Leseprobe
Inhalt
1 Diagnoseskizze
1.1 Modellierung des Diagnose-Auftrags
1.1.1 Semantische Analyse
1.1.2 Fachliche Analyse
1.1.3 Psychologische Analyse
1.2 Sachstruktur
1.3 Entwicklung des Diagnoseinstruments
1.4 Einblick in die Datenerhebung
2 Das Diagnoseergebnis
2.1 Paul
2.2 Philip
2.3 Ausblick auf den Lernimpuls
3 Reflexion und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Diagnoseskizze
Dieser Forschungsbericht zur Diagnose und Lernberatung zum individuellen religiosen Lernen orientiert sich am Dortmunder Modell zur Diagnose und Forderung religioser Lernprozesse in der katholischen Theologie nach Reis und Schwarzkopf. In der Diagnoseskizze wird zunachst der Diagnose-Auftrag kompetenztheoretisch modelliert. Dieser soll eine deutliche Zuordnung zu einer entscheidbaren oder unentscheidbaren Fragelogik moglich machen, ein passendes evi- denzbasiertes Untersuchungsdesign nahelegen und Kriterien zur Erfassung des Verhaltens in Relation zum Normweg bieten, um daran im zweiten Kapitel die Diagnoseergebnisse und den diagnosegeleiteten Lernimpuls anzuschlieBen.1 Dafur wird mit Hilfe einer semantischen, fach- lichen und psychologischen Analyse und auf Grundlage einer ausgewahlten Kompetenz aus dem Kernlehrplan Nordrhein-Westfalens ein Learning-Outcome entwickelt, das folgend in seine elementare Struktur zerlegt wird, um daraufhin ein geeignetes Instrument fur die Diag- nostik auszuwahlen.
1.1 Modellierung des Diagnose-Auftrags
Das in dieser Arbeit beschriebene Diagnoseprojekt wird mit zwei Schulern aus der Oberstufe eines Gymnasiums in der Umgebung von Dortmund durchgefuhrt. Beide besuchen einen Grundkurs fur katholische Religion und befinden sich in der Qualifikationsphase I. Ihrer eige- nen Aussage nach, sind sie nicht besonders religios erzogen worden. Die Modellierung des Diagnoseauftrags wird sich auf den Kernlehrplan fur die Sekundarstufe II beziehen und soll eine Kompetenzerwartung entwickeln, die in ihrer semantischen Form, ihrer fachlichen Struk- tur und ihrer psychologischen Modellierung Messverfahren und Messgegenstande anbietet. Aus Datenschutzgrunden werden die beiden Schuler in dieser Arbeit Phillip und Paul genannt.
1.1.1 Semantische Analyse
Bei der semantischen Analyse wird vorerst ein Learning-Outcome, ein sichtbares Lernergebnis, formuliert, dass dem Lehrplan entnommen wird, um eine Verortung des Diagnoseauftrags in curricularen Vorgaben zu sichern und um eine grobe Richtung fur die Diagnose vorzugeben. Fur den Grundkurs der gymnasialen Sekundarstufe II benennt der Lernplan „Christliches Han- deln in der Nachfolge Jesu“2 als inhaltlichen Schwerpunkt, der sich im Inhaltsfeld „Verantwort- liches Handeln aus christlicher Motivation“3 wiederfindet. Eine Kompetenz, die Schuler*innen innerhalb dieses Inhaltsfeldes erwerben sollen, ist, dass sie die Relevanz biblisch-christlicher Ethik fur das individuelle Leben und die gesellschaftliche Praxis (Verantwortung und Engagement fur die Achtung der Menschenwurde, Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schop- fung) erortern konnen.4 In Hinblick auf den Diagnose-Auftrag lasst sich daraus das folgende vorlaufige Learning-Outcome ableiten:Die Schulerinnen und Schuler erortern die Relevanz biblisch-christlicher Ethik fur das individuelle Leben und die gesellschaftliche Praxis im Hin- blick auf Verantwortung und Engagement fur die Achtung der Menschenwurde.Dieses vorlau- fige Learning-Outcome soll nun in der semantischen Analyse weiter gepruft und angepasst werden. Das Verberorternist bereits ein Verb der auBeren Sichtbarkeit, wird hier jedoch durch das spezifischere Verbbegrundenersetzt. Zusatzlich weist das Learning-Outcome an mehreren Stellen Leerstellen auf, die fur die direkte Lernsituation zu fullen sind: Zur Konkretisierung der biblisch-christlichen Ethik soll die biblisch-christliche Ethik im Gleichnis des barmherzigen Samariters, dienen und das individuelle Leben und die gesellschaftliche Praxis soll durch den Diskurs uber die deutschen Fluchtlingspolitik prazisiert werden. Das Learning-Outcome lautet nun: Die SuS begrunden die Relevanz der christlichen Ethik, die im Gleichnis des barmherzigen Samariters vermittelt wird, fur den Diskurs uber die deutsche Fluchtlingspolitik, im Hinblick auf Verantwortung und Engagement fur die Achtung der Menschenwurde.
