Erinnerungskultur in Bezug auf den Polnisch-Sowjetischen Krieg. Der Piłsudski-Kult und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann


Hausarbeit, 2021

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1.0 Einleitung

2.0 Die Kraft der Gedächtnisse – Zwischen Bedeutung und (Um)Deutung
2.1 Der Prozess des Erinnerns
2.2 Die Funktion des Erinnerns
2.3 Die Rahmenbedingungen des Erinnerns
2.3.1 Die Form des Erinnerns
2.3.2 Das Kommunikative Gedächtniss
2.3.3 Das kulturelle Gedächtnis
2.3.4 Das Funktions- und Speichergedächtnis
2.4 Die Rolle der Geschichtswissenschaft im Kontext der Gedächtnisse

3.0 Der Polnisch-Sowjetische Krieg – Ein Schlachtfeld von Deutungen
3.1 Der Kriegsverlauf
3.1.1 Der Kriegsausbruch
3.1.2 Der Nordöstliche Kriegsschauplatz
3.1.3 Der Ostgalizische Kriegsschauplatz
3.1.4 Die Schlacht von Warschau
3.1.5 Kriegsende und Friedensschluss
3.2 Die verschiedenen Deutungen des Krieges
3.2.1 Die Sowjetische Position
3.2.2 Die polnische Position
3.3 Der Piłsudski-Kult als besonderes Beispiel der Wirkungsmacht von Erinnerung
3.3.1 Der Piłsudski-Mythos

4.0 Wirkungsmacht bis heute – „1920 – Die letzte Schlacht“ Verbindung von Altem und Neuem

5.0 Fazit

6.0 Literaturverzeichnis

7.0 Filmverzeichnis

8.0 Internetquellen

9.0 Anhang
9.1 Anhang 1
9.2 Anhang 2

1.0 Einleitung

Der Polnisch-Sowjetische Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist in der breiten deutschen Bevölkerung so gut wie unbekannt. In Polen wiederum wird die Erinnerung an diesen Krieg bis heute nicht nur in der Geschichtswissenschaft lebendig gehalten, sondern auch durch Vereine, Bauprojekte und jüngst durch die bis dato teuerste polnische Filmproduktion. Nicht nur in der öffentlichen Erinnerungskultur, sondern auch in der historischen Deutung wird dieser Krieg sehr unterschiedlich thematisiert und dargestellt. Während die Erinnerung an den Krieg auf deutscher Seite verhältnismäßig in den Hintergrund tritt, wird auf polnischer Seite der Sieg Polens über die Rote Armee von einer Reihe polnischen Historiker als Rettung Europas vor dem Kommunismus gewertet. Diese unterschiedlichen Lesarten sind kein allein heutiges Phänomen, sondern können in unterschiedliche Deutungstraditionen, die schon während beziehungsweise unmittelbar nach dem Sieg Polens begannen, gestellt werden. Einen besonderen Stellenwert in den Debatten nimmt der damalige polnische Oberbefehlshaber und Staatsoberhaupt Josef Piłsudski ein, dessen Andenken von seinen Anhängern in besonderer Weise auch nach seinem Tod für ihre Zwecke weiter genutzt wurde. Die Diskursivität der Deutung der Vergangenheit wird an diesem Beispiel besonders deutlich.

