Vierzig Jahre lang war der gebürtige Wiener Johann Nestroy als Dramatiker, Schauspieler und zeitweise auch Theaterdirektor tätig. In dieser Zeit spielte er etwa 880 Rollen und schrieb einschließlich aller Fragmente und fremder Bearbeitungen 91 Stücke.Seine Possen knüpften an die Traditionen des Wiener Volkstheaters an und entwickelten diese erfolgreich weiter. Als wesentliche Neuerungen erschienen sein parodistischer Stil und die hintersinnigen Bezugnahmen auf die soziale Wirklichkeit Wiens. Beim zeitgenössischen Publikum verhalf ihm das zu großer Popularität – einer Popularität allerdings, die auf die Bühnenaufführungen beschränkt blieb. Theaterstücke, und noch dazu solche mit Lokalkolorit, galten gemeinhin als wenig beständige „leichte“ Ware ohne literarischen Anspruch; einer ernsthaften wissenschaftlichen Betrachtung wurden sie daher lange Zeit nicht für würdig befunden. Ebenso wenig dachte man daran, Buchausgaben herauszubringen – nur 17 von Nestroys Stücken erschienen zu seinen Lebzeiten im Druck. Die schriftliche Fixierung eines Bühnentexts ist freilich immer ein komplexes Unterfangen, da dieser unweigerlich eine Mittelstellung zwischen literarischem Werk und szenischem Spiel, zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit einnimmt. Das findet nicht nur in der erwähnten akademischen Abwertung seinen Niederschlag, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Beschaffenheit des Textbestands selbst, der den Produktionsprozessen des Theaterbetriebs unterworfen ist. Eine Edition solch „geschriebene[r] Schauspielkunst“ wird daher, je nach Ziel und Schwerpunktsetzung, eine Reihe zusätzlicher Aspekte zu berücksichtigen haben. Besagte Schwerpunktsetzung hängt allerdings vielfach vom gerade aktuellen Bild des zu edierenden Autors ab – ein Phänomen, das angesichts der äußerst wechselvollen Rezeption des Nestroyschen Œuvres in diesem Fall besonders ins Gewicht fallen könnte. Ob das so ist, nach welchen Kriterien Nestroy generell ediert wurde und welche editorischen Konsequenzen seine Herausgeber aus dem speziellen Status seiner Stücke gezogen haben, soll im Folgenden am Beispiel der drei vorliegenden Nestroy-Gesamtausgaben untersucht werden. In separaten Kapiteln wird hierfür ihre jeweils unterschiedliche Anlage, Struktur und Motivation analysiert und ausgewertet. Da Nestroys Arbeitsweise im Kontext der Schaffensbedingungen des Wiener Volkstheaters sowie die teils unerfreuliche Überlieferungsgeschichte seines Nachlasses die Grundkonstanten aller Nestroyforschung und -edition darstellen, werden auch sie zunächst ausführlich referiert.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Nestroys Werk: Entstehung und Überlieferung
- Nestroy-Editionen
- Vincenz Chiavacci und Ludwig Ganghofer: Johann Nestroys Gesammelte Werke
- Fritz Brukner und Otto Rommel: Johann Nestroy. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe
- Jürgen Hein und Johann Hüttner: Johann Nestroy. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Editionsgeschichte der Werke Johann Nestroys anhand dreier bedeutender Gesamtausgaben. Ziel ist es, die unterschiedlichen editorischen Ansätze, ihre Motivationen und die damit verbundenen Implikationen für die Rezeption Nestroys zu analysieren. Dabei wird der Einfluss der jeweiligen zeitgenössischen Nestroy-Rezeption auf die editorischen Entscheidungen beleuchtet.
- Entwicklung editorischer Standards im Umgang mit Nestroys Werk
- Wechselwirkung zwischen Autorrezeption und Herausgeberintention
- Die Herausforderungen der Textüberlieferung und -rekonstruktion
- Vergleichende Analyse der drei Gesamtausgaben
- Die Berücksichtigung des Theaterkontexts in der Edition
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1 (Einleitung): Die Einleitung skizziert Nestroys Leben und Werk, betont die Schwierigkeiten der schriftlichen Fixierung von Bühnentexten und die unterschiedliche wissenschaftliche Wertschätzung seiner Stücke. Sie kündigt die Analyse dreier Nestroy-Gesamtausgaben an.
Kapitel 2 (Nestroys Werk: Entstehung und Überlieferung): Dieses Kapitel beschreibt Nestroys Arbeitsweise, seine Verwendung von Vorlagen und die problematische Überlieferungsgeschichte seines Nachlasses, einschließlich der Schäden durch unsachgemäße Behandlung.
Kapitel 3.1 (Chiavacci/Ganghofer): Dieses Kapitel analysiert die erste Gesamtausgabe, ihre Auswahl der Textgrundlagen (vorwiegend Erstdrucke und Theaterabschriften), ihre subjektive Methodik und den Fokus auf die Bühnenwirksamkeit der Stücke.
Kapitel 3.2 (Brukner/Rommel): Die Analyse der zweiten Gesamtausgabe zeigt den Einfluss von Karl Kraus auf die Wertschätzung Nestroys und die editorischen Ziele. Der Fokus liegt auf der Rekonstruktion des Autorwillens durch Nutzung der Originalhandschriften, wobei auch die Grenzen dieser Methodik beleuchtet werden.
Kapitel 3.3 (Hein/Hüttner): Dieses Kapitel beschreibt die jüngste Gesamtausgabe, ihre kontextbezogene Herangehensweise und das Ziel einer möglichst umfassenden Dokumentation des Schaffensprozesses. Die Herausforderungen bei der Edition eines "fließenden" Theatertextes werden diskutiert.
Schlüsselwörter
Johann Nestroy, Editionsgeschichte, Gesamtausgabe, Theatertext, Autormanuskript, Theaterabschriften, philologische Edition, historisch-kritische Ausgabe, Textüberlieferung, Autorintention, Rezeption, Karl Kraus, Wiener Volkstheater, Zensur.
- Quote paper
- Antje Wulff (Author), 2008, Johann Nestroy - Editionsgeschichte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123805