Freitod im Exil


Seminar Paper, 2002

17 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhalt

Vorwort

1. Zur Theorie des Freitods im Exil

2. Verlusterfahrungen
2.1 Verlust der materiellen Werte
2.2 Verlust der kulturellen und sprachlichen Heimat
2.3 Verlust der schriftstellerischen Aufgabe

3. Das Recht auf den Tod

Schluss

Vorwort

Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit deutet auf eine Theorie des Selbstmordes hin, die alle Exilanten, die sich das Leben nahmen, umfasst und ihren Entschluss begründet. Die Umstände, die den Einzelnen zum Selbstmord drangen, lassen sich aber angesichts der Endgültigkeit und Gewaltigkeit dieser Tat nur schwer auf eine allgemeine Formel bringen. Eine Theorie des Selbstmordes muss dem Umstand gerecht werden, dass identische Lebenserfahrungen zweier Menschen nicht zwangsläufig zum selben Resultat führen. Das erste Kapitel widmet sich dieser Überlegung. Die Entscheidung zum Freitod ist jedoch nicht von den Lebensumständen allein abhängig, sondern von der psychischen Kondition des Einzelnen, die nur aus einer umfassenden Analyse der Biographie gewonnen werden kann. Im Rahmen dieser Arbeit kann eine biographische Analyse in der geforderten Ausführlichkeit nicht vollzogen werden, wohl aber die Darstellung der als kollektiv zu bezeichnenden Exilerfahrungen, deren Erleben nicht zwangsläufig einen Selbstmord nach sich zieht, die Entscheidung zum Suizid aber begünstigt. Jene Exilerfahrungen sind stets mit dem Erleiden eines Verlustes und den daraus resultierenden Konsequenzen verbunden. Die Verlusterfahrungen lassen sich in drei Kategorien einteilen: Verlust der materiellen Werte, Verlust der kulturellen und sprachlichen Heimat, Verlust der schriftstellerischen Aufgabe.

Die Darstellung der verschiedenen Verlusterfahrungen wird im zweiten Kapitel auf einer allgemeinen, von einzelnen Autoren losgelöster Ebene vollzogen. Die erwähnten Schriftsteller veranschaulichen mit ihren zitierten Aussagen das kollektiv empfundene Leid im Exil stellvertretend für alle diejenigen, die während des Exils den Freitod wählten.

Die Untersuchung der durch die Verlusterfahrung begründeten Motive zum Selbstmord klärt noch nicht die Frage nach der Legitimität der Tat. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dieser Frage und untersucht die verschiedenen Meinungen exilierter Schriftsteller unter der Fragestellung, ob das Recht auf Freitod unter den Bedingungen des Exils gegeben ist.

1. Zur Theorie des Freitods im Exil

Die deutschsprachigen Autoren, die durch die Etablierung des Nationalsozialismus Deutschland ab 1933 und fünf Jahre später auch Österreich verlassen müssen und während oder nach ihrem Exil Selbstmord verüben, erscheinen im Rahmen des Themas „Freitod im Exil“ ohne nähere Kenntnis der Thematik allzu leicht als homogene Masse, deren Motive zum Suizid einander gleichen. Diese These büßt ihre Glaubhaftigkeit ein, wenn man sich die Situation deutschsprachiger Exilanten nach 1933 vergegenwärtigt.

Etwa 2500 Schriftsteller müssen aus politischen oder rassischen Gründen ins Exil gehen. Eine Vertreibung von Literaten hat es in diesem Ausmaß in der Geschichte nie zuvor gegeben.[i] Anders als beispielsweise der begrenzte Kreis von Schriftstellern, die 1848 aus Deutschland ihrer politischen Gesinnung wegen vertrieben wurden, bilden die von Hitler ins Exil Verbannten keine homogene Masse.[ii] Betrachtet man ihre schriftstellerische Arbeit, ihre politische Gesinnung und ihr Verhältnis zu Deutschland wird das Fehlen einer einheitlichen, alle Schriftsteller umfassenden Mentalität deutlich. Der deutsche Autor Kantorowicz bemerkt hierzu, dass unter den Vertriebenen, abgesehen von der Ablehnung Hitlers, kaum nennenswerte Gemeinsamkeiten vorlagen und dass zahlreiche Exilanten an einem Kontakt zu ihren Leidensgenossen kein Interesse haben.[iii] Das „deutsche Erbübel lächerlichster Partikularität“[iv], wie es einer der ersten Chronisten der Emigration, Wolf Franck, formuliert, setzt sich unter den Literaten, wie schon zu Zeiten der Weimarer Republik, so auch im Exil fort. Weder das gemeinsame Schicksal noch der Wunsch, das antifaschistische Deutschland (das „andere Deutschland“)[v] zu repräsentieren, schaffen ein dauerhaftes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Folge ist eine Zersplitterung der Exilanten in zahlreiche Einzelgruppen, deren Bindeglied zumeist eine gemeinsame politische Ideologie bildet.[vi]

