Die aktuellen Beziehungen zwischen der EU und Russland können bestenfalls noch als interessen- beziehungsweise energiebasiert definiert werden, wobei eine gemeinsame Norm- und Wertekomponente fehlt. Diese Arbeit soll einen Überblick über die bisher erfolgten Maßnahmen zur Norm- und Wertübertragung nach Russland zur Verfügung stellen. Dies kann als Orientierung für zukünftige Maßnahmen der EU, unter möglicherweise in der Zukunft geänderten Rahmenbedingungen, dienen.
Es soll die Forschungsfrage beantwortet werden, welche Maßnahmen die EU seit der Auflösung der Sowjetunion angewandt hat, um Russland zu einer Norm- und Wertadaption des EU-Besitzstandes zu bewegen. Nachgeordnete Leitfragen sind zum einen die Ermittlung, ob unterschiedliche External Governance-Modi für verschiedene Politikbereiche genutzt wurden. Zum anderen soll die Frage beantwortet werden, welche Normen und Werte durch die Maßnahmen der EU fokussiert wurden und ob es zu einer Verbindung von soziopolitisch und technisch-wirtschaftlichen „low politics“ mit „high politics“ Thematiken in den einzelnen Maßnahmen kam.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird der bisherige Forschungsstand zu den EU-Russland Beziehungen und den External Governance Anstrengungen der EU gegenüber Russland aufgearbeitet, bevor der Handlungsrahmen, der sich der EU bei ihrem Agieren gegenüber Russland bietet, aufgezeigt wird. Anschließend wird das Kooperationsinteresse Russlands und der EU empirisch herausgearbeitet und gegenübergestellt. Schließlich wird das External Governance Konzept theoretisch aufbereitet, mit dem die Norm- und Wertübertragungsanstrengungen der EU analysiert werden.
Im Anschluss erfolgt die Herausarbeitung des methodischen Vorgehens, wobei zunächst die einzubeziehenden Datengrundlagen erörtert werden und anschließend in Form der qualitativen Inhaltsanalyse eine Methode zur Herausarbeitung der normativen, werteinhärenten und governancespezifischen Charakteristik der Maßnahmen erarbeitet wird. Darauf wird die erarbeitete Methodik schließlich angewendet und die von der EU getroffenen Maßnahmen anhand von zwölf Vereinbarungen aus den drei Bereichen der ökonomischen Kooperation, der Bildung und Wissenschaft und der äußeren Sicherheit analysiert.
Die hierbei erzielten Ergebnisse werden schließlich in einer Schlussbetrachtung aufbereitet, es wird eine Beantwortung der gestellten Forschungsfrage vorgenommen und ein Ausblick auf die zukünftigen EU-Russland Beziehungen gegeben.
Inhaltsverzeichnis
1. Die EU-Russland Beziehungen: Relevanz und offene Fragen
2. Aufarbeitung des bisherigen Forschungsstandes
3. Handlungsrahmen der EU gegenüber Russland
3.1 Kompetenzen und Instrumente
3.2 Institutionen
3.3 Außenpolitisches Rollenbild der EU
3.4 Wertefundament
4. Kooperationsinteressen der EU und Russlands
4.1 Interessen der EU gegenüber Russland
4.2 Interessen Russlands gegenüber der EU
4.3 Gegenüberstellung der Interessen
5. External Governance als theoretisches Modell
5.1 Definition und Hintergrund
5.2 Modi der External Governance
5.3 Anwendung in bisherigen Forschungsarbeiten
5.4 Kategorisierung der Politikbereiche der External Governance
6. Methodisches Vorgehen
6.1 Datengrundlage
6.2 Datenauswertung
7. Analyse der EU-External Governance gegenüber Russland
7.1 Ökonomische Kooperation
7.1.1 Verordnung über eine technische Unterstützung von 1993
7.1.2 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit von 1997
7.1.3 Absichtserklärung zur industriellen Kooperation im Energiesektor von 1999
7.1.4 „Road Map“ für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von 2005
7.1.5 Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Fischerei von 2009
7.1.6 Absichtsbekundung zum Dialog beim Verbraucherschutz von 2013
7.1.7 Gesamtbetrachtung der ökonomischen Kooperation
7.2 Bildung und Wissenschaft
7.2.1 Abkommen über wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit von 2000
7.2.2 Abkommen über die Zusammenarbeit bei der nuklearen Sicherheit von 2001
7.2.3 „Road Map“ für einen gemeinsamen Raum der Forschung und Bildung von 2005
7.2.4 Gesamtbetrachtung des Bereiches der Bildung und Wissenschaft
7.3 Äußere Sicherheit
7.3.1 Kooperationsprogramm für Nichtverbreitung und Abrüstung in der Russischen Föderation von 1999
7.3.2 „Road Map“ für einen gemeinsamen Raum der äußeren Sicherheit von 2005
7.3.3 Verwaltungsvereinbarung über die praktische Zusammenarbeit im Bereich des Katastrophenschutzes von 2013
7.3.4 Gesamtbetrachtung des Bereiches der äußeren Sicherheit
7.4 Gesamtbetrachtung aller Bereiche
7.5 Evaluierung der Forschungsqualität
8. Fazit und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Anhang inklusive Anhangsverzeichnis
Literatur- und Dokumentenverzeichnis
1. Die EU-Russland Beziehungen: Relevanz und offene Fragen
„Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. [...] Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses .“ Wladimir Putin, 25.09.2001 (Deutscher Bundestag 25.09.2001)
„Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Vereinigung unseres Kontinents erst dann in vollem Umfang verwirklichen lässt, wenn Russland als größter Staat Europas ein integraler Bestandteil des europäischen Prozesses wird. (...) Der Aufbau vielfältiger Beziehungen zur EU ist eine grundsätzliche Entscheidung Russlands. “ Wladimir Putin, 25.03.2007 (Europäische Kommission 2007: 3)
„Gerade in diesem Sinne – in der Logik der Gestaltung eines Großen Europas, das durch gemeinsame Werte und Interessen zusammengehalten würde – wollte Russland seine Beziehungen zu den Europäern aufbauen. Sowohl wir als auch die Europäische Union konnten auf diesem Wege viel erreichen. [...] Ich möchte noch einmal betonen: Russland plädiert für die Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft zu Europa. “ Wladimir Putin, 22.06.2021 (Putin 22.06.2021)
Über einen Zeitraum von 20 Jahren bekundete der russische Präsident die Einbringung der Russischen Föderation1 in den europäischen Integrationsprozess, das Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU) und berief sich auf gemeinsame europäische Werte. Nichtsdestotrotz können die aktuellen Beziehungen zwischen der EU und Russland bestenfalls noch als interessen- bzw. energiebasiert definiert werden, wobei eine gemeinsame Norm- und Wertekomponente fehlt (Zaslavskaia 2011: 284). Die Anstrengungen der EU hinsichtlich einer Norm- und Wertübertragung nach Russland haben dabei aber verschiedene Abschnitte durchlaufen und können angelehnt an Böttger in drei Phasen unterteilt werden. In der ersten Phase in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Beziehungen durch positive Erwartungen aufgrund der Annahme einer komplementären Interessenlage geprägt (Böttger 2015: 205 f.). Institutionelle Grundlage, für die von beiden Seiten ausgerufene strategische Partnerschaft, bildete hierbei das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1997 (Meister 2020: 286). In den 2000er Jahren folgte eine „Phase der schleichenden Verschlechterung der Beziehungen“ (Böttger 2015: 206), in der sich beide Akteure unbewusst voneinander abgewandt haben. Seit Mitte 2013 sind die Beziehungen mit den Ereignissen in der Ukraine dann in eine dritte Phase übergegangen, die spätestens mit der Krim-Annexion im Frühjahr 2014 in einer tiefen Krise gipfelte und bis heute anhält (Böttger 2015: 205 f.). Aufgrund dieser Entwicklungen erklärte das Europäischen Parlament in einer Entschließung im März 2019, dass Russland nicht mehr als strategischer Partner betrachtet werden könne (Europäisches Parlament 12.03.2019: Rn. 3). Im Februar 2021 machte ferner der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell bei seinem Besuch in Moskau einen Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Russland und der EU aus (tagesschau.de 05.02.2021). Dies wurde durch die russische Seite mit einer Demütigung Borrells beantwortet, indem während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem russischen Außenminister Lawrow zeitgleich die Ausweisung dreier Diplomaten von EU-Ländern aus Russland verkündet wurde (tagesspiegel.de 09.02.2021). Von konkreten Norm- und Wertübertragungsanstrengungen nach Russland hat die EU mittlerweile Abstand genommen. Vielmehr wurden im März 2021 im Rahmen der globalen Sanktionsregelung der EU im Bereich der Menschenrechte zusätzliche Sanktionen gegen einzelne leitende Mitarbeiter des russischen Regimes verhängt, die an der Festnahme und Verurteilung Alexej Nawalnys sowie der Unterdrückung friedlicher Proteste anlässlich dessen Festnahme beteiligt waren (Rat der Europäischen Union 02.03.2021a). Außerdem wurden im Juli 2021 die seit dem Sommer 2014 bestehenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufgrund der Handlungen der russischen Regierung im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine um weitere sechs Monate verlängert (Rat der Europäischen Union 12.07.2021b). Die im Juli 2021 veröffentlichte Sicherheitsstrategie der russischen Regierung macht ferner indirekt deutlich, dass Russland die EU als potenziell feindlichen Staat sieht. So hält die Strategie fest, dass traditionelle, spirituelle, moralische, kulturelle und historische Werte Russlands durch die USA und ihre Verbündeten attackiert würden, weshalb es Priorität sei, die russische Gesellschaft vor der Expansion fremder Ideologien und Werte zu schützen (Kuznets 05.07.2021).
