eroberte der Diagnose-Begriff das alte Europa, insbesondere auch Deutschland.
Der Amerikaner lokalisierte verschiedene Krankheitssymptome im Nervensystem und fasste das Krankheitsbild unter dem neuen Begriff zusammen.
Seine Patienten hatten nicht klare Symptome, sondern sie klagten über „eine Vielzahl von vagen Beschwerden“ (Müdigkeit, diffuse Schmerzen, Schwindel oder sexuelle Funktionsstörungen)[12], die eine einzige zugrunde liegende Krankheit hatten, eine „Verarmung der Nervenkraft“, die Neurasthenie.
Hervorgerufen wurden diese Symptome nach der Theorie Beards durch den Faktor moderne Civilisation, insbesondere durch die Begleiterscheinungen einer Industrienation[13]. Damit wurde erstmalig das Krankheitsbild einer Zivilisationskrankheit als eigenständiges und spezifisches wahrgenommen. Die sich ändernde bildungsbürgerliche Selbstwahrnehmung hat hier ein sichtbares Zeichen hinterlassen, da das Bürgertum sich zu diesem Zeitpunkt (1880 bis ca. 1895) in einer Krise befunden habe, die Zweifel an der industrialisierten Gesellschaft aufkommen ließ[14]. Beards Theorien wurden auch in Deutschland rezipiert und weiterentwickelt, Nervenärzte wie Paul Julius Möbius (1886) und Otto Binswanger (1896) nahmen die Debatte über die Neurasthenie auf. Sie prägten neben Rudolph von Hösslin (1893) und Franz Carl Müllers (1893) das Bild der Neurasthenie von medizinischer Seite. Abhandlungen über die Diagnostik, dem Wesen, der Symptome und der Vererbung dieser Krankheit standen bei ihnen im Mittelpunkt.
[...]
[1] Vogt, Jochen: Thomas Mann, „Buddenbrooks“. 2., revidierte und ergänzte Aufl. München: Fink 1995 (Uni-Taschenbücher 1074), S. 8.
[2] Brockhaus, 1986.
[3] Koopmann Helmut: Krankheiten der Jahrhundertwende im Frühwerk Thomas Manns. In: Thomas Sprecher (Hrsg.): Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (1890-1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt a.M.: Klostermann 2002 (Thomas Mann Studien. 26), S. 120.
[4] Roelcke Joachim: Psychiatrische Kulturkritik um 1900 und Umrisse ihrer Rezeption im Frühwerk Thomas Manns. In: Thomas Sprecher (Hrsg.): Literatur und Krankheit im Fin-de-Siécle (1890-1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt a.M.: Klostermann 2002 (Thomas Mann Studien. 26), S. 96.
[5] www.susi.e-technik.uni-ulm.de:8080/meyers/servlet/index.
[6] Dierks, Manfred: Buddenbrooks als europäischer Nervenroman. – In: Thomas-Mann-Jahrbuch 15 (2002), S. 136.
[7] Radkau, Neugier der Nerven. Thomas Mann als Interpret des „nervösen Zeitalters“. In: Thomas Mann-Jahrbuch 9 (1996), S. 29: „Es war die Zeit, als Nietzsche klagte, die „atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der Neuen Welt –“ beginne „bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen.“
[8] Cf. Dierks: Europäischer Nervenroman, S. 137.
[9] Ebd., Seite 137.
[10] Ebd., Seite 138.
[11] Cf. Koopmann: Krankheiten der Jahrhundertwende, S. 123
[12] Cf. Roel>
[13] Ebd., S. 103.
[14] Ebd., S. 100f.
- Arbeit zitieren
- Sascha Engels (Autor:in), 2004, Darstellung und Funktion der Neurasthenie in Thomas Manns "Buddenbrooks", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122902
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