Die emigrierten deutschsprachigen Schriftsteller haben zwar ein gemeinsames Schicksal, sind aber politisch, geistig und in ihrer Fähigkeit, sich an die neuen Umstände im Exil zu gewöhnen, nicht einheitlich zu kategorisieren. Der Freitod einzelner Emigranten ist damit nicht als Gruppenphänomen greifbar. Das Scheitern in der Bewältigung der Lebensumstände, die das Exil hervorbrachte, ist in letzter Konsequenz stets individuell.

Eine Theorie des Selbstmordes von Exilanten nach 1933 muss diesem Umstand gerecht werden und kann somit in vollem Umfang nur durch die Darstellung der ungewohnten Lebenssituation im Exil einerseits und der umfassenden Analyse der Biografie des einzelnen Selbstmörders andererseits erlangt werden.

Der Versuch, die Gemeinsamkeiten der Selbstmörder unter den Exilanten aufzudecken, um daraufhin eine Theorie zu formulieren, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht über die Biografie der Schriftsteller – nicht also anhand ihrer Vorraussetzungen, die Belastungen des Exils zu ertragen – sondern über die Analyse jener Exilserfahrungen, die als kollektiv angesehen werden können, unternommen. In diesem Punkt liegt die einzige Gemeinsamkeit all derjeniger, die den Freitod für sich wählen. Sie scheitern an den Erfahrungen und Anforderungen des Exils – seien es die wirtschaftliche Not, der schmerzlich empfundene Verlust von Heimat und Muttersprache oder der Beraubung ihrer Aufgabe als Schriftsteller. Es sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jene Erfahrungen nicht zwangsläufig einen Suizid herbeiführen – hierfür sind die Exilanten zu verschieden in ihren Voraussetzungen - , im Nachhinein aber als begründende Faktoren angesehen werden können.

Die einen Selbstmord begünstigenden Faktoren werden im nächsten Kapitel behandelt.

Um das Phänomen des Freitodes zunächst unabhängig von Situation und Wesen des Literaten, der Suizid begeht, zu fassen, bietet sich die Theorie Hans Jürgen Badens[vii] an. Er weist auf die ständige Notwendigkeit hin, das eigene Leben zu rechtfertigen. Versagt die subjektive Rechtfertigung, gibt es nur noch die Alternative des Selbstmordes nach einer Phase sich verstärkender Verzweiflung.[viii] In der Hoffnung, dieser Alternativ zu entgehen, verleiht sich der Suizidgefährdete eine ungewohnte Aufgabe, um dem eigenen Leben einen neuen Sinn zu verleihen.[ix] Diese Theorie findet Bestätigung in zahlreichen Tagebüchern und Briefen von suizidgefährdeten Exilanten. Als Beispiel mag Ernst Toller gelten, der sich unter anderem leidenschaftlich für die Organisation antifaschistischer Kräfte im Rahmen des Spanischen Bürgerkrieges einsetzte. Die depressiven Tendenzen in Tollers Charakter brechen endgültig erst nach dem Scheitern seiner selbstgewählten Aufgabe hervor und führen schließlich zu seinem Selbstmord.[x] Der Grundgedanke einer Rechtfertigung des Lebens durch die eigenmächtige Setzung einer Aufgabe betont die Wichtigkeit, einen Nutzen erfüllen zu müssen, ohne den ein Selbstmord wahrscheinlicher wird.

