Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einführung
2 Die Finanzierung der Krankenversicherung
2.1 Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
2.2 Finanzierung der privaten Krankenversicherung (PKV)
3 Finanzierungsproblem, dessen Ursachen und darauf aufbauende Reformansätze
3.1 Finanzierungsproblem
3.2 Ursachen des Finanzierungsproblems
3.1.1 Demografischer Wandel
3.1.2 Medizinisch-technischer Fortschritt
3.1.3 Steigende Personalkosten
3.1.4 Leistungsausweitungen
3.1.5 Einnahmenrückgänge
3.3 Reformansätze
3.2.1 Bürgerversicherung
3.2.2 Bürgerpauschale
3.2.3 Gesundheitsprämie
3.2.4 Dynamisierung des Bundeszuschusses
3.2.5 Regionale Differenzierung
3.2.6 Integrierte Versorgungsverträge
3.2.7 Weitere Vorschläge
4 Gesamtabwägung
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Zusammenfassung
Der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird ein Finanzierungsproblem attestiert, das im vorliegenden Beitrag genauer untersucht wird. Nach einer groben Darstellung der Finanzierungsstruktur von GKV und privater Krankenversicherung (PKV) wird quantifiziert, wie sich die Einnahmen der GKV relativ zu ihren Ausgaben entwickeln. Es wird herausgearbeitet, dass der demografische Wandel neben dem medizinisch-technischem Fortschritt einen der wesentlichen Ausgabentreiber der GKV darstellt. Gleichwohl wird auf andere, weniger gravierende Ursachen wie bspw. steigende Personal- und Verwaltungsausgaben oder gesetzliche Leistungsausweitungen eingegangen. Es folgt die Vorstellung wesentlich kursierender Reformansätze, sowohl im konkreten Bezug zur Einnahmenseite, jedoch auch mit Blick auf die Einrichtung einer regional vernetzten Versorgungsstruktur, d.h. Neureglungen der Leistungs- und Ausgabenseite. Darauf aufbauend werden die Reformvorschläge insb. im Hinblick auf die Vor- und Nachteile einer nachhaltigen Finanzierung betreffend analysiert. Es wird auf die Ursachen des Finanzierungsproblems rekurriert. Das Fazit betont die Dringlichkeit einer umfassenden Veränderung, wobei es die perfekte Lösung nie geben wird und man sich demnach auf Kompromisse einstellen muss.
Diese Arbeit beschäftigt sich folglich mit der Analyse bestehender Reformansätze zur Finanzierung des deutschen Krankenversicherungssystems in Bezug auf deren Potenzial zur Bekämpfung der Ursachen des vorhandenen Finanzierungsproblems.
Zeichenzahl der Arbeit: 39.998
Abstract
The statutory health insurance is said to have a financing problem, which is examined in more detail in this article. After a rough description of the financing structure of the statutory and the private health insurance, it is quantified how the revenues of the statutory health insurance develop relative to its expenditures. It is shown that the demographic change, along with advances in medical technology, is one of the main drivers of the statutory health insurance expenditures. At the same time, other less serious causes, such as rising personnel expenditures or statutory benefit expansions, are discussed. This is followed by a presentation of the main approaches to reform that are currently in circulation, both regarding the revenue side and to the establishment of a regionally networked health care structure, i.e., reforms of the benefits and expenditures side. Based on this, the reform proposals are analyzed, particularly their advantages and disadvantages in terms of sustainable financing. The causes of the financing problem are addressed. The conclusion reiterates the urgency of a comprehensive reform, although the perfect solution will never exist, and compromises will have to be made.
This paper thus analyzes existing reform approaches to financing the German health insurance system in terms of their potential to address the causes of the existing financing problem.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: GKV Gesundheitsfonds ab 01.01.2022
Abb. 2: GKV Einnahmen- und Ausgabenentwicklung (2012 - 2020) in Mrd. €
Abb. 3: Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds (2010 - 2022) in Mrd. €
Abb. 4: Bevölkerungsstand in Deutschland (1950 - 2060) in Mio.
