Erlebnispädagogische Maßnahmen als Beitrag zur Bewältigung von Gewalt und Aggressionen bei Jugendlichen?

Exemplarische Antworten am Beispiel der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen im Leben“ in Diemelstadt-Rhoden


Tesis, 2009

85 Páginas, Calificación: 2,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Abweichendes Verhalten
2.1 Gewalt und Aggressionen
2.2 Entstehung von Aggressionen
2.3 Umgang mit Aggression

3. Jugendkriminalität
3.1 Entwicklung der letzten Jahre
3.2 Strafrechtliche Sanktionen im Jugendstrafrecht
3.2.1 Erziehungsmaßregeln
3.2.1.1 Erteilung von Weisungen
3.2.1.2 Hilfe zur Erziehung
3.2.2 Zuchtmittel
3.2.2.1 Die Verwarnung
3.2.2.2 Auflagen
3.2.2.3 Jugendarrest
3.2.3 Die Jugendstrafe

4. Erlebnispädagogik
4.1 Begriffliche Annäherung
4.2 Die Geschichte der Erlebnispädagogik
4.3 Refelxionsmodelle der Erlebnispädagogik
4.3.1 The Mountains Speak for Themselves
4.3.2 Outward Bound
4.3.3 Das metaphorische Modell
4.3.4 Weitere Lernmodelle
4.3.5 Vergleich der Modelle
4.4 Wirksamkeit
4.5 Ziele der Erlebnispädagogik
4.6 Kritik an der Erlebnispädagogik
4.7 Erlebnispädagogik in der Jugend- und Straffälligenhilfe
4.8 Exkurs in den Strafvollzug

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis/Internetquellen

1 Einleitung

Das Freizeitverhalten hat sich in den letzten Jahrhunderten insofern verändert, als dass eine Umkehrung der Arbeits- und Freizeit stattgefunden hat. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde noch 16 Stunden gearbeitet und die restlichen acht Stunden Freizeit als Regenerationszeit genutzt, um am nächsten Tag wieder arbeitsfähig zu sein. Seit dem 20. Jahrhundert werden nur noch acht Stunden gearbeitet und die Freizeit beträgt 16 Stunden. Da diese Zeit nicht nur zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit dient, muss ein hoher Anteil an freier Zeit gefüllt werden.[1].

Viele Jugendliche, die heute anders als früher, bis zu zehn Jahre zur Schule gehen und frühestens erst dann mit der Ausbildung beginnen, müssen diese freie Zeit füllen und gestalten, was sich oft als schwierig erweist, besonders dann, wenn Langeweile auftritt. Junge Menschen benötigen Sicherheit, Kraft und abwechslungsreiche Gelegenheiten zu nützlicher Betätigung, um mit all diesen Gefahren, aber auch Chancen, die sich in den letzten Jahren aufgetan haben, zurechtzukommen.

Schulen und Jugendeinrichtungen versuchen durch verschiedene Angebote dem entgegenzuwirken, indem sie immer mehr erlebnispädagogische Inhalte wählen, denn „etwas zu erleben, d.h. auch Abenteuer zu erleben, ist schon immer ein Bedürfnis insbesondere junger Menschen“.[2] Auch die Justiz hat sich dieser Entwicklung angeschlossen und ordnet immer wieder erlebnispädagogische Programme an, um delinquenten Jugendlichen einen Weg in ein straffreies Leben zu ermöglichen. Die Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen durchs Leben“ ist solch eine Einrichtung, die vom Richter angeordnet werden kann. Ob ihre Aktionen tatsächlich erlebnispädagogische Merkmale besitzen, soll im Laufe der Arbeit geklärt werden.

Doch können Erlebnisse eine langfristige pädagogische Wirkung erzielen oder sind erlebnispädagogische Unternehmungen nur kurzfristige Impulse und Anstöße? Kann die Erlebnispädagogik in der Jugendhilfe und im Jugendstrafvollzug ein sinnvoller Beitrag sein? Was ist Erlebnispädagogik überhaupt? Wie ist sie entstanden und ist Erlebnispädagogik jede Pädagogik, die mit Erlebnissen arbeitet? Wie wirkt Erlebnispädagogik? Da die Erlebnispädagogik noch kein geschützter Begriff ist, kann sie jeder als diese deklarieren.

Diese und andere Fragen sollen in dieser Arbeit geklärt werden. Dabei wird speziell das Gewalt- und Aggressionsverhalten männlicher Jugendlicher thematisiert. Aufgrund des höheren Testosteronspiegels und der damit verbundenen größeren Gewalt- und Aggressionsbereitschaft fallen sie deutlich mehr durch delinquentes Verhalten auf als weibliche Jugendliche. Bei den Untersuchungen zur Entwicklung der Jugendkriminalität wird eine Ausnahme gemacht, da hier keine Aufteilung in weibliche und männliche Jugendliche unternommen wurde.

Einleitend werden die Begriffe des abweichenden Verhaltens und der Aggression erläutert, um den Begriff der Jugendkriminalität besser verstehen zu können. Auf diese Begriffe wird deshalb eingegangen, weil die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen von Jugendlichen für das Verständnis der Bewältigung von Gewalt und Aggressionen wichtig ist. Neben der Möglichkeit von erlebnispädagogischen Programmen sind auch andere juristischen Bestrafungen von Jugendlichen möglich. Daher ist zunächst die Frage zu klären, wer in Deutschland als Jugendlicher gilt und was Kriminalität bedeutet. Da es sich hier aber um keine kriminalwissenschaftliche Arbeit handelt, werden die verschiedenen Bereiche nur angerissen, um einen Überblick zu verschaffen.