Trotz dieser Umstände, die eine EU-Norm- und Wertadaption durch Russland aktuell beinahe aussichtslos erscheinen lassen, hat die Frage, wie eine solche erreicht werden kann, hohe Relevanz. So ist die wirtschaftliche Komponente zwischen der EU und Russland weiterhin gewichtig, auch wenn der EU-Russland-Handel 2020 mit einem Volumen von rund 174 Mrd. € auf den tiefsten Stand seit 2005 sank, nachdem 2012 ein Allzeithoch von rund 321 Mrd. € erreicht wurde. Die EU stellt bis heute Russlands wichtigsten Handelspartner dar und umgekehrt ist Russland der fünftwichtigste Handelspartner für die EU (Harms 2021: 1, 3-4). Die Interdependenz zeigt sich auch daran, dass sich die EU-Importe aus Russland zu rund 70% aus Erdölprodukten zusammensetzen während die wichtigsten Exportprodukte der EU nach Russland mit rund 44 % Maschinen darstellen (European Commission 26.05.2021). Neben dieser wirtschaftlichen Interdependenz ergibt sich die Bedeutung Russlands für die EU außerdem aus der geografischen Nähe (Böttger 2015: 206). Russland sieht sich selbst als globale Macht mit einem ausgeprägten militärischen und ökonomischen Potenzial. Dies drückt sich auch an der Geltendmachung eines Einflusses auf den gemeinsamen Nachbarschaftsraum mit der EU aus, der den südlichen Kaukasus und das östliche Europa umfasst (Headley 2015: 211). Neben dem Agieren als regionaler Akteur verfügt Russland aber auch auf globaler Ebene über erhebliches Einflusspotenzial, wodurch die Lösung internationaler Konflikte beispielsweise im Hinblick auf potenzielle Nuklearmächte wie Iran oder Nordkorea, der Situation in Syrien oder Libyen, aber auch dem weiterhin bestehenden Ukraine-Konflikt nur unter Einbeziehung Russlands möglich scheint (Fröhlich 2014: 253 f.).
Die Verwendung des aufgezeigten wirtschaftlichen, sicherheits- und außenpolitischen Potenzials Russlands zugunsten der EU und die Findung gemeinsamer europäisch-russischer Lösungen, würde sich einfacher gestalten, je intensiver Russland Normen und Werte der EU adaptiert und verinnerlicht hat. Für die EU ist die Verbindung von Normen, Werten und Außenpolitik selbstverständlich (Haukkala 2007: 133). So enthält der Vertrag über die Europäische Union (EUV)2 zahlreiche Wertefestschreibungen, unter anderem in Form der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Unteilbarkeit der Menschenrechte, an die sich die EU bei ihrem auswärtigen Handeln halten muss. Die vorliegende Arbeit soll deshalb einen Überblick über die bisher erfolgten Maßnahmen zur Norm- und Wertübertragung nach Russland zur Verfügung stellen. Dies kann als Orientierung für zukünftige Maßnahmen der EU, unter möglicherweise in der Zukunft geänderten Rahmenbedingungen, dienen. Es soll die Forschungsfrage beantwortet werden, welche Maßnahmen die EU seit der Auflösung der Sowjetunion angewandt hat, um Russland zu einer Norm- und Wertadaption des EU-Besitzstandes zu bewegen. Nachgeordnete Leitfragen sind zum einen die Ermittlung, ob unterschiedliche External Governance-Modi für verschiedene Politikbereiche genutzt wurden. Zum anderen soll die Frage beantwortet werden, welche Normen und Werte durch die Maßnahmen der EU fokussiert wurden und ob es zu einer Verbindung von soziopolitisch und technisch-wirtschaftlichen „low politics“ mit „high politics“ Thematiken in den einzelnen Maßnahmen kam.
Die Arbeit zielt somit darauf ab eine Aussage zu den Maßnahmen der EU gegenüber Russland für den gesamten Zeitraum der EU-Russland Beziehungen zu treffen, der sich von der Auflösung der Sowjetunion 1991 bis zum Ausarbeitungszeitpunkt der Arbeit erstreckt. Als Maßnahmen zur Norm- und Wertadaption der EU werden sowohl dokumentierte einseitige Maßnahmen der EU ohne Beteiligung Russlands als auch gemeinsame Vereinbarungen zwischen Russland und der EU verstanden. Genauere Ausführungen hinsichtlich der Definition und Einschränkung der zu untersuchenden Maßnahmen finden sich im Kapitel 6.1. In der Arbeit wird im Folgenden außerdem zur besseren Lesbarkeit von der EU und Russland als Akteuren gesprochen, wobei die verschiedenen Institutionen, die auf Handlungen der beiden Akteure, insbesondere der EU, Einfluss nehmen Berücksichtigung finden (vgl. Kapitel 3.2). Unter Normen werden Haukkala folgend in der vorliegenden Arbeit „technical issues, such as pieces of Community legislation or standards and certificates” (2007: 3) verstanden. Es handelt sich also um Anforderungen, die detailliert einen Regelungsrahmen für einen eingeschränkten Bereich vorgeben. Demgegenüber werden Werte als „higher order normative principles” (Haukkala 2007: 137) angesehen, die die grundsätzlichen Beziehungen zwischen den Akteuren leiten sollen und somit als übergeordnetes Gerüst für die Umsetzung konkreter Normen dienen.3
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird zunächst in Kapitel 2 der bisherige Forschungsstand zu den EU-Russland Beziehungen und den External Governance Anstrengungen der EU gegenüber Russland aufgearbeitet, bevor in Kapitel 3 der Handlungsrahmen, der sich der EU bei ihrem Agieren gegenüber Russland bietet, aufgezeigt wird. Da zur Analyse der Norm- und Wertübertragungsanstrengungen der EU zwingend auch die Interessen beider Akteure an einer Kooperation zu beachten sind, wird in Kapitel 4 das Kooperationsinteresse Russlands und der EU empirisch herausgearbeitet und gegenübergestellt. Schließlich bereitet Kapitel 5 das External Governance Konzept theoretisch auf, mit dem die Norm- und Wertübertragungsanstrengungen der EU analysiert werden. In Kapitel 6 erfolgt schließlich die Herausarbeitung des methodischen Vorgehens, wobei zunächst die einzubeziehenden Datengrundlagen erörtert werden und anschließend in Form der qualitativen Inhaltsanalyse eine Methode zur Herausarbeitung der normativen, werteinhärenten und governancespezifischen Charakteristik der Maßnahmen erarbeitet wird. Im Kapitel 7 wird die erarbeitete Methodik schließlich angewendet und die von der EU getroffenen Maßnahmen anhand von zwölf Vereinbarungen aus den drei Bereichen der ökonomischen Kooperation, der Bildung und Wissenschaft und der äußeren Sicherheit analysiert. Die hierbei erzielten Ergebnisse werden schließlich in Kapitel 8 in einer Schlussbetrachtung aufbereitet, es wird eine Beantwortung der gestellten Forschungsfrage vorgenommen und ein Ausblick auf die zukünftigen EU-Russland Beziehungen und einen weiter bestehenden Forschungsbedarf gegeben.
2. Aufarbeitung des bisherigen Forschungsstandes
Um die aufgezeigte Forschungsfrage angemessen und aufbauend auf den bisherigen Erkenntnissen zu beantworten, wird zunächst der Forschungsstand zu den EU-Russland Beziehungen überblicksartig skizziert und hieraus Schlussfolgerungen für die Untersuchung gezogen. Wie Forsberg und Haukkala herausstellen, zeichnet sich die bisherige Forschung zu den EU-Russland Beziehungen durch einen Fokus auf deren allgemeine Entwicklung und Schlüsselfragen der Beziehung aus. Der größte Anteil der erschienenen Arbeiten beziehe sich auf die Analyse sicherheitspolitischer Herausforderungen wie dem russisch-georgischen Krieg, den Auseinandersetzungen in Tschetschenien oder dem Ukrainekonflikt sowie spezifischen Policy-Fragen. Aspekte, die bei den Untersuchungen beleuchtet werden, seien unter anderem Machtkonflikte, das ökonomische Abhängigkeitsverhältnis sowie die verschiedenen Identitäten und Weltanschauungen beider Akteure (Forsberg/Haukkala 2016: 5).
