Der Mensch als Maß der Dinge - von Vitruv bis Le Corbusier


Term Paper (Advanced seminar), 2007

26 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Gliederung

1. Der Mensch als Maß

2. Vitruv und die Architekturtheorie

3. Die Symbolik des menschlichen Körpers im Mittelalter

4. In der Renaissance
4.1. Leon Battista Alberti
4.2. Leonardo da Vinci
4.3. Albrecht Dürer und die ideale Schönheit in der deutschen Renaissance
4.4. Giorgione und die Malerei

5. Das 17., 18. und 19. Jahrhundert

6. Le Corbusier und der Mensch in der Moderne

7. Zusammenfassung

8. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Der Mensch als Maß

Dass der Mensch seine Gestalt, sein Denken, Fühlen und Handeln auf andere Dinge überträgt, ob nun auf abstrakte oder direkte Art und Weise, scheint ein ur-menschliches Vorgehen zu sein. Anthropomorphe Vorstellungen sind in der abendländischen Kultur zu allen Zeiten auffindbar. In der Sprache, der Literatur, in politischen Theorien, in der Philosophie, der Theologie und der bildenden Kunst treten diese Grundmuster menschlichen Denkens auf. Je weiter man schließlich „zeitlich zurückgeht, desto mehr Anthropomorphismen sind zu finden, ebenso mehr irrtümliche Erklärungen. Ihre außerordentliche Verbreitung verdankt die Menschenanalogie wohl dem Verfahren, unbekannte neue Dinge oder auf andere Weise Unsagbares durch etwas Vertrautes auszudrücken, in einer Metapher also – nichts liegt näher, als dabei auf den menschlichen Körper zurückzugreifen.“1

Ein Maß- und Proportionssystem auf der Grundlage des menschlichen Körper zu entwickeln durchzieht die gesamte Entwicklung der Künste, sowohl Architektur und Malerei als auch die Bildhauerei. Die im folgenden besprochenen Künstler und Architekten sollen zeitbezogene Beispiele dafür geben, wie mit dem Gedanken, den Mensch als das Maß aller Dinge einzusetzen, umgegangen wird.

Auch in der Politik und Philosophie nutzten die Gelehrten und Autoren den Vergleich mit dem menschlichen Organismus, um ihre Anschauungen über den Staat und die Welt deutlich zu machen. Platon entwickelte beispielsweise ein Modell des Staates, das er als einheitliches Individuum mit einer den Ständen entsprechenden dreigeteilten Seele definiert. Aristoteles will die gleiche Harmonie, die er in den verschiedenen Gliedern der menschlichen Gestalt findet, auch im Staat verwirklicht wissen. Auch Cicero benutzt die Metapher vom körperlichen Nutzen bestimmter Dinge für die Stadt, um seine anthropomorphe Staatsidee zu verdeutlichen. Außerdem stellt er sich die ganze Menschheit als einen einzigen Organismus vor. Philon von Alexandrien schließlich vergleicht den Kosmos mit einem wohlgeordneten Staat und diesen wiederum mit dem menschlichen Körper. Hauptsächlich die römische Staatslehre eignet sich diesen Vergleich an, bei dem meistens der Gedanke der Einheit im Vordergrund steht.2

Die weiteren Erläuterungen, warum gerade der Mensch als das maß-gebende Objekt funktioniert und Anthropomorphismen jede epochale Entwicklung überdauern, werden sich auf den kunsthistorischen Bereich beschränken.

Der Mensch empfindet sich als Mittelpunkt der Welt und macht seine Person zum Maßstab für persönliche Entscheidungen und naturgesetzliche Erklärungen. So verkörpert die Proportionslehre seit Jahrhunderten den Versuch, die Wirklichkeit und die ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu erfassen. Damit geht die Vorstellung einher, dass harmonische Maßverhältnisse die Grundlage ästhetischer Vollkommenheit seien.

Le Corbusier, einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts, schreibt über den Menschen, der die Urhütte auf einer selbstgerodeten Waldlichtung aus Holzstämmen errichtet hat: „Um richtig zu konstruieren, um die Kräfte richtig zu verteilen, um das Werk haltbar und zweckmäßig zu machen, sind feste Maße die Voraussetzung. Der Erbauer hat als Maßstab genommen, was ihm am leichtesten erreichbar war, was gleichbleibend war; er richtete sich nach demjenigen Hilfsmittel, das er am wenigsten verlieren konnte: nach seinem Schritt, seinem Fuß, seinem Ellenbogen, seinem Finger.“3 Der Rückgriff auf den eigenen Körper gibt augenscheinlich befriedigende Antworten auf die wichtigsten Fragen innerhalb des Nachdenkens über das von Menschenhand Geschaffene: In welche Einteilungen lässt sich ein Maßstab gliedern? Woher kommt die Harmonie darin? Welche Maßverhältnisse sind für die Konstruktion zu beachten? Welche Maße und Proportionen bewirken Schönheit?