Im Anschluss daran wird ein Überblick über die Erlebnispädagogik gegeben. Dabei wird u. a. auf die Geschichte, die Ziele und die Refelxionsmodelle eingegangen.

Im Verlauf dieser Arbeit wird immer wieder ein Bezug auf die Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen im Leben“ hergestellt werden, um das theoretisch Vorgestellte im Kontext anzuwenden.

Die einzelnen Kapitel stellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit, trotz der vielen Literatur, die ich verwendet habe.

Aus schreibtechnischen Gründen wird in dieser Arbeit nur die männliche Sprachform benutzt (und die weibliche dabei einbezogen).

2 Abweichendes Verhalten

Alles, was nicht der Norm entspricht, ist abweichendes Verhalten. Doch was ist schon normal? Gerade in Bezug auf Verhaltensweisen ist dies schwierig zu sagen, da Normabweichungen einen großen Toleranzbereich umfassen. Ist die Norm das Durchschnittsverhalten oder die Idealvorstellung der Gesellschaft? Der Begriff des abweichenden Verhaltens wird zunächst durch negative Eigenschaften behaftetet sein d.h. Gewaltausübungen, Aggressionen, Diebstahl, also letztendlich Kriminalität. Aber Normabweichungen und Kriminalität sind nicht identisch. Folgt man beispielsweise der Überlegung, die Norm entspreche dem Verhalten der Durchschnittsgesellschaft, dann fallen unter diesen Begriff insbesondere auch positive Eigenschaften. Zusammenfassend heißt das, es sind auch Verhaltensweisen denkbar, die der Norm nicht entsprechen, deswegen aber nicht kriminell sind (z. B. bunte Haarfarben), sodass es sich bei abweichendem Verhalten nur in Ausnahmefällen um Kriminalität handelt. Aber abweichende Verhaltensweisen haben immer auch Sanktionen zur Folge. Ob es ein missbilligender Blick oder die Todesstrafe ist. Hinzu kommt, dass abweichendes Verhalten auch historisch und kulturell unterschiedlich ist. Das, was heute als normal gilt, kann früher noch als unnormal gegolten haben, und das, was in Deutschland als normal gilt, entspricht nicht überall dieser Norm. Vereinfacht gesehen bezieht sich abweichendes Verhalten, nach Albert Cohen immer „auf die Existenz einer Regel“ und ist mit dem „Auftreten einer Handlung“[3] verbunden.

In folgender Abbildung (Abb. 1) ist dargestellt, welche unterschiedlichen Arten es von Devianz neben der Kriminalität gibt. Wie schon erwähnt, sind die Normabweichungen in einem großen Toleranzbereich zu sehen. Die bunt gefärbten Haare beispielsweise stehen noch an der Grenze zwischen angepasstem und abweichendem Verhalten und fallen somit in die „Konventionelle Devianz“, da sie den Status der Normalität erhalten könnten. Was eindeutig in den Bereich des abweichenden Verhaltens gehört, sind die „Provozierende Devianz“, die „Problematische Devianz“ und die „Kriminalität“.

Verhaltensweisen, die in den Bereich der provozierenden Devianz fallen (z.B. eine unfreundliche Bemerkung), sind nicht kriminell, verstoßen trotzdem gegen Normen und werden im Gegensatz zur konventionellen Devianz nicht den Status der Normalität erreichen. Provozierende, aber auch problematische Devianz sind Verhaltensweisen, die von der Gesellschaft nicht toleriert werden und gegen die vorgegangen wird, um sie zu regulieren oder zu beheben, wie beispielsweise der Konsum von harten Drogen.

Die Kriminalität ist eine problematische Devianz, die in der Form von Rechtsnormen festgeschrieben ist und somit, nicht wie die anderen Devianzarten, objektiv ist. Hier werden allerdings einige Arten der Kriminalität (Bagatellkriminalität) nicht in dem Maße als Problem angesehen, wie beispielsweise eine Sexualstraftat.[4]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Devianzarten und -felder[5]

Im Folgenden wird das abweichende Verhalten in Bezug auf kriminalistische Handlungen betrachtet. Im Strafgesetzbuch sind kriminalistische Verhaltensweisen aufgeführt, die mit Strafe bedroht sind und daher Abweichungen darstellen.[6]

In diesem Zusammenhang nehmen DOLLINGER et al. Bezug auf QUENSEL (1981), der sich die Frage stellte, wie Jugendliche kriminell werden. Er legte ein Modell vor, welches eine Entwicklung „einer delinquenten Identität“[7] in acht Stufen darlegt. Der Absprung aus dem delinquenten Verhalten ist nach jeder Stufe möglich:[8]