Die Maßnahmen der EU hinsichtlich einer Norm- und Wertübertragung nach Russland wurden von verschiedenen Autoren bereits thematisiert. So hat Bastian unter anderem die Instrumente des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens, der Gemeinsamen Strategie und der Nördlichen Dimension überblicksartig betrachtet. Dabei stellt sie ein Kohärenzproblem zwischen den einzelnen Instrumenten und einen großen Anteil unverbindlicher Absichtserklärungen fest (Bastian 2006: 138-140). Zu einem etwas positiveren Ergebnis kommt dagegen Haukkala, der sich in seinen Ausführungen auf die konkreten politischen Handlungen der beiden Akteure und die institutionellen Kooperationsstrukturen fokussiert. Er stellt ständige Manöver Russlands zur Abkehr von den gemeinsam geschlossenen Vereinbarungen heraus, wobei es die EU trotzdem schaffe, durch die institutionalisierten Gipfeltreffen die Implementation europäischer Normen und Werte in Russland Stück für Stück voranzutreiben (Haukkala 2007: 144). Zaslavskaia kommt in ihrer Betrachtung der Norm- und Wertübertragungsanstrengungen der EU gegenüber Russland in den 1990er und 2000er Jahren dagegen zu einem stärker auf die institutionellen Umstände gerichteten Ergebnis. So hätten sich die Beziehungen von einer losen Handelskooperation zu einer strategischen Partnerschaft und letztlich zu gemeinsamen Räumen im Hinblick auf die institutionelle Komponente stark weiterentwickelt. Es fehle aber eine eindeutige gemeinsame Wertekomponente, wodurch sich der Kooperationsrahmen überwiegend interessenbasiert gestalte (Zaslavskaia 2011: 283 f.). Drofa kommt in ihrer Arbeit zu einem hieran anknüpfenden Ergebnis und sieht die EU-Normübertragungsanstrengungen nach Russland von einer anfänglichen Phase des Optimismus in eine Ära des Pragmatismus übergegangen (Drofa 2013: 58-62). Forsberg und Haukkala stellen in ihrer Untersuchung der EU-Russland Beziehungen dagegen durchaus auch wertebasierte Ansätze fest. Durch die Analyse verschiedener Politikfelder der Kooperation zeigen sie aber auf, dass die Wertedimension stellenweise zugunsten politischer oder wirtschaftlicher Überlegungen durch die EU geopfert werde (Forsberg/Haukkala 2016: 251).
Einige Arbeiten haben ferner bereits einzelne Vereinbarungen konkret auf ihren normativen und wertebasierten Inhalt untersucht, wobei sich diese Analysen überwiegend auf größere Rahmenvereinbarungen fokussieren und policy-spezifische Abkommen zwischen den beiden Akteuren nicht betrachtet wurden. So hat Timmermann in dem normativen Gehalt des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens eine solide Grundlage für zukünftige fruchtbare Beziehungen erkannt, wobei hierfür eine „Übereinstimmung in den Grundwerten und Prinzipien der Demokratie“ (Timmermann 1999a: 30) vorausgesetzt werde, die durch das Abkommen nicht konstituiert werde. In einer weiteren Arbeit beleuchtet Fischer zusätzlich das Programm Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States (TACIS) und stellt fest, dass beide Programme wenig zur Demokratisierung Russlands beigetragen hätten und zunehmend der Situation eines nach Souveränität und Gleichberechtigung strebenden Russlands nicht mehr entsprechen würden (Fischer 2006: 17-19). Auch die „Gemeinsame Räume“-Strategie wurde durch verschiedene Studien auf ihre normative Komponente beleuchtet. So stellt Klitsounova die durch die „Gemeinsame Räume“-Initiative eingerichteten sektoralen Dialoge heraus, die zu einer weitergehenden Normangleichung beigetragen hätten (2009: 176). Gall verweist in ihrer Untersuchung dagegen auf die vagen und unverbindlichen Regelungen der Road Maps zu den gemeinsamen Räumen und die darin schwach ausgeprägte Wertekomponente (2017: 13 f.). Zuletzt ist die Arbeit von Koszel anzuführen, der die 2008 initiierte Modernisierungspartnerschaft zwischen der EU und Russland untersucht und deren Potenzial hinsichtlich einer durch Russland erfolgenden EU-Normimplementation herausstellt, „die sich nicht nur auf Wirtschaftsfragen und den Einsatz moderner Technologien“ (2013: 50) beschränke.
Auch der External Governance Ansatz wurde durch verschiedene Autoren bereits für die Betrachtung der Beziehungen zwischen der EU und Russland verwendet. Von einem Großteil der Arbeiten wurde jedoch insbesondere die Rolle Russlands als Gegenakteur der External Governance Bemühungen der EU für den osteuropäischen Nachbarschaftsraum herausgestellt. So sieht Grabbe Russland als Rivale bei den Bestrebungen der EU zur Übertragung europäischer Normen und Werte auf Drittstaaten, weswegen bei der zukünftigen Erweiterungspolitik der EU entscheidend sei, wie mit dem russischen Einflusswillen auf den europäischen Raum umgegangen werde (2014: 53 f.). Hagemann reiht sich in diese Betrachtungsweise mit ein und stellt an dem Fallbeispiel der Rollen Russlands, der EU und Moldaus im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik Russland als Akteur heraus, der die External Governance Bemühungen der EU gegenüber Moldau zu torpedieren versucht (2013: 780). Einige Arbeiten betrachten Russland aber auch als Zielstaat der External Governace der EU. So stellt List unter Anwendung eines stark institutionalisierten Blickwinkels die External Governance der EU gegenüber Russland als eine ernüchternd schwache Institutionalisierung von Gesprächsforen dar. Außerdem sei die für den Netzwerkmodus charakteristische Einbeziehung von nicht-staatlichen Akteuren bei den External Governance Anstrengungen der EU gegenüber Russland kaum vorzufinden (List 2011: 234 f.). Barbé u.a. stellen ferner in einer Untersuchung der EU-External Governance Anstrengungen in verschiedenen Politikbereichen heraus, dass die EU nicht ausschließlich auf einen unilateralen Transfer von EU-Normen in den Drittstaaten abziele. Vielmehr sei die EU ebenso gewillt durch die Anwendung von international anerkannten Normen oder bilateral erarbeiten Regelungen EU-Norm- und Wertvorstellungen zur Anwendung zu verhelfen. Dieser Ansatz werde insbesondere gegenüber Staaten verfolgt, die wie Russland an einer Kooperation mit der EU interessiert seien, aber die Rolle der EU als Regelsetzer ablehnen würden (Barbé, Oriol Costa, Surrallés u.a. 2009: 847 f.). Weitere Ausführungen zum allgemeinen Forschungsstand des External Governance Ansatzes finden sich im Unterkapitel 5.3.
Hinsichtlich des Forschungsstandes zu den Beziehungen zwischen der EU und Russland ist somit das Fazit zu ziehen, dass viele der in diesem Themenbereich veröffentlichten Arbeiten, sich mit konkreten Konflikten und spezifischen Politikfeldern zwischen den beiden Akteuren beschäftigen. Ferner ist eine große Anzahl von Arbeiten vorhanden, die die allgemeine Entwicklung der Norm- und Wertübertragungsanstrengungen der EU gegenüber Russland charakterisieren. Einige Arbeiten analysieren auch einzelne, meist Rahmenabkommen darstellende, Vereinbarungen zwischen den beiden Akteuren hinsichtlich ihrer Norm- und Wertdimension. Dabei werden aber nie mehr als zwei bis drei Vereinbarungen miteinander verglichen. Auch der External Governance Ansatz wurde bisher nur in Ausschnitten auf die EU-Russland Beziehungen angewendet. Die vorliegende Arbeit soll deshalb diesen bisherigen Forschungsstand auf verschiedenen Ebenen konkretisieren. Es soll ein umfassendes Bild hinsichtlich der normativen und werteinhärenten Komponente der einzelnen Vereinbarungen zwischen den beiden Akteuren erarbeitet werden, wobei neben den Rahmenabkommen auch konkrete politikfeldspezifische Abkommen betrachtet werden. Hierdurch soll zu konkreteren Erkenntnissen hinsichtlich der Entwicklungsperspektive der Norm- und Wertadaptionsanstrengungen beigetragen werden und ein tiefergehender Vergleich zwischen den einzelnen Vereinbarungen ermöglicht werden. Zuletzt sollen Erkenntnisse hinsichtlich des Charakteristikums und der Ausprägung der External Governance bei den einzelnen Vereinbarungen generiert werden. Hierdurch soll dazu beigetragen werden, die Norm- und Wertadaptionsanstrengungen der EU nicht nur wie bei den bisherigen Arbeiten auf der Makroebene zu analysieren, sondern auch Nuancen zwischen den einzelnen Vereinbarungen und zeitlichen Abschnitten auszumachen.
3. Handlungsrahmen der EU gegenüber Russland
Ziel der Arbeit ist es die Anstrengungen der EU hinsichtlich des Norm- und Werttransfers gegenüber Russland umfassend zu untersuchen. Hierzu ist es zunächst notwendig, sich mit dem Handlungsrahmen auseinanderzusetzen, auf den die EU bei ihrem auswärtigen Handeln gegenüber Russland zurückgreifen kann. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass die EU fähig ist, eine konsistente Außenpolitik gegenüber Russland zu gestalten und hierbei auch Akteursqualität besitzt. Um diese Annahme zu rechtfertigen, werden in den folgenden Unterkapiteln die Kompetenzen und Instrumente, die verschiedenen Institutionen, das Rollenbild sowie das Wertefundament der EU bei ihrem auswärtigen Handeln herausgearbeitet. Aus diesen Erörterungen werden Rückschlüsse für den Aufbau und den Umfang der Untersuchung des EU-Norm- und Wertexports nach Russland gezogen.
3.1 Kompetenzen und Instrumente
Die EU verfügt im Bereich des auswärtigen Handelns über verschiedenartige Kompetenzen, die sich im Laufe ihrer Existenz weiterentwickelt haben und hinsichtlich ihrer Entscheidungs- und Handlungsstruktur teils sehr unterschiedlich sind. Bereits aus den Römischen Verträgen 1957 folgte die Verhängung eines Außenzolls als Grundlage einer gemeinsamen Außenhandelspolitik. 1970 wurde schließlich die Außenhandelspolitik vollständig auf die Gemeinschaftsebene übertragen und es trat die humanitäre Hilfe der Gemeinschaft in Notfällen hinzu (Gaedtke 2009: 28-30). Die institutionellen Beziehungen der heutigen EU zu internationalen Organisationen und Drittstaaten, die unter Anleitung und weitgehender Zuständigkeit der Europäischen Kommission auf immer weitere Bereiche in den Politikfeldern Handel, Kapital, Dienstleistungen, Umwelt und Entwicklung ausgeweitet wurden, können somit als Fundament des außenpolitischen Profils der EU gesehen werden (Simonis 2011: 15).