Was sind die Gründe, dass das gleiche historische Ereignis einen so unterschiedlichen Stellenwert im gesellschaftlichen Erinnern einnehmen kann? Welche Rolle spielt die Vergangenheit oder ‚die Geschichte‘ für ein Individuum oder eine Gesellschaft und auf welche Weise kann die Vergangenheit in die Gegenwart transportiert werden? Was macht den Polnisch-Sowjetischen Krieg auch heute noch so relevant im kollektiven Gedächtnis Polens und worin liegt beim kollektiven Erinnern die gesellschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft? Im Folgenden wird versucht, auf diese Fragen Antwortmöglichkeiten zu geben. Dazu wird sich im ersten Kapitel ‚dem Gedächtnis‘, seines Entstehens und seiner Funktionen aus einer breit gefächerten Perspektive genährt. Im zweiten Kapitel werden der Verlauf des Polnisch-Sowjetischen Krieges und seine unterschiedlichen Deutungen dargestellt, um so den Stellenwert im polnischen kollektiven Gedächtnis bestimmen zu können. Darüber hinaus ermöglicht dies, Instrumentalisierungen ‚der Vergangenheit‘ im heutigen kollektiven Gedächtnis analysieren zu können. Dabei wird besonders auf die Mythisierung Józef Piłsudski s als Beispiel einer zeitlich überdauernden Instrumentalisierung der Vergangenheit, eingegangen. Abschließend wird beispielsweise ein Beitrag zur Formung des kollektiven Gedächtnisses in Form eines Spielfilms analysiert und sein historisches Narrativ in die aktuelle polnische erinnerungskulturelle Debatte eingeordnet.

2.0 Die Kraft der Gedächtnisse – Zwischen Bedeutung und (Um)Deutung

Vergangenheit kann weder vom Individuum, noch von einem Kollektiv anders als durch das Erinnern erfahren, entschlüsselt oder nutzbar gemacht werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass sich, sobald eine Beschäftigung mit etwas Vergangenen stattfindet, automatisch auch mit dem Phänomen des Erinnerns und weiter gefasst, mit dem Phänomen des Gedächtnisses beschäftigt werden muss. Das Gedächtnis stellt sich schon nach erster Betrachtung, als ein vielschichtiges Phänomen und Problem heraus, auf Grund dessen Komplexität keine Teildisziplin der Wissenschaften ein Monopol in seiner Erforschung anmelden könnte: Je nach Erkenntnisinteresse kann sich dem Phänomen des Gedächtnisses aus beispielsweise psychologischer, kulturwissenschaftlicher, soziologischer, medienwissenschaftlicher, theologischer oder auch historischer Perspektive genährt werden.1

Auf Grund dieser Fülle an Zugängen und Perspektiven auf das Phänomen Gedächtnis können die im Folgenden angestellten Überlegungen in keiner Weise als Vollständig gelten. Sie dienen als theoretische Grundüberlegungen, die den Rest dieser Arbeit in einen beschreibbaren Rahmen fassen sollen. Besonders zu betonen ist, dass die Geschichte beziehungsweise Vergangenheit im Zuge dieser Arbeit aus einer konstruktivistischen, systemischen Gedächtnistheorie und narrativistischen Geschichtstheorie heraus verstanden wird. Nach dieser Auffassung wird in der Gegenwart ein bestimmtes Bild der Vergangenheit konstruiert, das den Bedürfnissen seiner Entstehungszeit Rechnung trägt.2 Dies wird nun genauer dargestellt. Zuerst wird sich dem Phänomen ‚Gedächtnis‘ mit Hilfe der kulturwissenschaftlichen Thesen Aleida Assmanns genährt. Dabei werden ihre Überlegungen mit Ansätzen aus der Soziologie und Geschichtsdidaktik erweitert und ausgeschmückt. Daran anschließend wird die spezifische Aufgabe der Geschichtswissenschaft in der Gedächtnisforschung und darüber hinaus in einer Gesellschaft abgeleitet.