Die französische Nationalversammlung führt 1795 den Meter ein. Davor basierten alle Maße, wie Elle und Fuß, auf vom Menschen genommenen Dimensionen, waren also anthropomorph.4

2. Vitruv und die Architekturtheorie

Mit dem einzigen erhaltenen, selbständigen Architekturtraktat der Antike De architectura libri decem ist Vitruv „zum Begründer der Architekturtheorie geworden. Jedenfalls ist sein Lehrbuch das erste, das aus vorchristlicher Zeit überliefert wurde.“5 Der traditionelle Anthropomorphismus geht durch dieses Werk in die Architekturlehre ein: der Mensch dient dem römischen Autor nicht nur als Metaphernspender, sondern auch ausgiebig als Vorbild und Vergleichsbeispiel. Eine besondere Bedeutung entwickelte der homo vitruvianus, die männliche Figur in Kreis und Quadrat, die unter anderem die Vollkommenheit der menschlichen Proportionen demonstrieren soll. Damit lässt sich „der Anthropomorphismus aus der Architekturtheorie nicht mehr wegdenken – in allen wichtigen Traktaten nicht nur der italienischen Renaissance spielt der Mensch als Beispiel seine Rolle, bis in den Barock hinein wird er immer wieder als Argument herangezogen, und auch moderne Theorien hat der traditionelle Anthropomorphismus inspiriert.“6

Vitruv, der selbst als Architekt tätig war, beginnt seine Schrift mit einer Metapher, die die umfassende Ausbildung des Baumeisters mit einem einheitlichen Körper vergleicht, der sich aus den Gliedern verschiedener Wissenschaftszweige zusammensetzt: „Für Vitruv ist dieser breite Fächerkanon keine willkürliche oder beliebige Auflistung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, sondern ein Analogon zum Körper des Menschen mit seinen verschiedenen Gliedern. So wie sich aus ihnen ein ideales Menschenbild ergibt, so auch fügen sich die verschiedenen Teile der Ausbildung [des Architekten] zu einem wohlgeordneten Ganzen.“7 Dieser Fächerkatalog umfasst Schreibgewandtheit, Zeichnen, Geometrie, Geschichte, Philosophie, Musik, Medizin, Rechtssprechung und Astronomie.

Die zentrale Aufgabe des Traktats betrifft allerdings den Tempelbau. Das Grundprinzip dabei besteht in der Proportion. Den einzelnen Teilen am ganzen Bau und dem Gesamtbau wird ein berechnetes Modul als gemeinsames Grundmaß zu Grunde gelegt. Wenn die Einzelteile in geordneten Verhältnissen zueinander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen, erreicht das Gebäude Symmetrie: „Wenn also die Natur den menschlichen Körper so zusammengesetzt hat, dass seine Glieder in den Proportionen seiner Gesamtgestalt entsprechen, scheinen die Alten mit gutem Recht bestimmt zu haben, dass auch bei der Ausführung von Bauwerken diese ein genaues symmetrisches Maßverhältnis der einzelnen Glieder zur Gesamterscheinung haben.“8 Diese Symmetrie beinhaltet für Vitruv die Vorraussetzung idealen Bauens schlechthin. Der Vergleich mit der menschlichen Gestalt „zeigt aber zugleich, dass die Formen der Glieder hinzutreten, um aus dem Zusammenwirken von Formen und Proportionen ein ‚anmutiges Aussehen’ entstehen zu lassen; Vitruv bezeichnet dies als Eurythmia.“9 Außerdem fungiert der menschliche Körper direkt als Vorbild für das Maßsystem, indem die Maßeinheiten, wie Fuß, Hand und Finger, von dessen Körperteilen abgeleitet sind. Jedes Maß definiert Vitruv als Vielfaches einer kleineren anthropomorphen Einheit, etwa die Elle als 24 Fingerbreiten oder den Klafter als 96 Fingerbreiten. Diese letztgenannte größte Länge, die dem Maß der ausgebreiteten Arme entspricht, macht 6 Fuß aus, wie die gesamte Körperlänge. Ein Fuß bedeutet 4 Handbreiten und die Handbreite zählt 4 Fingerstärken.10 Letztendlich beschränkt sich Vitruv in der eigentlichen Beschreibung des Proportionskanons darauf, alle Dimensionen als einfache Brüche der Körperhöhe anzugeben. Die Entstehung der drei Säulenordnungen entwickelt er über das Grundmaß des Fußes. Die ionische Säule nimmt das Maß des Fußes eines Mannes als Modul. Dabei entsteht die Proportion 1:6, wobei die Körperhöhe des Mannes mit der Gesamtlänge der Säule gleichgesetzt wird und der Säulendurchmesser demnach einen Fuß beträgt. Der Fuß einer Frau steht für die dorische Säulenordnung Pate und erhält das Verhältnis 1:8. Die korinthische folgt einer noch größeren Schlankheit, für die Vitruv aber kein Proportionsverhältnis angibt.11 Am deutlichsten sprechen wohl Karyatiden und Atlanten als menschliche Stützfiguren die anthropomorphe Sicht auf die Säulen aus.