Die Entscheidung zum Freitod wird somit durch zwei Umstände begünstigt: Die direkten Erfahrungen des Exils, seien es finanzielle Sorgen oder Isolation von Heimat und Muttersprache, und der Verlust der im Exil neugesetzten Aufgabe, die dem Leben trotz aller Schwierigkeiten einen Sinn verleiht. Ein Selbstmord aus diesen Motiven bezeichnet der Exilsforscher Matthias Wegner als Selbstmord aus Resignation und Verzweiflung über die Heimatlosigkeit. Die Entscheidung zum Suizid liegt hier einzig im Ermessen des betroffenen Literaten. Als Beispiel für dieses Motiv des Freitodes fungiert das Ableben Stefan Zweigs.

Wegener führt neben diesem noch zwei weitere Selbstmordmotive an. Zum einen den Selbstmord auf Grund innerer und äußerer Zerrüttung, zum anderen auf Grund einer akuten Lebensgefahr. Für ersteren ist Joseph Roth ein Beispiel, der sich dem Alkoholismus schwer anheimgefallen in einem Pariser Armenspital das Leben nimmt, für letzteren Walter Hasenclever. Er verübt Selbstmord, als er seine Gefangennahme durch die Frankreich erobernden deutschen Truppen befürchten muss.

Dieser Schematisierung nach ist nur der Selbstmord aus Resignation und Verzweiflung ein Akt der freien Willensentscheidung. Bei Joseph Roth hat der übermäßige Alkoholkonsum geistige Schäden verursacht, bei Walter Hasenclever sind von außen herangetragene Gefahren für seinen Suizid verantwortlich zu machen.[xi] In beiden Fällen kann man, anders als bei Stefan Zweig, nicht von einer freien Willensentscheidung zum Selbstmord sprechen. Für die folgenden Untersuchungen interessieren in erster Linie die suizidalen Akte, die im Vollbesitz der geistigen Fähigkeiten ohne direkte Gefahr für das eigene Leben willentlich vollzogen werden.

2. Verlusterfahrungen

2.1 Verlust der materiellen Werte

Für den Großteil der Exilanten, die Deutschland verließen, bedeutete der Verlust ihrer Heimat zumeist auch den Verlust ihrer materiellen Güter und finanzieller Rücklagen. In ihrem Gastland stehen sie den Schwierigkeiten eines wirtschaftlichen Neubeginns unter ungünstigsten Vorraussetzungen gegenüber. Die Notwendigkeit, Gelder aufzutreiben, ist für die meisten Exilanten ein alltägliches Problem. Zur Sicherung des Existenzminimums benötigt man Finanzen, die – sofern man über keinerlei Rücklagen oder Geldgeber verfügt – nur durch Arbeit erworben werden können. Eine Arbeitserlaubnis kann aber nur derjenige erhalten, der über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügt, die wiederum vielfach erkauft werden muss. Der daraus resultierende Teufelskreis wird von Günter Anders mit der Formel beschrieben: „Offiziell gefordert waren Zahlungen von Beträgen, deren Erwerb ebenso offiziell untersagt war.“[xii] Auf eine Finanzierung ihres Lebens durch den Ertrag ihrer literarischen Arbeit können nur diejenigen Autoren hoffen, die bereits 1933 internationalen Ruhm besitzen. Selbst namhafte Autoren wie Heinrich Mann, Alfred Döblin und der bereits erwähnte Walter Hasenclever müssenn in bescheidensten Verhältnissen ihr Exilleben meistern.[xiii] Die im Exil gegründeten Verlage deutsprachiger Autoren[xiv] verfügen nur über äußerst geringe Summen, so dass den meisten Exilanten nichts anderes übrig bleibt, als in fremder Sprache zu schreiben. Leon Feuchtwanger beschreibt dies als beinahe aussichtsloses Unterfangen: „Sehr viele Schriftsteller, die in ihrem eigenen Lande marktfähig waren, sind trotz höchster Begabung im Ausland nicht verkaufbar, sei es, weil ihr Wert vor allem im Sprachlichen liegt und dieses Sprachliche nicht übertragbar ist, sei es, weil ihre Stoffe den ausländischen Leser nicht interessieren. [...] es ist erstaunlich, wie viele Autoren, deren Leistungen die ganze Welt anerkannt hat, jetzt im Exil trotz ernsthaftester Bemühungen völlig hilf- und mittellos dastehen.“[xv] Der Zwang, in einer anderen Sprache schreiben zu müssen, führt bei vielen Exilanten zu einem Gefühl der Unsicherheit und letztlich zu einem Verlust der Sprachheimat. Diesen Verlust zu kompensieren gelingt nicht allen Exilanten, jene unter ihnen, die Selbstmord begehen, leiden stark unter diesem Entzug ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Das folgende Kapitel behandelt diesen Punkt ausführlich. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass finanzielle Probleme häufig den Ausgangspunkt markieren. Neben den wirtschaftlichen Schwierigkeiten bringt das Exil insbesondere zu Beginn behördliche Mühseligkeiten mit sich. Feuchtwanger bemerkt hierzu: „Ich übertreibe nicht, wenn ich konstatiere, dass die Bemühungen dieses nachzuweisen [gemeint ist der Nachweis, dass wo er geboren wurde und dass er deutscher Staatsbürger war] mich ebensoviel Zeit gekostet haben, wie das Schreiben eines Romans.“[xvi] Das ständige Warten auf Ämtern in Kombination mit der Gefahr, zurück nach Deutschland gebracht zu werden, demoralisiert enorm . Feuchtwanger spricht in diesem Zusammenhang von einem sinn- und nutzlosem Dahinleben. In diesem besonders in der Frühphase des Exils allgegenwärtigen Eindruck sieht Feuchtwanger einen der wesentlichen Gründe für den Freitod Hasenclevers, der sich 1940 in einem französischem Internierungslager vergiftet.[xvii] Ein weiterer Grund mag das als belastend empfundene Schicksal darstellen, als Emigrant sozial abgestempelt zu sein. Individuelle Züge finden im Exil keinerlei Bestätigung. Für die örtlichen Behörden, denen die Exilanten zwangsweise viel Zeit widmen müssen, gab es unter den Vertriebenen keinerlei Unterschiede und demnach auch keine auf individuelle Bedürfnisse abgestimmte Behandlung. Feuchtwanger nennt diese Kategorisierung von Flüchtlingen „Etikettierung“, Döblin bezeichnet es weitergehend als Beitrag zum Bewusstwerden der Selbstentfremdung.[xviii]