2.1 Der Prozess des Erinnerns

Damit ein Phänomen voll ins Bewusstsein gelangen kann, muss es erst abgelaufen sein;3 soziologisch kann von folgendem Vorgang gesprochen werden: Zuerst tritt ein Ereignis auf, welches durch eine irgendwie beteiligte beziehungsweise anwesende bewusste Instanz, zum Erlebnis wird. Dieses reine Erlebnis verknüpft, durch seine Bewusstwerdung im Subjekt das reflektierende Denken mit bestimmten sozial relevanten Symbolisierungen des Wissens und wird somit zu einer Erfahrung. Diese Erfahrung ist symbolisch vermittelbar, sei es durch Sprache oder irgendeine andere Ausdrucksform. Auf die Erfahrung folgt die Erinnerung, in der das Bewusstsein auf symbolisches, also kognitiv zugängliches Wissen, zurückgreift, das selber auch nur einen bestimmten Teil struktureller Verknüpfungen repräsentiert. Im Zuge des Erinnerns, geht das Bewusstsein also nicht in der Zeit zurück, sondern ruft den mit dieser Verknüpfung (die die Erfahrung hervorgerufen hat) verbundenen aktuellen Stand ihrer symbolischen Repräsentation ab.4 Erinnern erfolgt also immer aus dem Kontext des hier und jetzt heraus, und entfernt sich damit immer weiter von der ursprünglichen Erfahrung. Dieser neue Kontext rekonfiguriert die ursprüngliche Erfahrung immer wieder aufs Neue beziehungsweise überschreibt diese. Dabei ist der gesellschaftliche Bezugsrahmen - also die sozial fundierten Ordnungen, die Wahrnehmen und Denken von Geburt an geprägt haben - besonders beeinflussend für die Erinnerung.5 Demnach ist das, was erinnert wird, keine genaue Wiedergabe des ehemals erfahrenen, sondern verfährt grundsätzlich rekonstruktiv.6 Erinnern muss immer von der Gegenwart ausgehen; jemand wird akut an etwas erinnert, wodurch es unweigerlich zu einer Verschiebung und Verformung kommt. Erinnerung ist also einem Transformationsprozess ausgeliefert und selber als ‚Prozess des Erinnerns‘ zu verstehen.7 Die erinnerte Vergangenheit ist zwangsläufig auf die Gegenwart und Zukunft bezogen, da sie als Dimensionen der aktuellen Lebenspraxis thematisiert werden.8 Hierbei ist das Gedächtnis als Mechanismus mit eigenen Regeln aufzufassen: Erinnern impliziert immer auch Vergessen von nicht Erinnerungswürdigem oder Erinnerungsnotwendigem; sie greifen unweigerlich ineinander und ermöglichen sich erst gegenseitig. Da das Erinnern aus der Gegenwart heraus geschieht, sind seine Einsichten durch die momentane Bedürfnislage bestimmt.9

Hier stellt sich die Frage, welche Bedürfnislage die Vergangenheit in der Gegenwart befriedigen kann und wie sie dies, trotz ihrer immanenten Fehleranfälligkeit, betreffend der getreuen Wiedergabe des Vergangenen, bewerkstelligen kann.

2.2 Die Funktion des Erinnerns

Eine der anthropologischen Grundkonstanten ist es, dass sich Menschen, sobald sie sich ihrer Zeitlichkeit und damit auch ihrer Vergänglichkeit bewusstwerden, in irgendeiner Art und Weise gegenüber diesen unveränderlichen Aspekten ihrer Existenz verhalten und positionieren müssen. Sobald die zeitliche Existenz in der Gegenwart wahrgenommen wird, stellt sich beinahe zwangsläufig die Frage nach dem Vorhergewesenen und dem noch Kommenden und damit auch die Frage nach der eigenen Rolle, Position und Identität in diesem unaufhaltbaren Fluss der Zeit. Es entsteht ein Orientierungsbedürfnis zur persönlichen Verortung innerhalb der zeitlichen Dimension der eigenen Existenz und damit auch ein Bedürfnis die eigene Identität in dieser und durch diese zu bestimmen.10 Dieses Bedürfnis zur Verortung ist der Schlüssel zum historischen Denken.11 Es ist ein Akt der Selbsterkenntnis durch Orientierung und Positionierung im Fluss der Zeit und damit auch in der Vergangenheit. An seinem Ende steht die Erstellung einer Zeitverlaufsvorstellung oder anders gesagt, einem Muster historischer Sinnbildung.12 Dieser Prozess der Verarbeitung von Vergangenheit im Bewusstsein nennt der Geschichtsdidaktiker Jörn Rüsen Geschichtsbewusstsein. Er definiert diesen Begriff als „[…] Inbegriff der mentalen (emotionalen und kognitiven unbewussten und bewussten) Operationen, durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung zu Orientierung der Lebenspraxis verbraucht werden“13. Geschichte wird von ihm verstanden, als ‚gedeutete Zeit‘, die notwendiger Weise im Medium der Erinnerung von statten geht.14 Das Geschichtsbewusstsein ist also als eine elementare Kulturleistung des Lebensvollzugs zu verstehen, durch die das Subjekt seine Zeitlichkeit durch und für sich organisiert.15