1.1.2 Fachliche Analyse
In der fachlichen Analyse wird die Qualitat der Operationsbeschreibung gepruft, indem die Verbundenheit des Verhaltens- und Inhaltsaspektes mit der Operation gepruft wird. Der Ver- haltensaspekt ist das Verb der auBeren Sichtbarkeitbegrunden. Der Inhaltsaspekt teilt sich auf in Objekt und Instrument. Das Objekt ist die Relevanz christlicher Ethik fur die deutsche Fluchtlingspolitik und das Instrument das Gleichnis des barherzigen Samariters (Lk 10,25-36). Sinnvolle Learning Outcomes verknupfen die Tatigkeit (Was wird getan?) mit einem Instru ment (Womit wird etwas getan?) fur die Bewaltigung einer bestimmten Situation (Wozu wird etwas getan?).5 Hier zeigt sich, dass das Learning Outcome den Wozu-Aspekt noch nicht hin- fozu reichend erfullt. Deshalb wird das Learning Outcome folgend verandert (-die Farben zeigen das Was, Womit und ):Die SuS begrunden die Relevanz der christlichen Ethik, die im Gleich- nis des barmherzigen Samariters (Lk, 10 25-36) vermittelt wirdfur den Diskurs uber die deutsche Fluchtlingspolitik, um christliche Verantwortung und Engagement fur die Achtung der Menschenwurde in aktuelle Debatten einbringen zu konnen Die folgende Operationsbeschrei- bung gibt an, wie dieses Learning-Outcome erreicht wird, namlich indem Schuler*innen
(1) das Gleichnis lesen,
(2) die Aspekte der christlichen Ethik im Gleichnis herausstellen,
(3) den Stand der aktuellen Fluchtlingspolitik in Moria kennen,
(4) die herausgestellten Aspekte der christlichen Ethik in einen Bezug zu der Fluchtlingspolitik
setzen,
(5) und daraufhin begrunden, inwiefern die Aspekte der christlichen Ethik fur den Diskurs in der
Fluchtlingspolitik relevant sind.
1.1.3 Psychologische Analyse
Die psychologische Analyse ist dazu da, „damit nicht nur einfach Performanz beschrieben wird, sondern wie im Kompetenzbegriff vorgesehen, die Performanz systematisch mit dem inneren Leistungspotenzial gekoppelt wird. Sie liefert die interne Rekonstruktion der Operation“ 6, indem die Taxonomiestufe des Learning-Outcomes bestimmt wird und die Kompetenzbestand- teile modelliert werden. Das Learning-Outcome lasst sich mindestens mit der oben beschriebe- nen Operationsbeschreibung der Taxonomiestufe Synthese zuordnen, da Einzelschritte zu einer komplexen Handlung zusammengefuhrt werden mussen. Wenn jedoch das Wozu des Learning-
Outcomes miteinbezogen wird, das eine Einbringung und Positionierung in Debatten fordert,
wird sogar die Taxonomiestufe des Handelns erreicht.
Ich will christliche-ethische Argumente in po- litische Debatten einbringen
Ich will die Relevanz christlicher-ethischer As- pekte fur die deutsche Fluchtlingspolitik beur- teilen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(1) Herausstellen der christlich-
ethischen Aspekte im Gleichnis
des barmherzigen Samariters
(2) Beziehen der christlichen
Ethik auf eine konkrete Situation
Das Gleichnis des barmherzigen Samariters Die aktuelle Situation in der Fluchtlingspolitik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten7
Abbildung 1: Modellierung der Kompetenzbestandteile nach Reis und Schwarzkopf.
Die Abbildung 1 zeigt die Modellierung der Kompetenzbestandteile: Die Wissenskonstrukte sind einerseits das Gleichnis des barmherzigen Samariters, sowie die deutsche Fluchtlingspoli- tik nach den Branden auf Moria. Das langfristige Motiv besteht darin, dass Schuler*innen christlich-ethische Argumente in politische Debatten einbringen konnen, wahrend das kurzfris- tige Motiv im Beurteilen der Relevanz christlicher Aspekte fur die deutsche Fluchtlingspolitik liegt, wofur mehrere Fahigkeiten wie Textverstandnis und Fertigkeiten, wie das Herausstellen und Kennen der christlich-ethischen Aspekte im Gleichnis des barmherzigen Samariters und das Beziehen der christlichen Ethik auf eine konkrete Situation benotigt werden. Nachdem die Schuler*innen die christlich-ethischen Aspekte im Gleichnis herausgestellt haben, mussen sie diese mit der aktuellen Fluchtlingspolitik in Synthese setzen und die Relevanz von dem einen fur das andere einschatzen sowie selbst begrunden. Dabei werden Ressourcen in Reflexions- prozessen aufeinander bezogen, sodass es spater notig ist, das Beurteilungsverhalten mit dem Messverfahren der Beobachtung herauszustellen.