1. Zunächst begeht der Jugendliche, um ein alltägliches Problem zu lösen, eine geringfügige Straftat wie z.B. Diebstahl oder Haschischkonsum. Fährt er mit dieser Delinquenz auch nur in Ausnahmefällen fort, wächst die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden.
2. Fällt der Jugendliche auf, wird ihm entweder geholfen oder er wird bestraft.
3. Die Bestrafung verschärft das Problem: Entweder bestätigen die negativen Reaktionen seiner Umwelt sein schlechtes Gewissen oder er sucht Bestätigung in „delinquenten Subkulturen.“[9] In dieser Stufe ist ein Ausstieg noch relativ einfach.
4. Bei erneutem Tatnachweis gilt der Jugendliche als „rückfällig“ und wird härter bestraft. Die negativen Reaktionen werden präsenter und seine Probleme damit größer.
5. Der Jugendliche wird offiziell als „Krimineller“ registriert und erfährt Misstrauen beispielsweise, indem er die Schule verlassen muss oder seine Arbeitsstelle verliert. Auch in dieser Stufe hat er die Möglichkeit noch auszusteigen, auch wenn er sich selber schon als „Verbrecher“ versteht.
6. In dieser Stufe ist der Jugendliche als Außenseiter abgestempelt, was das Aussteigen aus dem kriminellen Werdegang zunehmend erschwert. Erfolge und Anerkennung erfährt er immer mehr in delinquenten Gruppen, was zur Folge hat, dass sich das Rollenmuster der Delinquenz verfestigt.
7. Nun wird der Jugendliche in die Strafanstalt eingewiesen. Die Probleme werden verschärft, das Rollenmuster wird endgültig beschlossen und positive Entwicklungen sind kaum noch möglich.
8. Nach der Entlassung ist die Gefahr des Rückfalls und der erneuten Bestrafung groß. Er ist vorbestraft und erfährt in seinem sozialen Umfeld deutlich mehr negative Rückmeldung.

Sollte ein Jugendlicher in diese „Karriere“, wie DOLLINGER et al. diesen Prozess auch nennen, hineingeraten, muss pädagogisch eingegriffen werden, um ihn davon zu überzeugen, dass er sich durch Devianz seine biografischen Perspektiven verbaut. Dabei sollte das Ziel sein, den Jugendlichen aus dieser Karriere zu befreien und ihn dabei in erster Linie als Menschen zu sehen, nicht als Täter. Dafür muss dem Jugendlichen deutlich gemacht werden, dass u.a. Respekt gegenüber anderen Menschen und ihrem Besitz, Vertrauen in sich selbst und in andere Personen, die Menschenwürde des Anderen und das Selbstwertgefühl wichtige Werte sind, um abweichendes Verhalten abzulegen. Oft steht hinter einer delinquenten Karriere bei Jugendlichen die Suche nach Aufmerksamkeit, Zuwendung und Selbstachtung, die sie in ihrem bisherigen Leben nicht erfahren haben. Sie hatten nicht die Möglichkeit, soziale und kommunikative Fähigkeiten der Empathie und Selbstkontrolle zu erlernen, um kritische Situationen zu lösen, da ihre „Ressourcen zur normkonformen Problemlösung nicht ausreichen oder blockiert sind“.[10] Kriminelle Jugendliche besitzen kaum ein Bewusstsein für Unrecht und sie über ihre Straftaten packen zu wollen, macht wenig Sinn. Sie müssen da gepackt werden, wo ihr abweichendes Verhalten seinen Ursprung hat: bei der fehlenden Bindung und dem erlittenen Selbstwertverlust.[11] Auf seiner Homepage ruft WEIDNER dazu auf: „Abweichendes Verhalten Verstehen [sic!], aber nicht einverstanden sein“[12] So ist das auch bei den Jugendlichen in der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen“. Diese oder eine ähnliche Karriere haben die meisten dieser Jugendlichen hinter sich. Sie haben allerdings noch die Möglichkeit den Aufenthalt in einer Strafanstalt zu umgehen, indem sie dort mindestens 1½ oder maximal 6 Monate pädagogische Hilfe bekommen. Sie werden dort als „Mensch“ gesehen und behandelt, nicht als ein Straffälliger. Tägliches Respekttraining und sportliches Training geben ihnen die Möglichkeit, die oben genannten Verhaltensweisen zu lernen.

Kriminelles Verhalten geschieht oft in Verbindung mit Aggressionen und Gewalt. Doch was ist Aggression eigentlich? Wie entsteht sie? Oder ist sie angeboren? Gibt es Unterschiede zwischen Aggression und Aggressivität und Aggression und Gewalt? Sind Aggressionen vielleicht sogar überlebensnotwendig?

2.1 Gewalt und Aggressionen

Überall auf der Welt, in jedem Alter und in jeder Kultur begegnet uns das Phänomen der Gewalt und Aggression. Das beginnt schon bei den Säuglingen, die die Brustwarzen ihrer Mutter beim Stillen malträtieren, und geht „bis hin zum bettlägerigen Greis, der sein Umfeld tyrannisiert“.[13] Hier sprechen Wissenschaftler im ersten Fall von einer zufälligen und im zweiten Fall von einer feindseligen Aggression. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass Aggressionen in uns allen stecken. Sie stehen im direkten Kontakt mit Auseinandersetzungen, denen wir uns alle im Laufe des Lebens in den verschiedensten Situationen stellen müssen. In diesem Zusammenhang zitiert WEIDNER die Psychoanalytikerin Magarete Mitscherlich, die sagt, Aggressionen „gehören zur Grundausstattung des Menschen und führen nicht zur Destruktion, sondern haben auch eine Überlebensfunktion“.13 Laut dieser Aussage scheint es sogar wichtig zu sein, dass jeder von uns Aggressionen in sich hat. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird das Thema Angst nochmal zur Sprache kommen, welches ebenfalls eine Überlebensfunktion ist, da uns das Gefühl der Angst vor Gefahren warnen kann. Inwiefern Angst im Zusammenhang mit Aggressionen steht, wird in Kapitel 3 erläutert. Zwar stecken Aggressionen in uns allen, was aber nicht heißt, dass wir alle aggressiv sind.