Dagegen war der Kernbereich des auswärtigen Handelns in Form des außen- und sicherheitspolitischen Krisenmanagements ab 1970 durch den Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit nur vage formalisiert (Fröhlich 2014: 107). Der Vertrag von Maastricht brachte 1993 schließlich in Form der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die heutzutage zusätzlich die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) einschließt, einen Bereich in den Orbit der Union, der zuvor weitestgehend der Souveränität der Mitgliedstaaten vorbehalten war (Müller-Brandeck-Bocquet/Rüger 2015: 55 f.). Für die vorliegende Arbeit wird deshalb der Schlussfolgerung Gaedtkes gefolgt, dass zur umfassenden Evaluierung der EU-Außenpolitik sowohl die intergouvernemental organisierte GASP als auch die vergemeinschafteten außenpolitisch relevanten Sachpolitiken betrachtet werden müssen (2009: 15).
Auch bei den Handlungsinstrumenten, auf die die EU bei ihrer Außenpolitik zurückgreifen kann, sind verschiedene Möglichkeiten gegeben. So verfügt die EU zum einen über klassische diplomatische Beziehungen mit häufig stark institutionalisierten politischen Dialog- und Konsultationsverfahren mit Drittstaaten. Zum anderen befinden sich im Instrumentarium der EU auch restriktive Maßnahmen in Form von Sanktionen und zivil-militärischen Operationen im Rahmen der GASP (Gaedtke 2009: 60 f.). Daneben treten finanzielle Unterstützungsprogramme für Drittstaaten zur Förderung der ökonomischen und politischen Entwicklung, die häufig mit einem Konditionalitätsansatz hinsichtlich der Umsetzung menschenrechtlicher und demokratischer Standards verbunden sind. Diese werden durch allgemeine völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten, die ebenfalls häufig Menschenrechts- und Demokratieklauseln enthalten, ergänzt (Fröhlich 2014: 42-46).
Aufgrund der Vielseitigkeit der EU im Hinblick auf ihre Kompetenzen und Handlungsinstrumente fassen Müller-Brandeck-Bocquet und Rüger die Außenpolitik der EU als einen mehrdimensionalen Ansatz auf (2015: 22-24). Dieser Betrachtungsweise soll auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt werden und deshalb bei der Analyse der außenpolitischen Handlungen der EU zur Norm- und Wertadaption gegenüber Russland eine umfassende Untersuchung der zur Verfügung stehenden Instrumente sowohl in den supranationalen als auch intergouvernemental geprägten Bereichen erfolgen.
3.2 Institutionen
Anschließend stellt sich die Frage, welche EU-Institutionen die zuvor aufgezeigten Kompetenzen und Instrumente des auswärtigen Handelns zur Anwendung bringen können und deshalb in der vorliegenden Arbeit Berücksichtigung finden müssen. Bedeutung für die Gestaltung der EU-Außenpolitik hat zum einen der Europäische Rat. Dieser legt gemäß Art. 15 (1) EUV die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU fest, wobei sich diese Leitlinienfunktion auch auf die EU-Außenpolitik erstreckt. Die im Europäischen Rat vertretenen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten können somit in einer Funktion als strategischer Kompass für das auswärtige Handeln der EU gesehen werden (Müller-Brandeck-Bocquet/Rüger 2015: 138-140).
Die Leitlinien des Europäischen Rates werden durch den Rat für Auswärtige Angelegenheiten umgesetzt, der gemäß Art. 16 (6) EUV das auswärtige Handeln der Union entsprechend den strategischen Vorgaben gestaltet und die Kohärenz des Handelns der Union garantieren soll. Die an dem Rat beteiligten Außenminister der Mitgliedstaaten, dienen zum einen als intergouvernementales Organ zur Entscheidung von Fragen im Rahmen der GASP und GSVP. Zum anderen wird der Rat aber auch in die Gemeinschaftsdimension der EU-Außenpolitik einbezogen, wenn er im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens zusammen mit dem Europäischen Parlament beispielsweise über die gemeinsame Außenhandelspolitik, die Entwicklungspolitik oder humanitäre Hilfe entscheidet. Dies führt häufig dazu, dass er als Konfliktarena für die unterschiedlichen Bestrebungen in diesen Bereichen dient (Müller-Brandeck-Bocquet/Rüger 2015: 141-143).
Eine ambivalente Stellung beim auswärtigen Handeln der EU nimmt die Europäische Kommission ein. Diese verfolgt gemäß Art. 17 (1) EUV die Aufgabe, die allgemeinen Interessen der Union zu fördern und hierzu geeignete Initiativen zu ergreifen. Hierzu verfügt sie einerseits im Bereich der Gemeinschaftsdimension der EU-Außenpolitik über das Initiativmonopol und hat insbesondere bei der Abwicklung und Koordinierung der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik eine Schlüsselrolle inne. Andererseits kann die Kommission im Rahmen der GASP und GSVP gemäß Art. 30 (1) EUV aber nur mit Unterstützung des Hohen Vertreters der Union für Außen und Sicherheitspolitik initiativ werden (Gaedtke 2009: 106 f.).
Zuletzt ist als institutioneller Akteur der EU-Außenpolitik das Europäische Parlament zu nennen, dessen Einfluss ebenfalls stark von dem jeweiligen Bereich des auswärtigen Handelns abhängig ist. So wurde durch den Vertrag von Lissabon das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, bei dem das Parlament gleichberechtigt mit dem Rat entscheidet, deutlich ausgeweitet. Dieses findet nun unter anderem bei der gemeinsamen Handelspolitik, der Entwicklungszusammenarbeit sowie bei Entscheidungen im Rahmen der humanitären Hilfe Anwendung. Im Bereich der GASP kann das Parlament dagegen nur auf Informations- und Anhörungsrechte bestehen. So hat der Hohe Vertreter gemäß Art. 36 EUV die Auffassung des Europäischen Parlamentes gebührend zu berücksichtigen (Müller-Brandeck-Bocquet/Rüger 2015: 165-167).
Für die Ausgestaltung der vorliegenden Arbeit wird aufgrund dieser Erörterung der Schluss gezogen, dass bei der Untersuchung der Anstrengungen der EU zur Norm- und Wertadaption durch Russland sowohl Maßnahmen und Dokumente des Europäischen Rates, des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlamentes sowie der diesen anhängenden Organe einbezogen werden müssen, um ein vollständiges Maßnahmenbild zu erhalten. So verfügt zwar der Europäische Rat über eine gewichtige Leitlinienfunktion für die konkrete Gestaltung der EU-Außenpolitik, die anderen drei Institutionen haben aber direkte und indirekte Kompetenzen, um auf die Ausgestaltung und Umsetzung dieser Leitlinien Einfluss zu nehmen.
3.3 Außenpolitisches Rollenbild der EU
Zusätzlich ist zu eruieren, welcher Betrachtung die Arbeit hinsichtlich des außenpolitischen Agierens der EU folgt. Dieser Schritt wird vorgenommen, um im späteren Verlauf der Arbeit über Leitlinien für die empirische Untersuchung des EU-Norm- und Wertetransfers nach Russland zu verfügen und die Ergebnisse besser einordnen zu können.
Seit der Beschäftigung der Europaforschung mit der Rolle der EU in der internationalen Politik trat in den 1970er Jahren das von François Duchêne entwickelte Konzept der EU als Zivilmacht hervor, dass die Wirtschaftskraft der EU als zentrales Mittel ansieht, um die „Verregelung internationaler Politik voranzutreiben“ (Niemann/Junne 2011: 103 f.). Ian Manners ergänzte 2002 den Ansatz der Zivilmacht, in dem er das Konzept der normativen Macht einführte. Darin sieht er die Fähigkeit zu bestimmen, was als normal in der Welt gilt, also eine Art ideologische Macht auszuüben (Manners 2002: 236). Als normative Basis für die EU-Außenpolitik leitet Manners aus den allgemeinen Verträgen, Erklärungen und Politiken der EU fünf Hauptnormen in Form von Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten ab und ergänzt diese durch die vier untergeordneten Normen der sozialen Solidarität, der Nichtdiskriminierung, der nachhaltigen Entwicklung und der verantwortungsvollen Regierungsführung (2002: 242 f.).
Während das Konzept der Zivil- bzw. Militärmacht einen zu starken Fokus auf die Frage nach der staatlichen Komponente, den institutionellen Gegebenheiten und der militärischen und wirtschaftlichen Beeinflussungskapazität der EU lege, hat der Ansatz der normativen Macht nach Manners den Vorteil, den Fokus auf die Bedeutung von ideellen Prozessen für die normative Verankerung der europäischen Vorstellungen und Werte zu legen (2002: 238). Niemann und Junne stellen anknüpfend an diesen internationalen Normierungswunsch der EU aber in Frage, inwieweit die EU in ihrem Agieren tatsächlich ausschließlich Normen mit universellem Charakter befördert oder doch auch eigene Interessen beim Agieren als normative Macht einfließen lasse (2011: 107 f.). Bendiek und Kramer verweisen daneben auf Probleme der Übertragung europäischer Normen auf andere politische Systeme, die denen der EU aus einer ökonomischen und politischen Perspektive mindestens gleichwertig sind. So habe zum Beispiel der EU Menschenrechtsdialog mit China bisher keinen wesentlichen Einfluss gehabt, was auch an der fehlenden Einigkeit der Mitgliedstaaten bei der Gewichtung politischer und wirtschaftlicher Ziele liege (Bendiek/Kramer 2009: 19).