1.2 Sachstruktur
Bevor in diesem Kapitel die Sachstruktur entwickelt wird, muss entschieden werden, ob es sich bei dem festgelegten Learning-Outcome um eine entscheidbare oder unentscheidbare Frage handelt. Wahrend klar entschieden werden kann, ob alle christlich-ethischen Aspekte in dem Gleichnis richtig herausgearbeitet wurden, ist die Frage nach der Relevanz dieser Aspekte fur politische Debatte unentscheidbar. Zwar scheint es auf den ersten Blick, aufgrund der Nachs- tenliebe und des Auftrags Jesu barmherzig zu handeln, eindeutig, dass den Menschen auf Moria geholfen werden muss, ob, wieviel und warum diese christlichen Aspekte Relevanz haben, mussen die Schuler*innen jedoch selbst entscheiden und danach begrunden. Gerade uber die Art und Weise und den Umfang der Hilfe wird in politischen Debatten uber das Thema Migration diskutiert. Durch das Beziehen der christlich-ethischen Aspekte auf die Fluchtlingspolitik, mussen die Schuler*innen sich auch indirekt dazu positionieren, was nach christlich-ethischen Gesichtspunkten gute Losungen beziehungsweise gutes Verhalten sein konnen, ohne dass hier eine eindeutige oder richtige Antwort erwartet wird. Deshalb handelt es sich bei dem LearningOutcome um eine unentscheidbare Frage, sodass in diesem Kapitel eine Meta-Struktur erstellt werden muss.
Bei der Sachlogik steht der Inhaltsaspekt (Instrument und Objekt) im Fokus der Analyse. Zuerst werden deshalb die elementaren christlich-ethischen Aspekte in der Perikope Lk 10,25-37 in Form von einer Elementarisierung herausgestellt. Die Perikope ist recht bekannt und gilt allge- mein als ein Appell zur Nachstenliebe, einem zentralen Aspekt der christlichen Ethik. Die Pe- rikope besteht aus zwei Teilen: „einem Gesprach lehrhafter Art V. 25-28 und der Antwort Jesu mit erneutem Imperativ zum Handeln
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Struktur der Perikope Lk 10,25-37
Nachdem ein Schriftgelehrter Jesus nach dem ewigen Leben fragt, antwortet dieser mit einer doppelten Gegenfrage nach den Worten der Schrift, womit der Dialog den Charakter eines Streitgesprachs erfahrt. Der Schriftgelehrte antwortet mit dem Doppelgebot der Liebe einer Verbindung von Dtn 6,5 und Lev 19,18. Gottesliebe und Nachstenliebe bilden zusammenge- nommen das wichtigste Gesetz der Bibel ab und sind damit das Fundament der christlichen Ethik. In der folgenden Beispielerzahlung wird die Frage nach dem Nachsten konkretisiert: Ein Mann wird auf der StraBe von Jerusalem nach Jericho von Raubern uberfallen, niedergeschla- gen und liegen gelassen. Ein Priester und ein Levit sehen den Mann, gehen aber vorbei, ohne zu helfen. Eigentlich mussten sie das Gebot kennen, weshalb ihr Verhalten verwundert. Die Ursache dafur konnte „das vor allem in saduzzaischen Kreisen rigoros eingehaltene Verbot fur einen Priester, sich an einer Leiche zu verunreinigen (Lev 21,1)“8 sein, da der fast totgeschla- gene Mann sterben konnte. Als Dritter kommt ein Samariter, sieht den Mann, hat Mitleid und hilft ihm. Wichtig ist zu wissen, dass Samaritaner Menschen sind, „die am Jerusalemer Tem- pelkult nicht teilnehmen und darum von den Israeliten zumindest in dieser Beziehung den Hei- den gleichgestellt werden“9. Mit dem Samariter anstatt eines israelitischen Laiens wird die Bei- spielerzahlung zum AnstoB fur die israelitische Anschauung, da nicht einer von ihnen, sondern ein ihnen fremder und feindlicher dem Mann hilft.10
[...]
1 Vgl. Reis/Schwarzkopf:Diagnose im Religionsunterricht, 47.
2 Ministerium fur Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan fur die Se- kundarstufe II, 30.
3 Ministerium fur Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan fur die Se- kundarstufe II, 30.
4 Vgl. Ministerium fur Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan fur die Sekundarstufe II, 30.
5 Vgl. Reis/Schwarzkopf, Diagnose im Religionsunterricht, 53.
6 Reis/Schwarzkopf,Diagnose im Religionsunterricht, 54.
7 Wiefel,Das Evangelium nach Lukas,207.
8 Ebd., 210.
9 Klein,Das Lukasevangelium, 392.
10 Wiefel,Das Evangelium nach Lukas, 211.
- Arbeit zitieren
- Franziska Schäfer (Autor:in), 2021, Forschungsbericht: Diagnose und Lernberatung zum individuellen religiösen Lernen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1239845
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