Abb. 5: Leistungsausgaben ohne Krankengeld je Versichertentag in € nach Alter (Männer; 2013 - 2019)
Abb. 6: Leistungsausgaben ohne Krankengeld je Versichertentag in € nach Alter (Frauen; 2013 - 2019)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einführung
„Krankenkassen schreiben das höchste Defizit seit 2003“ lautete die Schlagzeile in der Tageszeitung „Frankfurter Allgemeine“ vom 19.02.2021 (Geinitz, 2021), die die Auswirkungen der vergangenen zwei, von der weltweit wütenden Corona-Pandemie geprägten Jahre erahnen lässt. Der Ausnahmezustand mit Abstandsregeln, Lockdowns und ausgelasteten Intensivstationen hinterlässt weitreichende Spuren. So kostet die stationäre Behandlung einer COVID-19-Erkrankung bei Beatmung mit einer Ecmo-Maschine im Schnitt 92.000 € (Álvarez, 2021), was bei bisher insgesamt 156.603 intensivmedizinisch versorgten Patienten (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, 2022; Stand: 07.01.2022) einen enormen Finanzierungsbedarf zur Folge hat. Dank seines weltweit einzigartigen, dualen Gesundheitssystems mit gesetzlicher und privater Krankenversicherung, das „im internationalen Vergleich einen sehr guten Ruf“ genießt (Dienst für Gesellschaftspolitik (dfg), 2021, S.2), meistert Deutschland die Krise im Vergleich zu anderen Ländern gut. Gleichwohl führte diese enorme Ausgabenbelastung für die Patientenversorgung im vergangenem Jahr mit rund 2,6 Mrd. € (Bundesgesundheitsministerium (BMG), 2021a) zum höchsten Defizit innerhalb der GKV seit langem und zeigt „uns die Verletzlichkeit unseres Gesundheitswesens“ (SPD et al., 2021, S. 80). Die Anzahl der Vollversicherten in der PKV sowie Beihilfeempfängern macht in Deutschland mit 10,7% zwar einen kleinen Teil der Versicherten aus (dfg, 2021, S. 3), dennoch ist auch die PKV ein Bestandteil des zweisäuligen Krankenversicherungssystems.
Doch wie finanzieren sich diese beiden Systeme, wodurch kommt es zum Finanzierungsproblem und welche Reformansätze bestehen diesbezüglich? Auf diese Fragestellungen versucht die Abschlussarbeit Antworten zu liefern. Zum Zwecke der Untersuchung erfolgt eine eingehende Auseinandersetzung mit den jüngsten Zahlen im Zusammenhang mit der Finanzierung des Krankenversicherungssystems und ihren zukünftigen Auswirkungen. Es wird auf den Bedarf einer auch von der Ampel-Koalition angestrebten regionalen, vernetzten Versorgungsstruktur (vgl. SPD et al., 2021, S.80, 83 ff.) eingegangen. Zudem werden bestehende Reformansätze auf ihre Praktikabilität in Bezug auf die Optimierung der Ausgaben-, Leistungs- sowie Einnahmenseite beleuchtet.
2 Die Finanzierung der Krankenversicherung
2.1 Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Innerhalb der Finanzierung der GKV lässt sich die Einnahmen- und Ausgabenseite unterscheiden. Erstere setzt sich primär als Ausdruck des Solidaritätsprinzips (Preusker, 2020, S. 570) aus den Beiträgen ihrer Mitglieder bemessen an einem einheitlichen Beitragssatz (14,6 %, § 241 Sozialgesetzbuch V (SGB V); ermäßigter Satz: 14 %, § 243 SGB V) auf die beitragspflichtigen Einnahmen zusammen. Diese werden paritätisch auf Arbeitgeber und -nehmer verteilt, was seit 2019 durch die Einführung des Versichertenentlastungsgesetzes auch für die darüber hinaus bestehenden kassenindividuellen Zusatzbeiträge gilt. Letztere werden erhoben, wenn die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die einzelnen Krankenkassen nicht zur Deckung der voraussichtlichen Ausgaben ausreichen, § 242 SGB V. Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz liegt derzeit bei 1,3 % (BMG, 2021b). Sowohl bei pflicht- als auch bei freiwillig Versicherten werden die Einkünfte insgesamt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 4.837,50 €/Monat (BMG, 2021b) berücksichtigt. Ferner fördern ein jährlicher Bundeszuschuss aus Steuermitteln (gesetzlich festgeschrieben auf 14,5 Mrd. €, § 221 I SGB V) zur pauschalen Abgeltung versicherungsfremder Leistungen sowie Beiträge der Bundesagentur für Arbeit, der Rentenversicherung und der Minijobzentrale die Einnahmenseite der GKV, wie Abb.1 veranschaulicht.