Dieses von Vitruv konstruierte anthropomorphe Maßsystem zielt auf Praktikabilität und Einfachheit. Deshalb benutzt er vorzugsweise einfache Brüche und runde Vielfache, da einfache Zahlenverhältnisse natürlich eine leichtere Handhabung garantieren. Wahrscheinlich sind aus diesem Grund die einzelnen Maße nicht exakt aus den sowieso schon variierenden Verhältnissen des menschlichen Körpers abgeleitet: „Der Fuß z.B., entweder als ein Sechstel des Klafters oder als eine Länge von 16 Fingerbreiten, ist überdurchschnittlich groß und repräsentiert keineswegs die natürliche Dimension eines menschlichen Fußes, sondern lediglich einen entsprechend dem gesamten System aufgerundeten Wert. Da dieses System eher praktischen denn ästhetischen Zwecken dienen sollte, wurde eine etwas unschöne Abweichung von der als normal zu erwartenden Fußgröße in Kauf genommen, um so die arithmetische Brauchbarkeit zu gewährleisten.“12

3. Die Symbolik des menschlichen Körpers im Mittelalter

Den Grundstein für das anthropomorph gesehene Kirchengebäude legte Augustinus von Hippo, der als wichtigster Philosoph an der Zeitenwende von der Spätantike zum Mittelalter gilt und heute noch einen der bedeutendsten christlichen Kirchenlehrer darstellt: „Für die Vorstellung der anthropomorph gesehenen Kirche spielt besonders die Archendeutung eine wichtige Rolle. In seinem Hauptwerk De civitate Dei untermauert Aurelius Augustinus (354- 430), Bischof von Hippo Regius in Nordafrika, das traditionelle Verständnis der Arche als Präfiguration der Kirche mit einer Parallele zum Körper Christi.“13 Nicht zuletzt findet sich die Parallele zwischen der Arche Noah und eines Kirchengebäudes in der Bezeichnung des Innenraumes einer Kirche als Kirchenschiff.

In der Genesis beauftragt Gott Noah mit dem Bau der Arche: „Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech innen und außen. Und mache ihn so: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen.“14 Diese in der Bibel gegebenen Maße und Bauanordnungen setzt Augustinus zueinander in Beziehung und deutet so die Parallele zum menschlichen Körper:

„Wenn nun aber Noah [...] von Gott der Befehl gegeben ward, eine Arche zu bauen, so ist das ohne Zweifel ein Bild des in dieser Weltzeit pilgernden Gottesstaates, nämlich der Kirche, die gerettet wird durch das Holz, an dem der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, hing. Denn die Maße der Länge, Höhe und Breite weisen auf einen menschlichen Leib hin, wie der ihn in Wahrheit trug, der nach der Verheißung zu den

Menschen kommen sollte und kam. “15 Die genannte Tür an der Seite verweise auf die Wunde des Gekreuzigten, die ihm von Longinus mit einem Speer zugefügt worden ist, um seinen Tod festzustellen.