[...]


[i] Ursula Homann: Exil und literarischer Widerstand. Das Wort als gefürchtete politische Waffe. In: Widerstand und Exil 1933-1945. Otto Romberg u.a. Campus Verlag. New York, Frankfurt a. M. 1986. (fortan: Widerstand und Exil) S.203

[ii] Widerstand und Exil S.203

[iii] Widerstand und Exil S.203f

[iv] zitiert nach: Widerstand und Exil S.204

[v] das „andere Deutschland“ bezeichnet die Masse der nicht-faschistischen, im Exil lebenden Literaten, die Deutschlands kulturelles Leben zu repräsentieren wünschen, der Begriff wurde erstmalig von Ernst Toller gebraucht

[vi] Matthias Wegner: Exil und Literatur. Deutsche Schriftsteller im Ausland 1933-1945. Athenäum Verlag. Frankfurt a. M., Bonn 1967. (fortan: Exil und Literatur) S.92

[vii] Hans Jürgen Baden: Literatur und Selbstmord. Ernst Klett Verlag. Stuttgart 1965 (fortan: Literatur und Selbstmord)

[viii] Literatur und Selbstmord S.24f

[ix] Literatur und Selbstmord S.44

[x] Richard Dove: Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland. Steidl Verlag. Göttingen 1993. (fortan: Ernst Toller)

S. 295

[xi] Exil und Literatur S.100

[xii] Widerstand und Exil S.215

[xiii] Widerstand und Exil S.214

[xiv] Querido, Allert de Lange, Bermann-Fischer gelten als die bedeutensten Verlage deutsprachiger Verleger im Exil

[xv] zitiert nach: Exil und Literatur S.89

[xvi] zitiert nach: Exil und Literatur S.90

[xvii] Exil und Literatur S.156f

[xviii] Exil und Literatur S.161

Excerpt out of 17 pages

Details

Title
Freitod im Exil
College
University of Münster  (Institut für Deutsche Philologie)
Course
Proseminar: Literatur im Exil.
Grade
1
Author
Year
2002
Pages
17
Catalog Number
V12402
ISBN (eBook)
9783638182928
ISBN (Book)
9783640667253
File size
380 KB
Language
German
Keywords
Freitod, Exil, Proseminar, Literatur, Exil, Suizid, Selbstmord
Quote paper
Maik Lehmkuhl (Author), 2002, Freitod im Exil, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12402

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