Abb. 1 : GKV Gesundheitsfonds ab 01.01.2022
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Verband der Ersatzkassen (vdek) (2021a).
Mit Ausnahme der Zusatzbeiträge, die direkt den Krankenkassen zugeschrieben werden, fließen alle Einnahmen in den Gesundheitsfonds. Die Funktionsweise dieses Gesundheitsfonds zeigt Abb. 1. Die Verteilung der Gelder an die einzelnen Krankenkassen richtet sich nach der Mitgliederanzahl der Kassen und setzt sich aus diversen Faktoren wie bspw. alters- und geschlechtsadjustierenden Zu- und Abschlägen zusammen. 2009 wurde dieser Risikostrukturausgleich (RSA) weiterentwickelt zum morbiditätsorientierten RSA (Morbi-RSA), wonach die Höhe der Zuweisungen zudem an der Morbiditätslast des Versicherungskollektivs bemessen wird. Kassen, die mehr chronisch Kranke versorgen, erhalten höhere Beträge (s. Abb. 1). Mit Inkrafttreten des Gesetzes für einen fairen Kassenwettbewerb in der GKV (GKV-FKG) 2020 wurde der Morbi-RSA um eine Regionalkomponente erweitert. Auf der Ausgabenseite gibt es diverse Leistungen, die die Krankenkassen bezahlen, wie z.B. Krankenhausaufenthalte, ärztliche Behandlungen, Arzneimittel, Präventionsmaßnahmen und Krankengeld. Eine Versicherungspflicht besteht bis zur Versicherungspflichtgrenze von derzeit 5.362,50 €/Monat. Wenn diese überschritten wird, kann man wählen, ob man bei der GKV versichert bleibt oder zur PKV wechselt (BMG, 2021c).
2.2 Finanzierung der privaten Krankenversicherung (PKV)
Das wesentliche Strukturmerkmal der Finanzierung der PKV ist das Äquivalenzprinzip, d.h. die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung (Preusker, 2020, S. 1). Es wird das individuelle Versicherungsrisiko des Versicherten kalkuliert und darauf aufbauend die Höhe der zu zahlenden Prämie festgesetzt. Dies erfolgt mit Blick auf Kriterien wie bspw. Vorerkrankungen, Eintrittsalter und Geschlecht (Preusker, 2020, S. 360). Mithin werden - anders als bei der GKV mit einkommensabhängigen Beiträgen - einkommensunabhängige absolute Prämien erhoben. Die Leistungsgewährung erfolgt nach dem Kostenerstattungsprinzip, als Gegenstück zum Sachleistungsprinzip der GKV, sodass es zu Anreizen bei der Leistungsausweitung kommt (Matusiewicz, 2018, S.197). Die Finanzierung basiert auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Es wird die Äquivalenz von Prämie und Risiko über den Lebenszyklus angestrebt. Demnach werden in jungen Jahren von den Versicherten Altersrückstellungen aufgebaut, die auf dem Kapitalmarkt angelegt werden, um steigende Gesundheitskosten im Alter finanzieren zu können (Preusker, 2020, S. 13). Die Ablehnung einer Übernahme in die PKV muss zwar nicht begründet werden, allerdings besteht die Pflicht zur Aufnahme von Antragstellern in den Basistarif, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Kontrahierungszwang; Simon, 2017, S. 133). Der Basistarif der PKV wurde 2009 eingeführt, wobei die Höhe in der ganzen Branche identisch ist und auf den Höchstbetrag der GKV limitiert ist. Er muss nach Art, Umfang und Größe mit den Leistungen der GKV vergleichbar sein (§ 193 V Versicherungsvertragsgesetz (VVG)). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer Beihilfe als finanzielle staatliche Unterstützung in z.B. Geburts-, Pflege- und Todesfällen für Beamte und bestimmte Angestellte des öffentlichen Dienstes sowie deren Kinder und Ehepartner, soweit diese nicht selbst sozialversicherungspflichtig sind. Die Leistung erfolgt durch den Dienstherrn (Bund, Land, Kommune) als Zuschuss, wobei sich der Beitragssatz nach der berücksichtigungsfähigen Person richtet; bspw. Beamte erhalten 50 % Beihilfesatz (PKV, o.D.).