Mit der Symbolik von Kirchenbauten beschäftigen sich im Mittelalter Kirchenpatronen wie Abt Suger oder Baumeister wie Villard de Honnecourt, die verschiedenste Bedeutungen herausarbeiten.16 Guilelmus Durandus beispielsweise beschreibt in seinem Liturgietraktat Rationale divinorum operum in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Funktion, Herkunft und Bedeutung der Gottesstätte, der liturgischen Gewänder sowie der kirchlichen Zeremonien und Feste. Er entwirft eine kirchliche Enzyklopädie, in der er den gekreuzigten Körper Christi mit dem Haus Gottes vergleicht: „Die Gliederung der materiellen Kirche bewahrt das Maß des Körpers. Die Schranke oder der Ort, wo der Altar steht, stellt das Haupt dar, das Kreuz aus beiden Teilen die Arme und Hände, der übrige Teil vom Westen her was auch immer vom Körper noch übrig zu sein scheint.“17 Natürlich formt ein Mensch mit seinen ausgebreiteten Armen ein Kreuz und damit den Grundriss einer Basilika. Deshalb steht für Durandus der ecclesia materialis als geistiges Gegenbild nicht die ecclesia spiritualis allein gegenüber, sondern auch der mystische Leib Christi.

„Aus dem Mittelalter sind keine eigenständigen architekturtheoretischen Schriften bekannt. Das Interesse galt in dieser Zeit vorwiegend den christlichen Schriften und ihrer theologischen Auslegung,“18 allerdings beweist das Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt, dass die Baukunst auch zu dieser Zeit wissenschaftlichen Anspruch beinhaltet und theoretisches Lehrgut vermitteln will.

Villard versucht in einzelnen Kapiteln seiner Sammlung von Zeichnungen und Erklärungen dem menschlichen Körper und dessen Bewegungsvielfalt geometrische Formen einzuschreiben, um diese dann in einem festen System und in einer messbaren Norm auf die Architektur zu übertragen. Seine Arbeitsweise entspricht dem Ausführen „konstruktive[r] Gedanken auf geometrischer Grundlage frei nach künstlerischem Gutdünken“19 verbunden mit Überresten antiken Wissens. Die Proportionsskizze eines Stehenden en face zeigt Villards Hauptschema, das er bis in alle Einzelheiten durchkonstruiert hat. Als Maßeinheit wählt er die Kopflänge. Sie bildet, zweimal genommen, die Schulterbreite und die Entfernung zwischen den Knöchelpunkten. Sie ergibt weiterhin, viermal auf den Diagonalen abgetragen, die Zentren der Knies und, sechsmal verlängert, die Lage der Fußmitten. Die Rechnung geht wohl auf Vitruv zurück, nur dass Villards Mittelpunkt nicht im Nabel, sondern in der Scham liegt. Die Konstruktion verdeutlicht, dass Villard nicht von mathematischen Zahlenverhältnissen ausgeht, sondern einfach seine figuralen Vorstellungen mit den zunächstliegenden geometrischen in Einklang zu bringen sucht. Damit einher geht, „dass Villard aus Gebräuchlichem schöpft und zugleich Neues schafft. [...] Es wird hier nicht absolute, sondern angewandte Mathematik gelehrt, so wie die Praxis des Mittelalters alle Wissenschaften nur in angewandter, empirischer Form ausbaut.“20

[...]


1 Frings, 1998. S.11.

2 Vgl. Frings, 1998. S.20.

3 Le Corbusier, 1982. S.63.

4 Vgl. Zöllner, 1987. S.30.

5 Ungers, 2002. S.13.

6 Frings, 1998. S.12.

7 Knell, 1991. S.29.

8 Zitat von Vitruv. u.a. Ungers, 2002. S.20/21.

9 Knell, 1991. S.32.

10 Vgl. u.a. Knell, 1991. S.64.

11 Vgl. Frings, 1998. S.37.

12 Zöllner, 1987. S.25.

13 Frings, 1998. S.58/59.

14 Mos 6,14-16.

15 Balthasar, 1982. S.131.

16 Vgl. Rykwert, 2005. S.96.

17 Frings, 1998. S.61.

18 Ungers, 2002. S.30.

19 Hahnloser, 1972. S.88.

20 Hahnloser, 1972. S.104.

Excerpt out of 26 pages

Details

Title
Der Mensch als Maß der Dinge - von Vitruv bis Le Corbusier
College
Dresden Technical University  (Philosophische Fakultät - Institut für Kunst- und Musikwissenschaft)
Course
Mathematik und Kunst - Über den Einfluß mathematischer Innovation auf die Kunst
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
26
Catalog Number
V123776
ISBN (eBook)
9783640292073
ISBN (Book)
9783640292134
File size
539 KB
Language
German
Keywords
Mensch, Dinge, Vitruv, Corbusier
Quote paper
M.A. Corinna Schultz (Author), 2007, Der Mensch als Maß der Dinge - von Vitruv bis Le Corbusier, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123776

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