Niemann und Junne verweisen darauf, dass bisher hinsichtlich der Operationalisierung des Konzeptes für die Forschung Nachholbedarf bestehe. Insbesondere fehle es an Indikatoren, um normative Macht zu erkennen (Niemann/Junne 2011: 108). Für die Auswertung der Maßnahmen der EU zur Adaption von Normen und Werten durch Russland wird deshalb das External Governance Konzept genutzt, welches in Kapitel 5 aufbereitet wird. Das Rollenbild der EU als normativen Macht wird aber als theoretischer Überbau und grundsätzliches Erklärungsmuster der außenpolitischen Handlungen der EU in die Untersuchung integriert.
3.4 Wertefundament
Die vorliegende Arbeit folgt somit den Überlegungen Manners und blickt auf die EU als normative Macht, wobei der Export von Normen und Werten das zentrale Ziel ist. Aufgrund dessen wird im Folgenden herausgearbeitet, an welche Werte die EU bei ihrem auswärtigen Handeln gebunden ist. Seit dem Vertrag von Lissabon wird das auswärtige Handeln der EU wie alle anderen Politikbereiche gemäß Art. 3 (1) EUV an die Förderung von Frieden, ihrer Werte und dem Wohlergehen der Völker gebunden. Die Werte der Union stellen sich gemäß Art. 2 S. 1 EUV in Form der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitsrechte dar. Art. 3 (5) S. 1 EUV fordert die EU schließlich konkret dazu auf, in ihren Beziehungen zur übrigen Welt diese Werte zu fördern. Hieran schließt Art. 21 (1) EUV an und wiederholt die eben vorgestellten Werte für das allgemeine Handeln der EU spezifisch für das auswärtige Handeln der Union. Art. 21 (2) EUV bezieht außerdem die Förderung der Integration aller Länder in die Weltwirtschaft und den Abbau internationaler Handelshemmnisse (lit. e) sowie die Entwicklung von Umweltschutzmaßnahmen und den Schutz vor Naturkatastrophen (lit. f und g) als Wertezielvorstellungen ein.
Abschließend stellt sich die Frage, wie sich dieses Wertefundament umfassende operationalisieren lässt, um im späteren Verlauf der Arbeit die Anstrengungen der EU zur Implementation dieser Werte in Russland zu überprüfen. Orientiert an der Kategorisierung der EU-Werte von Müller-Brandeck-Bocquet und Rüger 4 und der bereits in Unterkapitel 3.3 vorgestellten Version von Manners, werden die EU-Werte für das auswärtige Handeln in folgende Kategorien operationalisiert: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (UN) und des Völkerrechts, nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz, Förderung des freien und gerechten Handels sowie der Einsatz für multilaterale und regionale Kooperation. Mit dieser Oberkategorienbildung von Werten für das auswärtige Handeln der EU geht eine geringere Detailliertheit der späteren Untersuchung des EU-Wertexports nach Russland einher, als wenn jede spezifische Formulierung des im EUV dargestellten Wertefundaments für die Untersuchung übernommen worden wäre. Dennoch wird dieser Ansatz gewählt, da angenommen wird, dass ansonsten aufgrund der teils nicht trennscharfen Werte das Untersuchungsergebnis unübersichtlich und nicht verwertbar werden würde. Die Bildung der Oberkategorien von Werten wurde durch eine sorgfältige Prüfung hinsichtlich des Umstandes abgesichert, dass sich jeder im EUV genannte Wert für das auswärtige Handeln der EU unter einer der erarbeiten Oberkategorien subsumieren lässt.
4. Kooperationsinteressen der EU und Russlands
Neben dem im vorherigen Kapitel erörterten Handlungsrahmen werden die Anstrengungen der EU hinsichtlich eines Norm- und Wertexports nach Russland auch entscheidend durch die EU-eigenen sowie russischen Interessen an einer gegenseitigen Kooperation beeinflusst. Obwohl das wesentliche Interesse der vorliegenden Arbeit ist, zu analysieren inwiefern die EU bisher fähig war EU-Normen und -Werte in Russland zu implementieren, wird deshalb im folgenden Kapitel zunächst herausgearbeitet, welche Interessen die EU und Russland bei ihrer gegenseitigen Interaktion verfolgen. Die Interessen der EU und Russlands hinsichtlich ihrer gegenseitigen Kooperation werden im Folgenden anhand verschiedener Strategiepapiere zu den außenpolitischen Positionen der beiden Akteure erarbeitet und durch einordnende Sekundärliteratur ergänzt. Zunächst werden die Interessen der EU hinsichtlich einer Kooperation mit Russland herausgearbeitet, bevor umgekehrt die russischen Interessen an einer Kooperation mit der EU analysiert werden. In einem abschließenden Unterkapitel werden die Interessen der beiden Akteure gegenübergestellt und hieraus Schlussfolgerungen für die Untersuchung des EU-Norm und -Wertexports nach Russland gezogen.
4.1 Interessen der EU gegenüber Russland
Betrachtet man die Interessenentwicklung der EU gegenüber Russland im Verlauf der Zeit, charakterisiert sich das Interesse der EU in den 1990er Jahren Timmermann folgend insbesondere in dem Wunsch, dass Land zu einem berechenbaren Partner zu machen (Timmermann 1996: 196). Dieses Interesse bildet sich auch in einer vom Europäischen Rat im Dezember 1995 beschlossenen „Strategie der Union für die künftigen Beziehungen EU/Russland“ ab, in der der Wille der EU zur Beitragsleistung zu demokratischen Reformen betont wird, eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ins Auge gefasst und ein sicherheitspolitischer Dialog mit Russland angeregt wird (Europäischer Rat 15.12.1995: 24-26).
Hierauf aufbauend wurde schließlich eine „Gemeinsame Strategie der Europäischen Union für Russland“ im Juni 1999 unter deutscher Ratspräsidentschaft verabschiedet, um auf die im August 1998 eingetretene russische Währungskrise mit einer langfristig angelegten Russlandpolitik der EU zu reagieren (Bastian 2006: 117 f.). Die Gemeinsame Strategie benennt in einem ersten einleitenden Satz, wie sich die EU die zukünftige Rolle Russlands vorstellt. So wird „ein stabiles, demokratisches und prosperierendes Rußland, das fest in einem geeinten Europa ohne neue Trennungslinien verankert ist“ (Europäischer Rat 04.06.1999: L 157/1) ersehnt. Gleichzeitig wird Russland der Wille attestiert „im Geiste der Freundschaft, der Zusammenarbeit, des fairen Interessenausgleichs und getragen von den im gemeinsamen Erbe europäischer Zivilisation verwurzelten verbindenden Werten wieder den ihm zustehenden Platz in der europäischen Familie einzunehmen.“ (Europäischer Rat 04.06.1999: L 157/1) Hieran wird zum einen die Erwartung der EU an Russland offensichtlich, den im Sinne der EU geprägten Wertevorstellungen eines demokratischen, friedlichen und auf wirtschaftlichen Handel fokussierten Akteurs zu folgen. Zum anderen wird Russland aber auch zugestanden, diese Werte aktiv umzusetzen und sich gestaltend einzubringen. In Teil I der Gemeinsamen Strategie werden schließlich diese einleitenden Bemerkungen anhand vier großer Hauptziele präzisiert, die die EU gegenüber Russland verfolgt. Dies sind die „Festigung der Demokratie und des Rechtsstaats und die Stärkung der staatlichen Institutionen in Rußland“, die „Einbeziehung Rußlands in einen gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum“, die „Zusammenarbeit zur Stärkung der Stabilität und Sicherheit in Europa und in einem umfassenderen Rahmen“ sowie die Bewältigung von „Gemeinsame[n] Herausforderungen auf dem europäischen Kontinent“, im Rahmen dessen Bereiche wie Umweltschutz, Kriminalitätsbekämpfung, regionale Zusammenarbeit und die Energiepolitik genannt werden (Europäischer Rat 04.06.1999: L 157/2 f.). Diese vier Hauptthemen werden schließlich in Teil II der Strategie in einzelne so genannte Aktionsbereiche untergliedert, die wiederum in Teil III durch spezifische Initiativen ergänzt werden, die zur Umsetzung der Hauptziele beitragen sollen (Europäischer Rat 04.06.1999: L 157/4-9).
Die Gemeinsame Strategie der EU für Russland von 1999 lässt sich insgesamt als Angebot der EU an Russland lesen der drohenden Abschottung Russlands von dem zentraleuropäischen Raum entgegenzuwirken. So wird das Interesse der EU ersichtlich, die Bildung von Gräben durch eine „inklusive Strategie von Partnerschaft und Kooperation, die das Land als integralen Bestandteil der europäischen Staatenfamilie ausweisen soll“ (Timmermann 1999b: 6), zu überwinden. Außerdem stellt die Gemeinsame Strategie ein Bekenntnis des Willens der EU zu einer umfassenden Integration Russlands in den europäischen Wertekanon dar (Bühling 2018: 243). Auch Schneider stellt eine durch die Strategie ausgelöste Aufbruchsstimmung fest. Charakteristisch sei der zum Ausdruck kommende langfristige Ansatz und das auf die Kooperation der beiden Akteure sowohl auf lokaler, regionaler, nationaler sowie supranationalem Ebene abgezielt werde (Schneider 2005: 6). Der auf eine Vielzahl verschiedener Politikbereiche ausgeweitete strategische Ansatz gegenüber Russland, geht nach Bastian jedoch zu Lasten der Konkretisierung. So verblieben die in der Strategie genannten Punkte überwiegend unterhalb der Schwelle von operativen Maßnahmen, weswegen eher von einer Wunschliste an Russland als einem strategischen Dokument gesprochen werden könne (Bastian 2006: 199).