Vor ca. 100 Jahren wurde die Aggression Thema in der Psychologie. Dollard et al. waren diejenigen, die die Aggressionsforschung im Jahre 1939 mit ihrem Buch „Frustration and Aggression“ zu einem ersten Höhepunkt brachten. Darin definieren sie Aggression „als eine Handlung, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus-Ersatzes) ist.“[14] Nach dieser Definition ist Aggression ein zielgerichtetes Verhalten, ein anderes Lebewesen verletzen zu wollen. Die Anwendung des Begriffes der Zielsetzung ist aus dem Grunde wichtig, als da es manchmal unerlässlich ist, jemandem Schmerzen zuzufügen (z.B. beim Arzt) ohne gleichzeitig aggressives Verhalten aufzuzeigen.

Neben der zufälligen und feindseligen Aggression gibt es auch noch weiter Aggressionsarten, die ich hier nur nennen und nicht weiter erläutern werde. SELG nennt die direkte und indirekte Aggression, die Einzel- und Gruppenaggression, Selbst- und Fremdaggression, expressive, feindselige und instrumentelle Aggression. Sie können auch offen (körperlich, verbal) oder verdeckt (fantasiert), positiv (von der Gesellschaft gebilligt) oder negativ (missbilligt) sein. Dabei sind zufällige Verletzungen nicht als Aggression zu verstehen. Wie er in seinem Essay in Bezug auf DOLLARD et al. schreibt, ist Aggression kein Motiv, sondern ein Verhalten. Ebenso fallen weder Wut, Ärger noch Hass in die Definition der Aggression. Die Aggressivität kennzeichnet sich durch die relativ überdauernde Bereitschaft eines Individuums zu aggressivem Verhalten.[15]

BOPPEL nennt zwei weitere Aggressionsformen: die „Selbsterhaltungsaggression“ und die „destruktive Aggression“. Im Laufe dieser Arbeit wird Bezug auf die sogenannte destruktive Aggression genommen, da die Selbsterhaltungsaggression im weiteren Sinne dazu dient, die Lebensressourcen zu erhalten und zu erweitern. Die destruktive Aggression beschreibt hingegen ein schädliches Verhalten, welches zum Ziel hat, innere Befriedigung oder Stimulation durch Leidzufügung, materiellen Gewinn, soziale Anerkennung und Macht zu erlangen.[16] Diese Aggression zeigt sich u.a. auch bei den Jugendlichen in der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen“.

Was hat Gewalt nun mit Aggression zu tun? SELG beschreibt die Gewalt als „Teilmenge der Aggression.“[17] Dabei sind in der Regel physische Aggressionen gemeint, die mit Kraft und Macht ausgeübt werden. Aber auch psychisch kann Gewalt ausgeübt werden (Drohungen, Mobbing). Auch BREAKWELL macht in seinen Definitionen deutlich, dass keine klare Trennung zwischen Gewalt und Aggression gezogen werden kann. So definiert er, ähnlich wie DOLLARD et al., Aggression als ein Verhalten, welches zum Ziel hat, eine andere Person gegen ihren Willen absichtlich zu verletzen oder zu schädigen. Auch bei der Definition von Gewalt geht BREAKWELL von einer Absicht aus, jemandem einen Schaden zuzufügen.[18]

In den meisten Medien, ob im Fernsehen, im Film, in der Zeitung oder in Computerspielen finden wir Gewalt oder die Verherrlichung von Gewalt. Selbst an den Orten, wo eigentlich Vertrauen, Geborgenheit und Liebe Priorität haben sollten, macht Gewalt keinen Halt. Auch in Schulen erleben Kinder und Jugendliche eine Form der Gewalt: die strukturelle Gewalt. Vor Erfahrungen mit körperlicher Gewalt sind sie in Schulen aber ebenso wenig geschützt wie in der eigenen Familie. Angenommen, aggressives Verhalten lernt man, dann kann davon ausgegangen werden, dass dies nicht ohne Folgen bleibt, vor allem für die jungen Menschen. Besonders dann, wenn Aggression in Form von Gewalt ausgeübt wird, besteht die Gefahr, dass sie dieses Verhalten übernehmen. Das Wachstum der Bevölkerung und die damit verbundene Arbeits- und Wohndichte tragen ihr Übriges dazu bei. Viele Jugendliche bleiben nach dem Schulabschluss arbeitslos und neben der existenziellen Gefährdung, die dadurch entsteht, wissen sie nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Die Gefahr, nach Alkohol und Drogen zu greifen, um Empfindungen des Versagens und Scheiterns auszuhalten und sich groß und mächtig zu fühlen, steigt dadurch enorm. Starker Alkohol- und Drogenkonsum führt jedoch zu Enthemmungen, zum Verlust der Selbstkontrolle und zu Aggressionen. Somit steigt auch gleichzeitig das Risiko zur Gewaltbereitschaft.[19] Aus diesem Grund ist jeglicher Alkohol- und Drogenkonsum in der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen“ untersagt. Auf den Zusammenhang von Alkohol und Drogen wird in Kapitel 3.1 erneut eingegangen.

Auch das Elternhaus ist mit verantwortlich dafür, was aus seinen Sprösslingen wird. Oft stammen antisoziale und gewalttätige Jugendliche aus „psychotisch-aggressiven“[20] Familienkonstellationen mit „Ich-schwachen Eltern“,[21] die Probleme mit ihrer Familienrolle haben, Bindungsschwächen aufweisen und Aggressionen in jeder Form zeigen. In der Regel sind Jugendliche aus solchen Familien unfähig, befriedigende und dauerhafte soziale Kontakte zu erleben, besitzen nicht die Möglichkeit ihre Handlungen adäquat anzupassen und fallen durch erhebliche, scheinbar ziellose Aggressivität auf, die sich häufig in gewalttätigen Delikten deutlich macht.[22] WEIDNER vertritt die Meinung „die Opfer von früher werden die Täter von heute“.[23] Viele der Jugendlichen von „Durchboxen“ kommen aus solchen Familienverhältnissen. Da sie dort aber geschätzt und als Menschen gesehen werden, finden viele von ihnen in den Pädagogen eine neue Bezugsperson. So können sie lernen, Vertrauen aufzubauen, welches im günstigsten Fall dabei helfen kann, die Beziehung zu ihren Eltern zu verbessern.

