Kleidung als Verkleidung der Seele: Eine exemplarische Analyse anhand des Briefromans "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von La Roche


Hausarbeit, 2021

19 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG MIT ERKENNTNISINTERESSE

2. DIE DISKREPANZ ZWISCHEN NATÜRLICHKEIT UND HÖFISCHEM SCHEIN

3. DIE FUNKTION DER KLEIDUNG ALS VERKLEIDUNG DER SEELE
3.1. VON „DEN KLEIDERN MEINER MAMA“ ZUM HÖFISCHEN PUTZ
3.2. DER KÖRPER DER PROTAGONISTIN ALS SCHAUPLATZ DER BLICKE
3.3. SOPHIE VON STERNHEIM IM KLEID EINER MÄTRESSE

4. DIE DARSTELLUNG EINES IDEALISIERTEN WEIBLICHKEITSBILDES
4.1. SOPHIE ALS VERKÖRPERUNG EMPFINDSAMER TUGEND
4.2. WEIBLICHE EMANZIPATION DURCH AUFKLÄRERISCHE AUTONOMIE

5. FAZIT

6. BIBLIOGRAPHIE
6.1. PRIMÄRLITERATUR
6.2. SEKUNDÄRLITERATUR
6.3. INTERNETQUELLEN

1. Einleitung mit Erkenntnisinteresse

Pierre Bourdieu erklärt in seinem AufsatzDie Metamorphose des Geschmacks„Die Mode gehört zu jenen Mechanismen, mit deren Verstehen man nie ans Ende kommt, weil man sie zu leicht versteht.“1 Dieser Appell eröffnet den Zugang zu einer mode- technischen Analyse des im Jahr 1771 erschienen BriefromansGeschichte des Fräu- leins von Sternheimvon der ersten weiblichen deutschen Berufsschriftstellerin Sophie von La Roche2, welcher auch der Tugend- und Erziehungsliteratur zugeordnet wer- den kann.3 Der Briefroman handelt von Selbstverlust über Selbstfindung und der Selbstbestimmung des eigenen Lebens der Protagonistin Sophie von Sternheim, de- ren empfindsam-tugendhafte Identität durch die lasterhaften Vergnügungen und Ver- führungen am Hof von D. gefährdet wird.4

Die Kleidermode gewinnt zum Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung für die Lite- ratur, da die Kleidung immer mehr als Zeichen eins symbolischen Systems funktio- niert und an gesellschaftlichem Repräsentationscharakter verlieren.5 Kraß formuliert dieses Konzept auch als solches, dass die Kleidung keiner praktischen oder ästheti- schen Funktion nachkommt, sondern ausschließlich für eine Bedeutung geschaffen ist.6 Im Rahmen dieser Seminararbeit soll daher die Bedeutung und Funktion der Klei- dung der Titelheldin Sophie von Sternheim als Zeichensystem für den Handlungskon- text des Briefromans dargestellt werden. Im Zuge dessen wird diskutiert, in welchen räumlichen Kontexten die Kleidung als Spiegel der Seele der Titelheldin funktioniert und somit auf Charakterzüge ihrer selbst schließen lässt und warum die Kleidung am Hofe eher als Verkleidung der Seele verstanden werden kann. Die Analyse der Figur der Protagonistin und dessen Kleidung als wird durch exemplarische Darstellung von drei Szenen des Briefromans, in denen diese Thematik besonders aufgegriffen wird, gestützt. Die drei Textstellen repräsentieren Sophies Zeit am Hof, welche von „den Kleidern [ihrer] Mama“7, über die „Spiel im Spiel“8 Begegnung mit dem Fürsten bei einem Opernbesuch bis hin zum Maskenball, bei dem sie im Kleid einer Mätresse auftritt, reicht. Der Gegenstand der vorliegenden Seminararbeit liegt in der beschrei- benden Kleidung der Sternheim, insbesondere derer, welche sie im Rahmen der Mas- kenballszene trägt. Ihre vestimentäre Kleidung, die Frisur, Accessoires und Bewe- gungen der Titelheldin Sophie stehen dabei im Vordergrund und verdeutlichen die Funktion der Kleidung als Verkleidung ihrer seelischen Empfindungen und Tugenden. Dabei verdeutlicht das Farbspiel ihres Kleides aus Cramoisi und schwarzem Traft ihre Verführbarkeit, während ihre offenen Locken eine sexualisierende Wirkung auf die Ballgesellschaft haben. Neben dem Kleid und der Frisur soll auch die Maske, die als Verhüllung ihrer die Empfindungen fungiert, den Fürsten von ihrer Rolle als geeignete Mätresse zu überzeugen. Die Analyse der Physiognomie des Fräuleins von Stern- heim am Hofe von D. steht in Differenz zu ihrem inneren Empfinden. Dementspre- chend wird über die Analyse der höfischen Gesellschaft, der Kleidung der Sternheim und der Zeichencharakter dieser sowie ihrer Empfindungen darüber im Roman ein stark idealisiertes Weiblichkeitsbild konstruiert. Die mit der modetechnischen Analyse einhergehende Konstruktion eines weiblichen Idealbildes soll die vorliegende Semi- nararbeit abrunden, dabei wird der Fokus auf der Handlung des ganzen Romans lie- gen, damit auch die weibliche Autonomie der Sternheim Figur und ihre Rolle als Ma- dame Leidens miteinbezogen werden können. Im Zuge dessen soll insbesondere die Darstellung eines idealisierten Weiblichkeitsbildes, das versucht eine harmonische Verbindung der idealen Frau der Empfindsamkeit und der Aufklärung zu schaffen, verdeutlicht werden.