2.3 Die Rahmenbedingungen des Erinnerns

2.3.1 Die Form des Erinnerns

Die Orientierung und Identifikation im Fluss der Zeit kann durch eine nutzbar gemachte Vergangenheit geschaffen werden. Die Nutzbarmachung der Vergangenheit erfolgt durch die Erschaffung einer Erzählung, eines Narratives, das in der Lage ist, Fragestellungen, die Vergangenes betreffen, zu beantworten. So wie das Erinnern eines Auslösers in der Gegenwart bedarf, bedarf das Vergangene der Erinnerung, um im Bewusstsein präsent und nutzbar zu sein. Im Bewusstsein wird das Vergangene aber, wie oben beschrieben, nicht als absolute, reine Vergangenheit dargestellt, sondern immer durch die Situation im Moment des Erfahrens und des wieder Erinnerns beeinflusst. Erinnern erfolgt also immer unter Einschluss von Deutungs- und Erwartungsgesichtspunkten – einem nicht empirischen, sondern intentionalen Moment. Dadurch mischen sich subjektive Elemente in den Objektbezug. Die dabei entstehende Geschichte ist immer eine Synthese von innen und außen, real und fiktiv, dinglich und intentional, empirisch und normativ.16 Die gleichen historischen Ereignisse können unterschiedliche Emotionen hervorrufen. Die Vergangenheit tritt in Form einer bestimmten Abfolge von selektierten Ereignissen, in das Bewusstsein, in Form einer Erzählung oder Geschichte. Anders gesagt: in Form einer Narration.17 Zu beachten ist, dass Emotionalität eine große Wirkungskraft auf die Bildung des Geschichtsbewusstseins und damit auf die Entstehenden Narrative hat.18 Die Bedeutung der Emotionen für angebliche kognitive Erkenntnisse, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit entstehen, ist umso bedeutender, je weniger sie als solche erkannt werden.19 Im Zuge der Erstellung eines Narratives müssen zwangsläufig Selektionen vorgenommen werden, was als erzählungswürdig und was nicht als erzählungswürdig angesehen wird. Auch bei diesen Auswahlprozessen spielen Emotionen eine nicht zu unterschätzende Rolle, beispielsweise bei der unterbewussten Verdrängung bestimmter Sachverhalte als Teil einer Geschichtsdeutung.20 Es handelt sich also um eine doppelte Selektion: Einmal die Selektion, die unbewusst im Zuge des Erinnerns vorgenommen wird; darüber hinaus die Selektion, die vorgenommen wird, wenn diese Erinnerung in irgendeiner Form bewusst weitergegeben oder erzählt wird. Es stellt sich die Frage, aus welchem Bestand von Erinnerungen oder Gedächtnissen heraus diese Selektion erfolgen kann.