In der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 wurde schließlich der Grundtenor der Gemeinsamen Strategie für Russland von 1999 aufgenommen. So wird der Wille der EU betont sich weiter um engere Beziehungen zu bemühen, da Russland einen wichtigen Faktor für die Sicherheit und den Wohlstand der EU darstelle. Die Ausführungen schließen mit der Feststellung, dass „die Verfolgung gemeinsamer Werte […] die Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft bestärken“ (Rat der Europäischen Union 2003: 16) werde. Ebenfalls im Jahr 2003 wurden daneben erstmals Grundüberlegungen zur Ausgestaltung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) vorgestellt, in dessen Rahmen Russland im Konzeptionsstatus integriert war. In einem hierzu veröffentlichten Strategiedokument der Europäischen Kommission vom März 2003 wurde Russland dadurch erstmals in einen größeren strategischen Rahmen mit anderen Nachbarstaaten der EU einbezogen (Commission of the European Communities 11.03.2003). Die in den strategischen Überlegungen der EU-Kommission zur ENP enthaltenen Passagen zu Russland können als klare Willensbekundung der EU gesehen werden, die Präzisierung und Intensivierung der Beziehung der EU zu Russland vor der damals kurz vor Abschluss stehenden Erweiterungsrunde der EU anzugehen (Fröhlich 2014: 251).
Erst am 14. März 2016 wurden schließlich im Rahmen einer Sitzung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten erneut eine strategische Vereinbarung hinsichtlich der Interessen der EU bei der Interaktion mit Russland vorgestellt. Diese entstand unter Beachtung der stark veränderten Rahmenbedingungen seit 2014 durch die Annexion der Krim durch Russland und die Rolle Russlands in der Ostukraine (Council of the European Union 14.03.2016: 4). Das Dokument hält fünf neue Leitprinzipien fest, die von Seiten der EU bei der Interaktion mit Russland verfolgt werden. Nur einer dieser Leitprinzipien setzt auf einen direkten Kontakt zu russischen staatlichen Stellen durch eine selektive Kooperation in Bereichen, die von Interesse für die EU sind. Als Beispiel hierfür werden der Umgang mit dem Iran, der Friedensprozess im Nahen Osten oder Syrien genannt, aber auch Kooperationen im Bereich der Migration, Anti-Terrorismusbekämpfung und des Klimawandels (European External Action Service 14.03.2016a). Die übrigen vier Leitlinien in Form der obligatorischen Umsetzung des Minsker Abkommens, der Stärkung der Beziehungen zu den östlichen Partnern der EU, der Resilienz gegenüber schadhaften Bestrebungen Russlands und der Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft, stellen dagegen reaktive Maßnahmen auf die Handlungen der russischen Regierung dar (Russell 2020: 2-7). In einer Neuauflage der Europäischen Sicherheitsstrategie, die im Juni 2016 veröffentlicht wurde, werden diese fünf Grundprinzipien der Interaktion mit Russland weitestgehend aufgenommen und Russland als strategische Schlüsselherausforderung benannt (European External Action Service 2016b: 33). Die fünf Leitprinzipien wurden ferner im Rahmen der Sitzung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten im März 2020 bestätigt und stellen somit den aktuellen Stand des Interesses der EU gegenüber Russland dar (EU Delegation to Turkey 06.03.2020). Ersichtlich wird somit, dass die EU in den jüngsten Dokumenten ihr Hauptinteresse in der Abwehr negativer Auswirkungen der russischen Politik auf den EU-Raum festmacht. Im Vergleich zu früheren Strategiedokumenten wird ferner eine mögliche Kooperation in bestimmten Bereichen allein aus pragmatischen, streng interessengeleiteten Erwägungen in Betracht gezogen und nicht mehr durch den Wunsch einer Einbeziehung Russlands in die Gestaltung des europäischen Wertefundaments unterlegt.
Insgesamt lassen sich aus den ausgewerteten Strategiedokumenten der EU für Russland verschiedene Interessen herauslesen. So wird jederzeit das Interesse der EU sichtbar, durch eine Kooperation mit Russland ihre Rolle als ökonomischer Akteur zu stärken. Gleichzeitig ist aber auch das Ziel der EU ersichtlich ihr sicherheits- und außenpolitisches Handlungspotenzial auszubauen, indem bei regionalen Krisensituationen die Zusammenarbeit mit Russland gesucht wird (Gaedtke 2009: 175). Bedeutsam ist daneben eine politische Komponente. So verfolgt die EU, insbesondere in den frühen Jahren der gegenseitigen Interaktion, das Interesse, Russland bei der Entwicklung zu einem demokratischen Rechtstaat zu unterstützen (Schneider 2005: 3). Aus den Strategien der 1990er Jahre geht der klare Wille der EU hervor institutionelle Wege zu finden, um Russland stärker an den europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsraum zu binden. Zentrale Bedingung des Kooperationsinteresses der EU bildet jedoch in allen Strategien, die vor den fünf Leitprinzipien von 2016 entstanden, die einseitige Harmonisierung markwirtschaftlicher, rechtsstaatlicher und demokratischer Grundprinzipien zu Lasten Russlands. Haukkala folgend agiert die EU deshalb als „essentially post-sovereign international institution that promotes one-sided transformation, harmonization and gradual integration, even assimilation, with the EU’s norms and values, but not with its institutions”(Haukkala2007:138). Das Interesse der EU an Russland stellt sich somit als sicherheitspolitische, wirtschaftspolitische und einzelne Sachpolitiken überspannender Kooperationswunsch dar. Dieser ist aber an die Konditionalität einer Adaption Russlands an das EU-Wertefundament gebunden, der nicht zwischen den Partnern verhandelbar ist. Aufgrund der mit der Krimannexion zunehmend offensichtlich werdenden Weigerung Russlands, die Grundwerte der EU zu teilen, ist schließlich das Interesse der EU an einer umfänglichen wertebasierten Kooperation mit Russland einer pragmatischen Kooperation in einzelnen Interessenbereichen gewichen.
4.2 Interessen Russlands gegenüber der EU
Im Anschluss erfolgt eine Betrachtung der Entwicklung der russischen Interessen gegenüber der EU, die zu Anfang der 1990er Jahre auf die Sicherstellung eines Mindestmaßes an politischer und wirtschaftlicher Unterstützung durch die EU reduziert waren (List 2011: 225). In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts kann jedoch schließlich ein Wandel des Interessenfokus auf die Wiederbelebung eines russischen Großmachtanspruchs und eine pragmatischere, an den konkreten Interessen Russlands orientierte Linie festgestellt werden (Timmermann 1996: 197). Nichtsdestotrotz war die russische Regierung weiterhin auf die Unterstützung der EU zur wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung des Staates angewiesen. Die Einseitigkeit dieser Abhängigkeit drückt sich auch dadurch aus, dass die russische Regierung in den 1990er Jahren keine Strategiepapiere hinsichtlich der Entwicklung der Beziehung mit der EU ausarbeitete (Schulze 2001: 445 f.).
Mit der „Mittelfristigen Strategie zur Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union (2000-2010)“ ordnete die russische Regierung im Jahr 2000 aber erstmals ihre Interessen gegenüber der EU und reagierte hiermit auf die Gemeinsame Strategie der EU für Russland aus dem Jahr 1999. Da auf die mittelfristige Strategie kein Zugriff erlangt werden konnte, erfolgt eine Analyse derselben im Folgenden anhand von Sekundärliteratur. Hierin wird argumentiert, dass die russische Strategie zum Großteil die Hauptziele der ein Jahr zuvor erschienen EU-Strategie aufgreift, sich aber insbesondere auf den sicherheitspolitischen Dialog fokussiert, wobei die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Grundlage der europäischen Sicherheitsarchitektur genannt wird (Bastian 2006: 121 f.). Dabei wird die Hoffnung Russlands offenbart, durch diese Kooperation eine multipolare Weltordnung zu stärken und die EU weg von einer Zentrierung auf die Nato zu führen (Lynch 2004: 103 f.; Timmermann 1999b: 2 f.). Auch wenn grundsätzlich die Bereitschaft zur Angleichung an europäische Wirtschaftsstandards und Rechtsbestimmungen erklärt wird, verdeutlicht die Strategie, dass sich Russland als Weltmacht sieht und weder eine Mitgliedschaft noch eine Assoziierung mit der EU anstrebt (Bastian 2006: 121 f.). Lediglich eine Kooperation in der Form von gleichberechtigten Vertragsbeziehungen, die jedoch außerhalb einer formalen Integration angesiedelt sind, werden in der Strategie intendiert (Fröhlich 2014: 238). Dies geht einher mit einer klaren Absage an den von der EU in ihrer Gemeinsamen Strategie gelegten Fokus auf eine demokratische Konsolidierung Russlands, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaft. Punkte wie die Garantie unabhängiger Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Medien, die eine bedeutende Zielsetzung in der Gemeinsamen Strategie der EU darstellen, werden in der russischen mittelfristigen Strategie nicht genannt (Zaslavskaia 2011: 278 f.).