3 Finanzierungsproblem, dessen Ursachen und darauf aufbauende Reformansätze
3.1 Finanzierungsproblem
Obwohl sich die Gesamtausgaben der GKV relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) über die vergangenen zehn Jahre mit einem Anteil von 11 - 12 % weitestgehend konstant entwickelten (Statistisches Bundesamt, 2021), hatte die GKV die vergangenen zwei Jahre Defizite in Milliardenhöhe zu verzeichnen. Die Differenz aus GKV-Einnahmen und GKV-Ausgaben ergibt im Jahr 2019 ein Minus von 1,6 Mrd. € und im Jahr 2020 2,6Mrd.€ (vgl. Abb. 2).
Abb. 2 : GKV Einnahmen- und Ausgabenentwicklung (2012 - 2020) in Mrd. €
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an BMG (2021a).
Eine Analyse des Instituts für Gesundheit und Sozialforschung prognostiziert bis zum Jahr 2025 den gesetzlichen Krankenkassen einen Fehlbetrag von 27,3 Mrd. € (Fiedler, 2021). Im Grundsatz basiert das Finanzierungsproblem auf zu hohen Ausgabensteigerungen i.V.m. zu geringen Einnahmensteigerungen. Oberender spricht von einer Ausweitung der „Schere zwischen Einkommens- und GKV-Ausgabenentwicklung“ (2017, S. 51), da der durchschnittliche Ausgabenzuwachs seit 2009 bei 4,0% gegenüber einer 3,5 %igen Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen liegt (Albrecht & Ochmann, 2021, S. 4). Bislang verfügten die Krankenkassen über hohe Finanzreserven, um Defizite auszugleichen. Die Finanzierungslücken wurden zudem neben zwischenzeitlichen Beitragsanhebungen durch einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss versucht möglichst gering zu halten. Dieser ist zwar gesetzlich auf 14,5 Mrd. € festgesetzt, allerdings die vergangenen Jahre stark schwankend (s. Abb. 3). Grund ist, dass der Gesetzgeber die durchschnittlichen Zusatzbeiträge nicht in die Höhe treiben will, um die „magische 40 %-Grenze“ für Sozialabgaben („Sozialgarantie 2021“) einhalten zu können (Deutscher Bundestag (BT), 2021, S. 6).
Abb. 3 : Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds (2010 - 2022) in Mrd. €
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an vdek (2021b); BT (2021, S. 1).
Auch für das Jahr 2022 ergibt sich insb. durch die Covid-19-Pandemie i.V.m. der dadurch ausgelösten Rezession ein veränderter Finanzbedarf. Ohne zusätzliche Finanzmittel des Bundes wären erhebliche Zusatzbeitragssteigerungen zu erwarten. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag könnte sich bis 2025 um 1,6 % auf 2,9% erhöhen (Fiedler, 2021). Zudem würden die Lohnnebenkosten für die Wirtschaft steigen. Daher wird der Bundeszuschuss für 2022 erneut erhöht, und zwar auf 28,5 Mrd. €. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag zur GKV soll im Jahr 2022 bei 1,3 % stabilisiert werden und damit zur schnellen Erholung der Ökonomie beitragen (BT, 2021, S. 1 f.).
3.2 Ursachen des Finanzierungsproblems
3.1.1 Demografischer Wandel
Der demografische Wandel ist durch zwei Tendenzen gekennzeichnet, die in Kombination zu einer „doppelten Alterung“ der Gesellschaft führen (Preusker, 2020, S. 161). Abb. 4 lässt sich die Entwicklung der Bevölkerungszahl der letzten Jahrzehnte und, als Prognose, für die nächsten 40 Jahre entnehmen.
Abb. 4 : Bevölkerungsstand in Deutschland (1950 - 2060) in Mio.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) (2021a).
Deutschland hat 2022 eine Gesamtbevölkerung von 83,6 Mio. Sie wird bis 2060 auf 78,2 Mio. sinken, was einen Rückgang von ca. 6,4 % bedeutet. In Zukunft ist von einem stetigen Rückgang der Bevölkerungszahl v.a. aufgrund anhaltender Geburtenrückgänge auszugehen (BiB, 2021b, S. 12).