Eine Verortung innerhalb des Zeitflusses geschieht nie nur im und durch das Subjekt. Das Individuum lebt und erfährt seine Wirklichkeit und damit auch seine Zeitlichkeit immer als Teil eines Kollektivs, im Austausch mit anderen Menschen. Die Umgebung, in der sich ein Individuum mit Vergangenem beschäftigt oder aus dieser Schlüsse zieht, spielt immer in den Lernprozess mit hinein.21 Der Mensch als Mängelwesen kann diese Mängel nur innerhalb einer Gemeinschaft ausgleichen, somit sein Überleben sichern und eine eigene Identität in Abgrenzung zu anderen aufbauen. Nicht nur das Individuum muss sich deshalb im Fluss der Zeit verorten, sondern auch das jeweilige Kollektiv als Ganzes, sowie seine verschiedenen kleineren Untergruppen, wie beispielsweise eine Familie, müssen sich in einer irgendwie gearteten Form ihre Existenz im Zeitfluss verständlich und erträglich machen. Ein Kollektiv, besonders solche, die nur ein diffuses Gemeinschaftsgefühl haben, da sich nicht alle Individuen innerhalb dieses gegenseitig kennen, beispielsweise eine Nation, benötigen eine gemeinsame Identität und Orientierung in ihren Lebensvollzügen. Sie brauchen ein gemeinschaftliches Gedächtnis. Geschichte ist also eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses und ein Streitfall der politischen Kultur.22 Wie kann ein solches gemeinschaftliches, den Zeitfluss überdauerndes und erträglich machendes Gedächtnis zu Stande kommen?

2.3.2 Das Kommunikative Gedächtniss

Es bedarf einer Weitergabe von Erinnerungen über die Grenzen sowohl eines einzelnen Individuums, sowie einer einzelnen Lebensspanne hinaus. Der offensichtlichste Weg des Austauschs zwischen Generationen scheint die Weitergabe eines kommunikativen Gedächtnisses zu sein. Damit ist der verbale sowie nonverbale Austausch von Informationen durch (Körper-)Sprache gemeint. Dabei ist die Menge an Informationen, an die so Erinnert werden kann, stark begrenzt. Sie begrenzen sich auf das Gedächtnis einzelner Individuen, die im Austausch mit der nächsten Generation ihre eigenen Erinnerungen und damit zeitliche Orientierungen weitergeben.23 Dieses eigene Gedächtnis impliziert auch zum Teil das Gedächtnis der vorherigen Generation, das an sie herangetragen wurde. Dass dabei die eigenen Erinnerungen präsenter und relevanter sind und dadurch im kommunikativen Gedächtnis einen höheren Stellenwert einnehmen, scheint plausibel zu sein. Aus diesem Umstand heraus entsteht das Problem, dass ein rein kommunikatives Gedächtnis einem Kollektiv die Verortung in der Vergangenheit nur wenige Generationen zurückgreifend ermöglicht. Das Vorhergeschehene ist aussortiert worden und durch neue, der Gegenwart nähere und relevantere Erinnerungen ausgetauscht worden.