Die Bedeutung der unangetasteten nationalen Souveränität für Russland wird auch in der Sicherheitsstrategie von 2009 deutlich, in der eine gleichberechtigte Kooperation mit den führenden Mächten angestrebt wird. Dies schließe eine klare Ablehnung der Unterordnung Russlands im sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Bereich und die Einflussnahme auf das normative Fundament Russlands durch andere Partner bei der Kooperation ein (Bühling 2018: 247 f.). Das Interesse Russlands an einer Anerkennung als gleichberechtigter und souveräner Partner wird auch an der Reaktion auf die ENP-Strategie der EU deutlich. So zeigte sich die russische Regierung verstimmt darüber, dass sie mit anderen Ländern in eine gemeinsame strategische Zielsetzung integriert und nicht gesondert behandelt werde, obwohl Russland auf einem anderen Entwicklungsniveau als die arabischen Mittelmeerländer und die anderen osteuropäischen Staaten sei (Schneider 2005: 13 f.). Gleichzeitig sah Russland durch die ENP-Strategie die von Russland dominierte Organisation der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) durch ein alternatives Integrationszentrum in Gefahr (Fröhlich 2014: 251). Hieran wird ersichtlich, dass Russland die Sicherung einer Einflusssphäre in Osteuropa als nationales Interesse begreift und einen Wettbewerb um diesen Raum mit der EU ablehnt (Litwin 2018: 204 f.).
Auch in den Außenpolitikkonzepten Russlands, die ab dem Jahr 2000 in drei bis achtjährigen Abständen erschienen, kommt sowohl ein Interesse an der Kooperation als auch eine gewisse Skepsis Russlands hinsichtlich der Integrationsbemühungen der EU zur Sprache. So wird in dem Außenpolitikkonzept von 2000 die EU als einer der ökonomisch und politisch bedeutsamsten Partner Russlands benannt, mit der es eine „intensive, stable and long-term cooperation devoid of expediency fluctuations“ (President of the Russian Federation 28.06.2000: 9) zu entwickeln gebe. Hinsichtlich der Entwicklung verschiedener EU-Projekte wie den EU-Erweiterungsbestrebungen, der Einführung einer europäischen Währung und der Weiterentwicklung der GASP werde Russland versuchen, seine Interessen geltend zu machen und diese auch bilateral gegenüber einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu vertreten, da in der EU aktuell kein adäquater Respekt für die russischen Positionen vorhanden sei (President of the Russian Federation 28.06.2000: 9 f.). Hieran wird deutlich, dass Russland beabsichtigt, seine gegenüber der EU bestehenden Interessen auch in bilateralen Kontakten mit den Mitgliedstaaten durchzusetzen und gleichzeitig ein gewisses Mitspracherecht hinsichtlich der Ausweitung des EU-Raumes beansprucht. Auch in dem nachfolgenden Außenpolitikkonzept von 2008 wird die EU als wichtiger Handels-, Wirtschafts- und außenpolitischer Partner genannt. Als langfristige Perspektive wird außerdem das Interesse Russlands bekundet, einen strategischen Partnerschaftsvertrag mit der EU zu vereinbaren, der „most advanced forms of equitable and mutually beneficial cooperation with the European Union in all spheres“ (President of the Russian Federation 12.07.2008: 16) enthält. Hieraus lässt sich eindeutig das Interesse Russlands an einer pragmatischen, auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte gerichteten Kooperation herauslesen, in der normative Bedingungen der Kooperation keinerlei Platz finden. Das Außenpolitikkonzept von 2013 schließt sich an den grundlegenden Impetus der Vorgängerkonzepte an, betont aber besonders das Interesse Russlands an einem grenzenlosen europäischen Raum, indem klargestellt wird, dass „in its relations with the European Union, the main task for Russia as an integral and inseparable part of European civilization is to promote creating a common economic and humanitarian space from the Atlantic to the Pacific“ (President of the Russian Federation 18.02.2013: Nr. 56). Der EU wird somit indirekt vorgehalten nicht fähig zu sein, einen solchen umfassenden, Europa vollständig integrierenden Raum zu schaffen. Bezugnehmend auf die Situation in der Ukraine verstärkt Russland im Außenpolitikkonzept von 2016 schließlich diesen Vorwurf und unterstellt der EU im letzten Vierteljahrhundert eine geopolitische Expansion betrieben zu haben und sich einem gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Kooperationsrahmens zu verweigern (President of the Russian Federation 01.12.2016: Nr. 61). Darüber hinaus wird aber grundsätzlich an dem Wunsch der früheren außenpolitischen Konzepte zur wirtschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Kooperation festgehalten und konkret der Energiebereich, die Harmonisierung des europäischen und eurasischen Integrationsprozesses, der Kampf gegen internationale Kriminalität und Terrorismus sowie das Potenzial einer Visafreiheit zwischen der EU und Russland herausgestellt (President of the Russian Federation 01.12.2016: Nr. 63-65).
Insgesamt zeichnen sich die russischen Interessen gegenüber der EU somit durch einen pragmatischen Kooperationsansatz aus, der auf die wirtschafts- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit fokussiert ist, wertebasierte gemeinsame Anstrengungen aber beinahe vollständig außer Acht lässt. In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion war Russland aus einer Position der Schwäche bereit politische Bedingungen und Vorgaben der EU für wirtschaftliche und finanzielle Unterstützungsangebote zur Konsolidierung der staatlichen Strukturen hinzunehmen. Mit zunehmender Zeitdauer hat sich dagegen das Interesse Russlands an einer Art der Kooperation mit der EU durchgesetzt, die frei von normativen Vorgaben und etwaigen Unterordnungsverhältnissen ist. So wird in den russischen Strategien in keiner Weise das Bestehen eines einheitlichen europäischen Wertefundaments und hieraus ersichtlicher Bedingungen für die Ausgestaltung gesellschaftlicher und politischer Strukturen angeführt. Vielmehr setzt Russland in seinen Strategien von Beginn an darauf, die EU als auf Sachpolitiken fokussierter Modernisierungspartner für die heimische Wirtschaft zu gewinnen. Auch wenn in den Strategiepapieren Russlands gegenüber der EU bis zuletzt das Interesse an einer tiefergehenden Kooperation mit der EU in wirtschafts- und sicherheitspolitischen Bereichen kenntlich gemacht wird, ist mit voranschreitender Zeit zunehmend ersichtlich, dass Russland in der EU einen Akteur sieht, der für das östliche Europa und damit einem gewichtigen Interessenbereich Russlands, wachsende Bedeutung hat. Hierdurch sieht Russland aber gerade sein Interesse an einem blockfreien und einheitlichen europäischen Raum, geprägt durch die einzelnen Nationalstaaten, gefährdet. Dies wird auch an dem in den Außenpolitikkonzepten ausgedrückten Anspruch ersichtlich, mit den EU-Mitgliedstaaten starke bilaterale Beziehungen aufzubauen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Abschließend lässt sich Timmermann folgend feststellen, dass Russlands Interesse gegenüber der EU durch eine pragmatische Konzeption der Beziehungspflege geprägt ist, in der die Umsetzung der spezifischen nationalen Interessen Russlands die Leitlinie sind und eine Eingliederung in die westliche Wertegemeinschaft, wenn überhaupt, aus Opportunitätsgründen zur Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen erwogen wird (2000: 5).
4.3 Gegenüberstellung der Interessen
Stellt man abschließend die Interessen der EU und Russlands an einer Kooperation gegenüber, lassen sich zunächst einige Gemeinsamkeiten attestieren. Sowohl Russland als auch die EU verweisen in ihren Strategien auf ein Interesse an einer wirtschaftlichen Kooperation, die sich aus der Interdependenz in den Bereichen des Energiesektors und der industriellen Produktion begründet. Auch einer Kooperation bei sicherheitspolitischen Fragestellungen stehen beide Akteure grundsätzlich offen gegenüber. So zielte die EU von Anfang an darauf ab mit Russland in sicherheitspolitischen Fragen zu kooperieren, um diverse Krisenherde zu beruhigen und insbesondere in Osteuropa und dem Nahen Osten stabile Verhältnisse zu schaffen. Russland hat dieses Kooperationsinteresse in der Sicherheitspolitik ab Mitte der 1990er Jahre ebenfalls zunehmend aufgenommen und insbesondere auf die Wiederherstellung eines russischen Großmachtanspruchs und eine zunehmende Abkopplung der EU von den USA und der NATO abgezielt. Diese verschiedenen Motive der beiden Akteure deuten jedoch schon ein gewisses Konfliktpotenzial an.
Entscheidendes Spannungsmerkmal hinsichtlich der Interessen Russlands und der EU an einer Kooperation ist jedoch die Ausgestaltung und Prägung des europäischen Raumes. Beide Akteure betonen zwar grundsätzlich den Willen einen einheitlichen und grenzenlosen europäischen Raum schaffen zu wollen, doch dessen Konditionen sind zwischen beiden Akteuren stark umstritten. So drückt die EU wiederholt in ihren Strategien den Willen aus, eine umfangreiche wirtschaftliche und sicherheitspolitische Kooperation an die Bedingung der Adaption des EU-Wertefundamentes durch Russland zu knüpfen. Hieraus geht eine Erwartung der EU an Russland hervor, die Entwicklung zu einem demokratischen Rechtstaat nach den Vorstellungen der EU zu beschreiten. Russland wiederum hat ein diesem Ansatz zuwiderlaufendes Interesse, da es die Gestaltung eines einheitlichen europäischen Raumes gerade zur Stärkung seiner nationalen Souveränität nutzen möchte, deshalb auf die Bedeutung der Nationalstaaten für die Entwicklung des europäischen Raumes setzt und einer wertebasierten Kooperation, die eine teilweise Unterordnung Russlands unter supranationale Prinzipien inkludiert, zu keiner Zeit in seinen Strategien aufgreift. Vielmehr wird in den russischen Strategien ein Interesse an gleichberechtigten nationalstaatlich geprägten Kooperationsbemühungen in Europa ersichtlich, die sich auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte konzentrieren und die Ausgestaltung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse den einzelnen Nationalstaaten überlassen. Haukkala hält deshalb treffenderweise als zentrales Problem der fehlenden Kompatibilität der europäisch-russischen Interessen bei einer möglichen Kooperation fest, dass die EU nach einem Lehrer-Schüler-Modell strebe, was sich aber nicht mit Russlands eigenen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen zwei gleichwertigen souveränen Partnern verknüpfen lasse (2007: 138).