Somit wird deutlich, dass aggressives Verhalten gelernt und demnach nicht nur oder primär durch Triebe, wie Freud ursprünglich glaubte, ausgelöst wird. So kommt dem Lernen am Modell besondere Bedeutung zu, wenn ungefestigte Personen die Aggressionen als Problemlösung erkennen. Wie oben bereits erwähnt, sind Gewalt und Aggression in vielen Lebensbereichen vertreten, sodass Kinder und Jugendliche – haben sie es nicht anders gelernt – kaum andere Möglichkeiten haben, als das Gesehene und Erlebte als Modell zu sehen. So lernen und übernehmen sie dieses Verhalten. Hinzu kommt das Lernen am Erfolg. Merken sie, dass sie Erfolg mit ihrem Verhalten haben, wird es beibehalten.[24]

2.2 Entstehung von Aggressionen

DOLLARD et al. stellten 1939 folgende Theorie auf: Frustration führt immer zu einer Art von Aggression und Aggression sei immer eine Folge von Frustration.[25] Inzwischen ist diese Theorie jedoch so nicht mehr haltbar, da Frustration nur noch als eine unter vielen Bedingungen für die Entstehung von Aggressionen betrachtet wird. Auch nach BANDURA handelt es sich bei Aggressionen um Lernprozesse.[26] Eine große Rolle spielen dabei die klassischen Konditionierungskonzepte:

Positive Verstärkung: Durch Aggression wird ein Ziel erreicht (z.B. Anerkennung, Aufmerksamkeit)

Negative Verstärkung: Aggressives Verhalten kann dazu beitragen, ein Angst auslösendes Ereignis zu verringern oder zu beseitigen.

Selbstverstärkung: Wird aggressives Verhalten geduldet, wirkt die „stillschweigende Zustimmung“ verstärkend.24

Neben diesem klassischen Ansatz des Modelllernens von Bandura, der sich am klassischen Konditionieren von Pawlow und dem operanten Konditionieren von Skinner orientiert, geht WEIDNER davon aus, dass Aggressionen dann freigesetzt werden, wenn jemand seine Umwelt als ihm übel gesinnt wahrnimmt. Diese Reaktion dient dann als Selbstschutz. Folgende Reaktionskette läuft in solchen Fällen ab:

Feindseligkeitswahrnehmung → Gefahr → körperliche Stressreaktion → aggressive Gegenwehr (oder Flucht)[27]

Es gibt aber auch andere Erklärungen über die Entstehung von Aggressionen. So zitiert BÖHNISCH in seinem Buch über abweichendes Verhalten O. RÜHLE:

„Die Natur hat es so eingerichtet, dass der Mensch als kleines Kind zur Welt kommt [...]. Groß sind die Erwachsenen, die das kleine Kind in Empfang nehmen [...]. Zwar ist ihnen dieser Gegensatz noch nicht bewusst [...]. Das Kind kommt mit einem Erbgut mehr oder weniger differenzierter Triebe auf die Welt, die alle den naturgegebenen Sinn haben, seine Existenz gegenüber den ihm drohenden mannigfaltigen Gefahren zu sichern. Eine dieser Gefahren besteht darin, von der Übermacht der Erwachsenen erdrückt zu werden. Auf sie reagiert der kindliche Instinkt“.[28]

Diese Situation lässt das spätere Selbstwertgefühl „zum entscheidenden Antrieb der seelischen Entwicklung des Kindes werden.“[29] Wie sich das Individuum letztendlich entwickelt, hängt von seiner Umwelt ab. Solange sich der kindliche „Minderwertigkeitskomplex“ in einer Umwelt befindet, in der das „Geltungsgefühl nie unter ein gewisses erträgliches Maß herabgesetzt“[30] wird, ist eine „Trieb-Umwelt-Balance“29 möglich. Wird das Geltungsgefühl jedoch zu sehr herabgesetzt, so RÜHLE weiter, „[...] erzeugen die unbefriedigten Minderwertigkeitsgefühle Anspruch auf übersteigerte Befriedigung aus der Logik des Lebens heraus und enden in Neurose“.30 Diese Verhaltensanomalie kann sich unter anderem in aggressivem Verhalten äußern.

Dies ist eine einleuchtende Erklärung dafür, warum sich Kinder und Jugendliche in manchen Situationen aggressiv verhalten. Kinder und Jugendliche aus den oben beschriebenen psychotisch-aggressiven Familien werden immer wieder mit Ablehnung bestraft. Sie haben, genau wie die meisten Jugendlichen in „Durchboxen“, nie positive Erfahrungen mit ihren Eltern machen können, und sind daher scheinbar „unfähig zur Liebe und bleiben auf einer infatil-narzistischen Entwicklungsstufe stehen, weil sie in ihrer Umwelt nie erfahren haben, dass es ein `Liebesobjekt` gibt, für das es sich lohnen würde, Triebverzicht und -hemmungen auf sich zu nehmen.“[31]

Aber auch die Pubertät ist Ursache von Aggressionen, da sie den Aggressions- und Selbstbehauptungstrieb freisetzt. Die Jugendzeit, und damit auch die Pubertät, ist eine Phase der Erprobung und des Austestens von Regeln und Grenzen.[32] Dies kann sich ganz harmlos zeigen, beispielsweise bei der Missachtung von Regeln, die in der Familie gelten, (z.B. zu einer bestimmten Uhrzeit wieder zu Hause sein zu müssen), aber auch dramatischer, wenn die Gesundheit oder das Eigentum anderer Personen angegriffen wird.