2.3.3 Das kulturelle Gedächtnis

Durch die Schaffung des Mediums der Schrift wird diesem Umstand in besonderer Weise Abhilfe geleistet. Bestimmte an Medien gebundene Erinnerungen und Sichtweisen werden so manifestiert, um die Zeit zu überdauern.24 Dabei ist dieses kulturelle Gedächtnis, eine Organisation des Gedächtnisses, welches durch die Nutzung externer Speichermedien und kultureller Praktiken, nicht nur ein Generationen übergreifendes Gedächtnis darstellt, sondern ein prinzipiell epochenübergreifendes Gedächtnis.25 Die Schrift als Leitmedium dieser Gedächtnisse wird momentan immer stärker von anderen medialen Erinnerungsträgern (zum Beispiel Filmen oder Fotos) flankiert, beziehungsweise schrittweise abgelöst.26 Dabei verändert der wandelnde Entwicklungsstand dieser Medien notwendigerweise die Verfasstheit der Gedächtnisse. Jedes Medium eröffnet durch seine spezifische Darstellungsweise einen besonderen Zugang zum kulturellen Gedächtnis.27 Das kulturelle Gedächtnis hat dabei zwei zentrale Funktionen: Einerseits gibt es Antriebsenergie und andererseits schafft es eine Identität und damit ein formatives Selbstbild für eine Gruppe. Dies ist insofern von großer Relevanz, da gemeinsame Erinnerungen als wichtiges Mittel der Kohäsion einer sozialen Gruppe gesehen werden können. Die Erinnerungen stabilisieren dabei die Gruppe, so wie die Gruppe im Gegenzug die Erinnerungen stabilisiert.28 Die Gesamtheit von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis kann als das kollektive Gedächtnis bezeichnet werden.29 Alternativ kann sich dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses und kollektiven Erinnerns einer Gemeinschaft auch unter dem Begriff der Geschichtskultur genährt werden. Dieser bezeichnet die praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft. Er beschreibt den Phänomenbestand, der die Rolle der historischen Erinnerung in der Öffentlichkeit charakterisiert, oder auch die Manifestation eines übergreifenden gemeinsamen Umgangs mit der Vergangenheit innerhalb eines bestimmten Kollektivs.30

Die Schaffung von mediengestützten Gedächtnissen, die prinzipiell ewig vorhanden sind und nicht durch das Ende einer Lebensspanne begrenzt werden, zieht ein weiteres Problem nach sich: Während im kommunikativen Gedächtnis der Bestand an Erinnerungen stark begrenzt ist, ist die Fülle an Erinnerungen, die in und durch Medien den Fluss der Zeit überdauern, so groß, dass nicht alle die Zeit überdauernde Erinnerungen im kollektiven oder individuellen Gedächtnis nutzbringend verarbeitet werden können. Um diesen Vorgang zu verstehen, bietet es sich an, die von Aleida Assmann erarbeitete Unterscheidung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis heran zu ziehen:

2.3.4 Das Funktions- und Speichergedächtnis

Funktions- und Speichergedächtnis bestimmen sich durch ihre gegenseitige Abgrenzung.31 Dabei bezeichnet das Funktionsgedächtnis alle kollektiven Erinnerungen, die im gemeinsam (mehr oder weniger) geteilten Gedächtnisses eines Kollektivs eine Stellung innerhalb der Narrative der eigenen Vergangenheit erhalten haben. Diesen Erinnerungen wird also eine Funktion im täglichen Lebensvollzug zugeschrieben. Es handelt sich um solche Narrative über das Vergangene, die in ‚der Meistererzählung‘ der eigenen Herkunft und Vergangenheit enthalten sind und deshalb ein Orientierungs- und Identifikationsbedürfnis befriedigen. Das Funktionsgedächtnis sichert dadurch die Eigenart und die Kontinuität einer Gruppe. Diese kollektiven Gedächtnisse können nur im Plural bestehen. Dies lässt sich daraus erklären, dass viele verschiedene Erinnerungen an das gleiche Ereignis erinnern und diese Erinnerungen bei verschiedenen Individuen und Gruppen unterschiedliche Orientierungsfunktionen einnehmen.32 Das Gedächtnis produziert Sinn und Sinn stabilisiert das Gedächtnis.33 ‚Die Gesellschaft‘ fungiert dabei sowohl als Schöpferin, als auch als Garantin ihres eigenen Gedächtnisses. Sie macht sich zur Richterin über das Bestehen und Vergehen von Namen, Taten und Ereignissen.34

[...]


1 Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München 2006, hier S. 16 / 27.

2 Ebd. S. 17 / Schreiber, Waltraud et. al., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, 2. Aufl., Neuried 2006, hier S. 8.

3 Assmann, Erinnerungsräume, S. 11.

4 Dimbath, Oliver, Der Spielfilm als soziales Gedächtnis?, in: Sebald, Gerd / Döbler, Marie-Kristine (Hrsg.), (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse, Wiesbaden 2018, S.199-221, hier S. 201.