Insgesamt kann abschließend für die Interessen Russlands und der EU die Beobachtung Headleys aufgegriffen werden, dass Russland grundsätzlich gewillt sei, sich im internationalen Verhältnis auf technisch-wirtschaftliche Normen zu einigen und diese auch umzusetzen. Gleichzeitig lehne Russland aber europaweite soziopolitische Normen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der politischen Systeme und Menschenrechte ab, da diese, der Ansicht Russlands nach, von kulturellen Besonderheiten abhängig seien. Die EU vertrete dagegen ein Interesse an einem umfassenden normativ prägenden Ansatz für den europäischen Raum, der vorsehe, gerade die soziopolitischen und technisch-wirtschaftlichen Normkomponenten für untrennbar zu erklären (Headley 2015: 226). Bei der Analyse der External Governance Anstrengungen der EU gegenüber Russland soll deshalb insbesondere herausgearbeitet werden, inwiefern die EU erreicht hat, Russland sowohl zu einer technisch-wirtschaftlichen als auch soziopolitischen Norm- und Wertverankerung zu bewegen.
5. External Governance als theoretisches Modell
Im folgenden Kapitel wird mit dem External Governance Ansatz ein Konzept aufbereitet, mit dem die Anstrengungen des auswärtigen Handelns der EU gegenüber Russland sowie der abgezielte Norm- und Wertexport analysiert werden kann. Hierzu wird zunächst ein Überblick über das External Governance Konzept gegeben, bevor die Modi der External Governance herausgearbeitet werden, ein Blick auf die bisherige Anwendung des External Governance Konzeptes in der Forschung geworfen wird und eine Kategorisierung der durch External Governance ins Ziel genommenen Politikbereiche erfolgt. Abschließend wird eine Operationalisierung der External Governance-Modi und der Kategorisierung der Politikbereiche erarbeitet, um diese im späteren empirischen Teil der Arbeit anzuwenden.
5.1 Definition und Hintergrund
Zunächst wird das Konzept der External Governance definiert sowie dessen Ursprung und Entwicklung in der Literatur aufbereitet. Die Charakterisierung der Koordinierung der gesamten EU-Politik als Governanceregime ist in der wissenschaftlichen Literatur stark vertreten. Als wesentliche Komponente eines Governanceregimes wird das Vorhandensein einer Governancestruktur angenommen, die wiederum aus verschiedenen gegenseitig institutionell verbundenen Governanceformen besteht, „wobei als Governanceform eine Institution verstanden wird, die mehr oder weniger erfolgreich das Handeln (vor allem) politischer Akteure koordiniert, um gemeinsame Probleme zu lösen“ (Simonis 2011: 20). Dabei besteht hinsichtlich der EU insbesondere die Chance das Zusammenspiel zwischen den nationalen Regierungen, EU-Institutionen und privaten Akteuren, die auf verschiedenen Ebenen miteinander interagieren, herauszustellen (Lavenex 2004: 682). Zentrales Kennzeichen des Governanceansatzes ist somit die Einbeziehung von horizontalen und hierarchischen Regelungsinstitutionen, freiwilligen Instrumenten als auch rechtlichen Verpflichtungen (Lavenex/Schimmelfennig 2009: 795).
Die Übertragung des Governanceansatzes auf das auswärtige Handeln der EU mit dem Konzept der External Governance zeichnet sich durch das Ziel aus fassbar zu machen, inwiefern die EU fähig ist Einfluss auf Drittstaaten außerhalb ihrer eigenen Grenzen zu gewinnen und die im Rahmen dessen genutzten Mechanismen herauszustellen (Dercaci 2016: 287 f.). Das Konzept der External Governance verfolgt einen weniger akteurszentrierten, als vielmehr institutionellen und strukturellen Blickwinkel auf das auswärtige Handeln, was ermöglicht, den Fokus von der Kritik einer teils nicht strategisch kohärenten und hinsichtlich der formalen Kompetenzen eingeschränkten EU-Außenpolitik zu lösen und stärker „institutional processes of norm diffusion and policy transfer“ (Lavenex/Schimmelfennig 2009: 794 f.) in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt steht also zu untersuchen, „how effective or legitimate the EU is outside its borders“ (Baltag/Romanyshyn 2011: 4) und dabei über einen alleinigen Fokus auf einen intergouvernementalen Ansatz mit einheitlicher Akteursperspektive hinauszugehen. Konkret geht es um die Ausdehnung der regulativen und organisationalen Grenzen der EU über den Bereich der Mitgliedstaaten hinaus, wobei jedoch deren Ausdehnung nicht in identischem Umfang stattfinden muss (Lavenex 2004: 683). Dabei umschreibt die regulative Grenze die Ausweitung von EU-Regeln oder -Politiken auf Nichtmitgliedstaaten, während die organisationale Erweiterung die Einbeziehung von Nichtmitgliedstaaten in Institutionen darstellt, die die Politik- und Regelnormierung betreiben (Lavenex/Schimmelfennig 2009: 796). Erfasst wird durch das Konzept somit nicht nur eine mögliche Kooperation zwischen der EU und Drittstaaten mit der Zielsetzung eines Interessenausgleiches, sondern es wird zusätzlich analysiert, inwiefern die EU ihre Ordnungsvorstellungen auf Drittstaaten überträgt (Kahl 2007: 65). Die Möglichkeit durch das External Governance Konzept den Transfers von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen abzubilden, kann unter anderem auch dazu beitragen die Besonderheit der EU mit ihrem postmodernen Akteursverständnis und der Ablehnung traditioneller Machtpolitik einzufangen (Heller 2008: 65). Damit fügt es sich auch in die in Kapitel 3.3 definierte Rolle der EU als normative Macht ein.
5.2 Modi der External Governance
Die Anstrengungen der EU zur Übertragung ihres Norm- und Wertfundamtes werden in der Literatur in drei verschiedene Modi der External Governance in Form des Hierarchie-, Netzwerk- und Marktmodus unterteilt (Lavenex/Schimmelfennig 2009; Lavenex/Lehmkuhl/Wichmann 2009). Diese werden im Folgenden definiert und für die Anwendung in der vorliegenden Untersuchung aufbereitet. Die unterschiedlichen Modi der External Governance werden maßgeblich durch den Interaktionsmodus der Akteure und den hieraus hervorgehenden Abstufungen der Mechanismen für den Regelexport definiert (Lavenex/Schimmelfennig 2009: 796 f.). Die drei Idealtypen der Modi der External Governance werden jedoch nicht mit der komplexen empirischen Realität gleichgesetzt, bei der die einzelnen Modi oft nicht trennungsscharf sind (Lavenex/Lehmkuhl/Wichmann 2009: 816). Nichtsdestotrotz kann in den Modi der External Governance ein wertvolles heuristisches Instrument gesehen werden, um sowohl die Makroebene der EU-Russland-Beziehungen, als auch einzelne Politikbereiche auf der Mesoebene zu analysieren, einzuordnen und miteinander zu vergleichen.
Zunächst wird der Hierarchiemodus der External Governance aufgearbeitet, für den ein formalisiertes Verhältnis der Dominanz eines Akteurs und der Unterordnung eines anderen in einer stark asymmetrischen Beziehung kennzeichnend ist. Die Ausgestaltung der Beziehung wird dabei zur Schaffung allgemeinverbindlicher Regelungen genutzt, die nicht verhandelbar, rechtlich bindend und bei Nichteinhaltung sanktionierbar sind (Lavenex/Schimmelfennig 2009: 797). Die Beeinflussung der Drittstaaten erfolgt über Institutionen, die nur sehr geringfügig auf Interaktion und die Beeinflussung der Bedingungen durch die Drittstaaten setzen (Lavenex/Lehmkuhl/Wichmann 2009: 815).
[...]
1 Im Folgenden wird zur besseren Lesbarkeit nicht die offizielle Bezeichnung „Russländischen Föderation“ bzw. „Russischen Föderation“ verwendet, sondern auf diesen Staat durch die Kurzform „Russland“ verwiesen.
2 Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon. Bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 13. Zuletzt geändert durch ABl. EU L 112/21 vom 24.4.2012 m. W. v. 1.7.2013.
3 Diese Definition deckt sich auch mit derjenigen von Headley, für den „values can be understood to be the broad ethical principles underlying specific ways of behaving in a range of contexts and policy areas; these specific ways of behaving—norms—are manifestations of those values” (2015: 214).
4 Diese fassen die EU eigenen Werte bei der Außenpolitik in den Kategorien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Grundfreiheiten und good governance zusammen (Müller-Brandeck-Bocquet/Rüger 2015: 12).
- Arbeit zitieren
- Florian Hertle (Autor:in), 2021, Die Russische Föderation als Ziel der EU-External Governance. Genutzte Maßnahmen zur Norm- und Wertadaption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1236120
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