Tab. 1 : Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur nach Altersgruppen (2020 - 2060) in Mio.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an vdek (2021c).
Tab. 1 zeigt die Altersstruktur der Bevölkerung. Demnach kommt es einerseits zu einer Zunahme der älteren Bevölkerung. Grund hierfür sind die geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ (Mitte der 1950er bis Ende der 1960er-Jahre) und der starke Geburtenrückgang nach dem sog. „Pillenknick“ 1965 (BiB, 2021b, S. 21). Bis 2035 gehen die Babyboomer in Rente (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVRW), 2017, S. 29).
Die zweite Entwicklung beschreibt eine steigende Lebenserwartung. Das Medianalter, d.h. das Alter, welches die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen teilt, lag 2020 bei 45,9 Jahren und wird bis 2040 auf 48,3 Jahre steigen (BiB, 2021b, S. 21). Dies wirkt zunächst nicht beunruhigend, vielmehr ist die Entwicklung der Altersstruktur in der älteren Bevölkerung zu beachten. Erwartet wird ein Anstieg des Anteils der Personen, die älter als 67 sind, von ca. 19 % im Jahr 2020 auf 27 % 2060 (vgl. Tab. 1). Parallel dazu fällt der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 - 66 Jahre) von ca. 62 % im Laufe des nächsten Jahrzehnts auf unter 60 % (vgl. Tab. 1). Die demografischen Effekte führen zu einer Bevölkerungsverschiebung von den Berufstätigen zu den nicht mehr Erwerbstätigen und damit einem Sinken des Jugend- und Steigen des Altenquotienten, was negative Auswirkungen auf die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme hat, die - wie die GKV - auf einer Umlagefinanzierung beruhen (Preusker, 2020, S. 161).
Abb. 5 : Leistungsausgaben ohne Krankengeld je Versichertentag in € nach Alter (Männer; 2013 - 2019)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) (2021).
Abb. 6 : Leistungsausgaben ohne Krankengeld je Versichertentag in € nach Alter (Frauen; 2013 - 2019)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an BAS (2021).
Aus Abb. 5 und 6 lässt sich erkennen, dass Gesundheitsausgaben unabhängig vom Geschlecht im Alter höher sind (sog. Kalendereffekt), so sind sie ungefähr bei der Altersgruppe über 80 Jahren dreimal so hoch wie bei den 15- bis 45-Jährigen. Der Anstieg hängt jedoch von der Entwicklung der gesunden Lebensjahre ab (Nöthen, 2011, S. 666). Entscheidend ist nicht das Alter an sich, sondern der zeitliche Abstand zum Tod, was den sog. Restlebenszeiteffekt beschreibt. Demnach entstehen in den letzten Lebensmonaten eines Menschen die höchsten Krankheitskosten - unabhängig vom Lebensalter (Nöthen, 2011, S. 671).Diesbezüglich ist zu beobachten, dass Menschen vermehrt später in ihrem Leben chronisch krank werden; es mithin zu einer Verlagerung „großer Ausgaben“ zu späteren Zeitpunkten kommt (sog. Kompressionsthese; vgl. Abb. 5, 6; Deutsche Aktuarvereinbarung e.V., 2017). Getreu dem Sprichwort „60 ist das neue 50“ (Matusiewicz, 2018, S. 329), verbessert die steigende Lebenserwartung die Gesundheit in einem bestimmten Alter durchschnittlich. Dem steht die Medikalisierungsthese gegenüber, wonach die durch die höhere Lebenserwartung gewonnenen zusätzlichen Jahre hauptsächlich in Krankheit verbracht werden (Deutsche Aktuarvereinbarung e.V., 2017). Im Sinne eines Bi-modalen Ansatzes kommt es zu einer Kombination aus beiden Thesen. Der Vergleich der Ausgabenprofile der letzten Jahre ergibt eine Verschiebung des Ausgabenprofils nach „rechts“ (Kompression) und eine Steigungszunahme (Medikalisierung) (vgl. Abb. 5, 6). Fest steht, dass der demografische Wandel auch in Zukunft durch sinkende Berechnungsgrundlagen einen Einnahmenrückgang auslösen und gleichermaßen einen Ausgabentreiber im Gesundheitswesen darstellen wird.
[...]