5 Ebd., S. 202.

6 Ebd., S. 201 / Assmann, Erinnerungsräume, S. 29.

7 Assmann, Erinnerungsräume, S. 29f.

8 Rüsen, Jörn / Mit einem Beitr. Von Rüsen, Ingetraud, Historisches Lernen: Grundlagen und Paradigmen, 2. Aufl., Schwalbach 2008, hier S. 15.

9 Ebd. S. 14 / Assmann, Erinnerungsräume, S. 29f.

10 Rüsen, Grundlagen und Paradigmen, S. 20-22 / Baumgärtner, Ulrich, Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, Paderborn 2015, hier S. 79.

11 Schreiber, Kompetenz-Strukturmodell, S. 16.

12 Ebd., S.26.

13 Rüsen, Grundlagen und Paradigmen, S. 14.

14 Ebd.

15 Ebd. S. 15 / Baumgärtner, Wegweiser Geschichtsdidaktik, S. 79-85.

16 Rüsen, Grundlagen und Paradigmen, S. 16.

17 Ebd. S. 18.

18 Ebd. S. 30.

19 Von Borries, Bodo / Mever-Hamme, Johannes, Zwischen „Genuss“ und „Ekel“: Ästhetik und Emotionalität als konstitutive Momente historischen Lernens, Schwalbach am Taunus 2014, hier S. 232.

20 Ebd., S. 235f.

21 Hasberg, Wolfgang, Geschichtskultur in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 67 (2004), S. 43-59, hier S. 47.

22 Rüsen, Grundlagen und Paradigmen, S. 11.

23 Crueger, Jens, Digital Native History: Überlegungen zum Kulturellen Gedächtnis im digitalen Zeitalter, in: Bunnenberg, Christian / Steffen, Nils (Hrsg.), Geschichte auf Youtube. Neue Herausforderungen für Geschichtsvermittlung und historische Bildung, Berlin / Boston 2019, S.295-313, hier S. 295.

24 Crueger, Native History, S.295f.

25 Assmann, Erinnerungsräume, S. 19.

26 Ebd. S. 20 / Hasberg, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, S. 45.

27 Assmann, Erinnerungsräume, 19f. Siehe dazu beispielsweise die Überlegungen Cruegers zur historiographischen Bedeutung des Internets Crueger, Native History, S. 297-299.

28 Assmann, Erinnerungsräume, S. 131.

29 Crueger, Native History, S. 295.

30 Hasberg, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, S. 44. Zu beachten ist, dass es verschiedene Vorschläge zum genauen Gegenstandsbereich der Geschichtskultur und deren Verhältnis zum Geschichtsbewusstsein gibt. Für eine Vergleichende Darstellung siehe beispielsweise: Ebd., S. 47.

31 Assmann, Erinnerungsräume, S. 130.

32 Ebd., S. 131.

33 Ebd., S. 136.

34 Ebd., S. 46.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Erinnerungskultur in Bezug auf den Polnisch-Sowjetischen Krieg. Der Piłsudski-Kult und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann
Hochschule
Universität zu Köln  (Historisches Institut)
Veranstaltung
"Wunder an der Weichsel". Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-21
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
40
Katalognummer
V1241261
ISBN (eBook)
9783346667748
ISBN (Buch)
9783346667755
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polnisch-Sowjetische Krieg, Wunder an der Weichsel, Pilsudski, Piłsudski, Assmann, kollektives Gedächtnis, kommunikatives Gedächtnis, Militärgeschichte, Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, Polen, Sowjet Union, Zwischenkriegszeit, Spielfilme, Geschichte, Kulturwissenschaften, Schlacht von Warschau, historische Spielfilme
Arbeit zitieren
Gereon Arntz (Autor:in), 2021, Erinnerungskultur in Bezug auf den Polnisch-Sowjetischen Krieg. Der Piłsudski-Kult und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1241261

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