2.3 Umgang mit Aggressionen

Nachdem deutlich geworden ist, wann und wieso Aggressionen entstehen, geht es nun darum, diese in den Griff zu bekommen oder einen Weg zu finden, wie sich Menschen in solchen Situationen ablenken können. Ein Abreagieren durch verschieden Tätigkeiten ist laut NOLTING, der Bezug auf viele verschiedene Studien und Versuche nimmt, nicht möglich. Selbst die Annahme, dass Sport und starke körperliche Anstrengung helfen würden, Aggressionen abzubauen, widerlegt er in mehreren Beispielen.[33] Denn solche Aussagen wie „Lass deine Gefühle raus!“ sind insofern nicht umzusetzen, als dass Gefühle nicht rauszulassen sind. Wir können Gefühle zwar ausdrücken, aber nicht „wie Wasserdampf aus dem Ventil“[34] rauslassen. Dennoch ist der Sport in der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen“ ein großer Bestandteil des Tagesablaufs. Aber wichtig scheint, dass etwas getan wird, was ablenkt. Dabei spielt keine Rolle, was es ist, es sollte nur nichts mit dem Ärger zu tun haben, der die Aggression hervorgerufen hat. Allerdings kann diese Ablenkung nur vorübergehend helfen, da sie den Auslöser nicht aus der Welt schafft. Um das Problem zu beseitigen, welches die Aggressionen hervorruft, muss eine offene Kommunikation und Klärung des Problems stattfinden. So findet das auch bei den Jugendlichen im Camp „Durchboxen“ statt, wenn sie sich beispielsweise untereinander geprügelt haben. Dies ist wichtig um den Ärger, der in einem steckt, nicht zu unterdrücken. Um mit seinen Aggressionen umgehen zu können, ohne andere Lebewesen oder Sachen zu verletzen bzw. zu beschädigen, ist es neben dem Wissen, wie Ablenkung verschafft werden kann, wichtig über Gefühle, Bedürfnisse und Problemlösungen nachzudenken und mit anderen darüber reden zu können.[35]

Die Frustrationstheorie besagt, wie schon in Kapitel 2.2 erwähnt, dass Aggressionen durch die Vermeidung oder wenigstens die Reduzierung von Frustrationen zu beeinflussen sind. Dass diese Theorie heute nur noch bedingt so haltbar ist und weitere Faktoren für die Entstehung von Aggressionen verantwortlich sind, wurde ebenfalls erwähnt. Dennoch entstehen viele Aggressionen durch Frustrationen. Wenn ein Jugendlicher beispielsweise Misserfolge oder Überforderungen erlebt, ist er frustriert. In den sogenannten psychotisch-aggressiven Familien lernen die Jugendlichen nicht, mit ihrer Frustration umzugehen und fertig zu werden. Die Stärkung des Selbstwertgefühls kann in solchen Familien kaum stattfinden. Nur in einer Familie, in der es Wärme, Anerkennung, Lob und Rückhalt gibt, ist die Möglichkeit gegeben, auch mit negativen Botschaften über sich selbst zurechtzukommen. Dieses müssen Jugendliche, die aus schwierigeren Familienverhältnissen kommen oft erst lernen. Und das können sie in der Jugendhilfeeinrichtung, die in der Zeit, die sie dort verbringen, die Pädagogen und ihre jugendlichen Mitbewohner vorübergehend als ihre Familie ansehen und annehmen.

Was muss also getan werden, um Aggressionen bei Jugendlichen zu vermeiden und wie kann das erwünschte Verhalten hervorgerufen werden?

Der Begriff des Selbstwertgefühls scheint der Schlüssel zu sein. Durch ein ausgebildetes und gesundes Selbstwertgefühl wäre es den Jugendlichen möglich, in kritischen Situationen besonnener zu handeln. Das hängt mit der Fähigkeit zusammen, die persönlichen Kompetenzen zu erweitern und Selbstbestimmung zu erlangen. Dies geschieht indem gelernt wird, negative Kritik zu erfahren, Konfliktfähigkeit zu entwickeln, Misserfolge verarbeiten zu können, Lösungen für Probleme zu finden, Achtung vor sich selbst und seiner Umwelt zu haben, über seine Empfindungen und Ängste reden zu können, (Selbst-) Vertrauen zu schaffen, (Selbst-) Verantwortung zu übernehmen, Regeln zu akzeptieren, aber auch seine Stärken zu kennen und sie zu schätzen wissen.

Ob die Erlebnispädagogik dafür eine geeignete Methode ist, soll geklärt werden, nachdem ein Überblick über die Jugendkriminalität und ihre (juristischen) Folgen gegeben wurde.

3 Jugendkriminalität

In welchem Alter Personen tatsächlich Jugendliche sind, ist u. a. im SGB VIII welches das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ist, beschrieben. So ist in § 7 KJHG zu lesen, dass derjenige zu den Jugendlichen gehört, der 14 Jahre, aber noch keine 18 Jahre ist. Dies nur auf das Alter beschränkt zu sehen, ist recht schwierig, da der Entwicklungsstand in diesem Alter weit auseinandergehen kann. Dennoch ist diese klare begriffliche Abgrenzung für den Gebrauch von Gesetzestexten erforderlich, da sie Rechtsansprüche und institutionelle Verpflichtungen regeln. Auch das Jugendgerichtsgesetz (JGG) bezieht sich in seinen Gesetzestexten auf das im KJHG genannte Alter, schließt aber die Strafmündigkeit mit ein. Somit sind Jugendliche, so in § 1 Abs. 2 des JGG festgehalten, Personen, die zur Zeit einer Straftat zwischen 14 und unter 18 Jahren sind. Sie werden somit, mit Rücksichtnahme auf ihre sittliche und geistige Entwicklung[36] nach dem Jugendstrafrecht (JStR) verurteilt. In das System des Jugendstrafrechts werden zusätzlich die Heranwachsenden einbezogen, die zur Tatzeit 18 aber noch keine 21 Jahre sind. Auf ihr delinquentes Verhalten ist wie bei den Jugendlichen das JStR anzuwenden, wenn sie nach § 105 Abs 1 Nr 1 JGG, der „sittlichen und geistigen Entwicklung“ eines Jugendlichen entsprechen, „oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt“.[37] Diese Altersbegrenzung gilt seit 1923 mit Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes.[38] Auch die Jugendlichen im Trainingscamp „Durchboxen“ werden unter den genannten Voraussetzungen aufgenommen.

Kriminalität oder Delinquenz ist ein Rechtsbruch, welcher durch das Strafrecht festgelegt ist und beinhaltet eine strafrechtlich missbilligte Handlung.[39] In diesem Sinne wird ein Verbrechenstatbestand vom Strafrecht vorgegeben. Ursachen krimineller Handlungen sind nach GOTTFREDSON et al., die mangelnde Selbstkontrolle und die Gelegenheit[40] und sind durch ökonomische, soziale, individuelle und situative Faktoren bedingt.[41]

Wie Statistiken bis zum Jahre 2000 zeigen, sind die Zahlen straffälliger Jugendlicher, besonders bei Eigentumsdelikten und bei dem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gestiegen ist. Die Politik überlegt, die Jugendkriminalität intensiver zu bekämpfen und die Strafbarkeit auszuweiten und dazu schlagen sie folgende Strafverschärfungen vor:

- Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters
- Herabsetzung des Alters für die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts
- Das Strafspektrum ausdehnen
- Die Einweisung in (geschlossene) Erziehungsheime häufiger zu veranlassen.[42]

Dass eine Verschärfung des Strafrechts jedoch generell nicht von einer Straftatbegehung abschreckt, zeigt die Generalpräventionsforschung, denn „die erwartete Schwere der Strafe […] erwies sich als bedeutungslos“.[43] Hinzu kommt, dass die Rückfallstatistik des Bundesministerium der Justiz gezeigt hat, dass die Rückfallraten ebenfalls mit der Schwere der Sanktion zusammenhängt: „Je härter die verhängte Sanktion, desto höher die Rückfallraten. Bei vollstreckter Jugendstrafe betrug sie z.B. 78%“.[44]

Die Enquête-Kommission des 9. Deutschen Bundestages „Jugendprotest im demokratischen Staat“ hat schon 1983 aufgeführt, dass viele Jugendliche in unserer Gesellschaft kaum eine Chance haben, eine überzeugende Zukunftsaussicht zu entwickeln, was dazu führen könne, dass das dadurch entstehende Subproletariat „zum Nährboden für Gewalt und Kriminalität (...) wird.“[45]

Nach SEIDELMANN ist die Jugendkriminalität ein Symptom dafür, dass Jugendliche durch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, keine ungefährlichen Realisierungsmöglichkeiten mehr finden, ihren Bedürfnissen nachzugehen. Der achte Jugendbericht der Bundesregierung bestätigt dieses: „... manche Straftat von Jugendlichen und Heranwachsenden [ist] nur begründet [...] aus der Anregungs-, Erlebnis- und Erfahrungsarmut unserer durchreglementierten Lebensräume. Räume, in denen man gefahrlos Abenteuer bestehen und Risiken ausreizen könnte, gibt es für junge Menschen kaum noch“. Diese „lustbetonten“ Delikte, die aus Mangel an Abenteuer- und Erlebnismöglichkeiten entstehen und bei denen es um Spannung, Nervenkitzel, um Mutproben sowie die Suche nach Situationen der Bewährung in einem monotonen und spannungslosen Alltagsleben geht, werden auch als „Erlebniskriminalität“ oder „Wohlstands- und Zivilisationskriminalität“ bezeichnet, so NICKOLAI. Auch für WILLEMS, wie NICKOLAI in seinem Aufsatz darlegt, ist die Lust an Gewalt und die Suche nach „action“, Ersatz für fehlende Freizeitangebote und Möglichkeiten sich auszuprobieren. Besonders Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten, auch „Modernisierungsverlierer“23 genannt, die keine finanziellen Möglichkeiten haben, als sich beispielsweise mit ihren Skateboards auf der Straße oder in Hauseingängen aufzuhalten, oder sich nachts zu einem „kasachischen Kreis“ zu treffen, können ihre Bedürfnisse nicht anders befriedigen, als lustbetonte Delikte zu begehen. Die einzige Möglichkeit wäre dann, eine Jugendhilfeleistung nach § 35 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), die aber nur dann bewilligt wird, wenn größere Auffälligkeiten als nebensächliche oder sporadische Jugendkriminalität auftreten.[46] Eine Untersuchung des Bundeskriminalamtes (BKA) zum Thema „Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen – Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen“ zeigt ebenfalls als ein Ergebnis, dass aggressives Verhalten bei Jugendlichen wahrscheinlicher und ausgeprägter ist, je mehr Risiken sich im Laufe ihrer Entwicklung anhäufen. Ebenso zeigt eine Dunkelfelderhebung zu Gewalt und Kriminalität unter 13- bis 19-jährigen Schülern aus dem Jahre 2000, dass eine hohe Delinquenz- und Gewaltneigung besonders bei Schulverweigerern nachzuweisen ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen.

Aber auch die Arbeitslosigkeit, in die Jugendliche oft aufgrund ihrer biografischen Vergangenheit und der schlechten Arbeitslage, hineingeraten, geben Anlass darüber nachzudenken, ob die Gefahr, straffällig zu werden, abhängig von der Arbeitssituation ist. Der Eintritt in die Arbeitsgesellschaft ist für positive Entwicklung und die Identitätsfindung des Jugendlichen sehr wichtig. Finden erwerbslose Jugendliche keine andere Aufgabe, mit der sie ihr Selbstbewusstsein stärken können, besteht die Gefahr, dass sie dieses durch Flucht in strafbares Verhalten zu überdecken suchen. Allerdings heißt das nicht, dass Arbeitslosigkeit Ursache für Delinquenz ist. Eher ist es die Gesamtsituation der Jugendlichen, die sich in der Situation sehen sich nicht an die Normen der Gesellschaft halten zu können und deshalb abweichendes Verhalten aufweisen, was wiederum die Arbeitslosigkeit begünstigt.[47] Daher besteht ein wesentliches Ziel der Pädagogik der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen“ darin, dass die Jugendlichen nach ihrer Entlassung möglichst schnell eine Beschäftigung in Form von Praktika, Ausbildungsstelle oder Arbeitsangebot haben. Kurz vor der Entlassung, wird sich um diese Angelegenheit gekümmert., damit sie direkt im Anschluss an den Aufenthalt damit beginnen können.

[...]


[1] vgl. LSB, S. 2

[2] Nickolai 1997, S. 4

[3] vgl. Böhnisch, S. 19, vgl. n. Cohen

[4] vgl. Dollinger et al., S.12

[5] Dollinger et al., S. 13

[6] vgl. Dollinger et al., S.11

[7] vgl. Dollinger et al., S.81

[8] vgl. Dollinger et al., S. 82f., vgl. aus Quensel 1981, S. 48ff.

[9] Dollinger et al., S. 82

[10] Böhnisch, S. 180

[11] Böhnisch, S. 14, 72, 179f., 123

[12] Weidner, Deutsches Institut für Konfrontative Pädagogik

[13] Weidner 2005, S.28

[14] Selg, Aggression, zit. n. Dollard et al.

[15] Selg, Aggression

[16] vgl. Boppel

[17] Selg, Aggression

[18] vgl. Breakewell, S. 19

[19] Das bedeutet nicht, dass arbeitslose Jugendliche öfter gewalttätig sind, als Jugendliche die Arbeit haben.

[20] Böhnisch, S. 121

[21] Böhnisch, S. 122

[22] vgl. Böhnisch, S. 121, vgl. n. Herriger, S. 92

[23] Weidner, Symposium Jugendgewalt

[24] vgl. Stangl, Psychologische Erklärungsmodelle für aggressives Verhalten

[25] vgl. Stangl, Frustrations-Aggressionstheorie (Dollard)

[26] vgl. Stangl, Psychologische Erklärungsmodelle für aggressives Verhalten, vgl. n. Bandura

[27] vgl. Weidner 2006, S. 29

[28] Böhnisch, S. 120, zit. n. Rühle, S. 26

[29] Böhnisch, S. 120

[30] Böhnisch, S.120. zit. n. Rühle, S. 34

[31] Böhnisch, S. 122

[32] vgl. Böhnisch, S. 129f.

[33] vgl. Nolting, S. 183

[34] Nolting, S. 193

[35] vgl. Nolting, S. 191f

[36] vgl. § 3 Abs.1 S. 1 JGG

[37] § 105 Abs.1 S. 1 Nr. 2 JGG

[38] vgl. Eisenberg 2004, Einleitung Rn 1

[39] vgl. Heinz, S. 16

[40] vgl. Dollinger et al., S. 60 vgl. n. Gottfredson et al.

[41] vgl. Heinz, S. 90

[42] vgl. Pettinger, S. 73f

[43] Heinz, S. 86, zit. n. Streng 2002, S. 30, 33

[44] Heinz, S. 87

[45] Heinz, S. 91, zit. n. BT-Drs. 9/2390, S. 63

[46] vgl. Nickolai 1997, S. 4f.

[47] vgl. Böhnisch, S. 153ff.

Final del extracto de 85 páginas

Detalles

Título
Erlebnispädagogische Maßnahmen als Beitrag zur Bewältigung von Gewalt und Aggressionen bei Jugendlichen?
Subtítulo
Exemplarische Antworten am Beispiel der Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen im Leben“ in Diemelstadt-Rhoden
Universidad
University of Applied Sciences Düsseldorf
Calificación
2,3
Autor
Año
2009
Páginas
85
No. de catálogo
V124138
ISBN (Ebook)
9783640287796
Tamaño de fichero
918 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Erlebnispädagogische, Maßnahmen, Beitrag, Bewältigung, Gewalt, Aggressionen, Jugendlichen
Citar trabajo
Imke Sievers (Autor), 2009, Erlebnispädagogische Maßnahmen als Beitrag zur Bewältigung von Gewalt und Aggressionen bei Jugendlichen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124138

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