Im Folgenden sollen nun jedoch die Bedeutung und Funktion von Mode und Kleidung im bürgerlichen Kontext, in dem die Protagonistin aufgewachsen ist, und am Hofe dargestellt werden, sodass die Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Natürlichkeit und der höfischen Repräsentation deutlich wird. Die Basis der Hausarbeit und der Zugang zum Primärtext bildet eine zeichensemiotische Methode, die auch Bezüge zur feministischen Literaturwissenschaft und den Gender Studies nimmt.

2. Die Diskrepanz zwischen Natürlichkeit und höfischem Schein

Der Briefroman eröffnet einen Zugang zum sittlich-tugendhaften Landleben, welches dem lasterhaften Hof gegenübergestellt wird, um die Diskrepanzen deutlich hervor- zuheben.9 Die Kleidung dient in der Literatur als Zeichensystem, daher sollte diese im Zuge einer literaturwissenschaftlichen Analyse nicht ignoriert werden. Infolgedes- sen muss der TerminusKleidungan dieser Stelle definiert werden, um einer Analyse dieser gerecht zu werden. Der BegriffKleidungumfasst neben der vestimentären Kleidung auch Accessoires, „Veränderungsmöglichkeiten des Körpers durch Frisur [und] Schminke“10 und die Haltung, welche daher ebenfalls einen Teil der Analyse darstellt. Zeichen, so auch das modetechnische Zeichensystem, passen sich Kontex- ten an, sodass deutlich wird, dass das Zeichensystem der höfischen Gesellschaft eine andere Zeichenpolitik verfolgt als jenes der bürgerlichen Gesellschaft.11 Die bür- gerlich-empfindsame Aufrichtigkeitsdoktrin verlangt „das Bezeigen der Übereinstim- mung der inneren Verfasstheit und äußerer Erscheinung“12, was bedeutet, dass die äußere Erscheinung, mit der die Kleidung einhergeht, die Tugendhaftigkeit des Her- zens ausdrückt, was auch im Interesse der Tugendhaften selbst liegt. Die Tugend- haftigkeit des Herzens begründet sich in der natürlichen Empfindsamkeit und der sitt- lichen Vernunft, die verlangt, dass das äußere Erscheinungsbild das Innere des Men- schen widerspiegelt.13 Daraus folgt, dass die Identität der Figuren durch die Kleidung, die sie tragen, manifestiert wird14 und Erwartungen diesen Charakteren gegenüber erzeugt werden können.15 Im bürgerlichen Kontext ergibt sich im Sinne dieser Bedeu- tung von Kleidung für das Zeichensystem der Mode, dass „das physiognomische Konzept [Lavaters] auf eine charakterliche Interpretation von Kleidung [ausgeweitet wird.]“16 Dieser bürgerlichen Natürlichkeit stehen die höfischen Kleidungsmaximen gegenüber, da die Mode im höfischen Kontext eine Zeichenpolitik nach außen ver- folgt.17 Dabei dient die Kleidung als Zeichensystem, das mit der Verkleidung der hö- fischen Gesellschaft einhergeht, sodass durch eine umfangreiche Analyse die Authentizität und Aufrichtigkeit der Identität der höfischen Gesellschaft angezweifelt werden kann.18 Die Verkleidung der Hofgesellschaft geht jedoch nicht ausschließlich auf ablegbare Kleiderzeichen zurück, da auch empfindsame Gefühle und Äußerun- gen, die als authentisch gewertet werden können, die soziale Position der Figuren am Hofe gefährden können und somit nicht gezeigt werden sollen.19 Wie bereits ange- deutet, fungieren Kleider als ablegbare Zeichen, sodass diesen ein Täuschungspo- tential unterstellt werden kann, was bereits der BegriffVerkleidungimpliziert.20 Fol- gend ist das Benehmen am Hofe an die Beherrschung eines Verhaltensrepertoire gebunden, dieses verlangt neben der richtigen Ausdrucksweise und Bewegung auch eine Kleidung, die das Innere verkleidet21, sodass der Hof als Schauplatz der Täu- schung demaskiert wird.22 Die daraus resultierende Imitation dieser Konventionen der höfischen Gesellschaft dient als Kompensation „der zunehmenden Kontingenz des Individuellen“23, welche durch die eingeschränkte Möglichkeit zur individuellen Identi- täts- und Persönlichkeitsentwicklung im höfischen Raum begünstigt wird.24 Durch die einheitliche Identität der höfischen Gesellschaft, die der Imitation des Verhaltensre- pertoires unterliegt, findet eine „totale Verflechtung des Individuums mit der sozialen Welt“25 statt, welche bedingt, dass das Individuum nur die höfische imitierte Persön- lichkeit entwickelt. Außerdem kann festgehalten werden, dass die inneren Empfin- dungen der Hofgesellschaft denselben Gesetzen des Scheins unterliegen wie das äußerlichere Erscheinungsbild in Form des höfischen Putzes.26 Das Fräulein von Sternheim steht als Protagonistin zwischen der bürgerlichen Natürlichkeit, nach deren Idee sie erzogen wurde, und der höfischen Sozialisation, mit welcher sie im Lauf ihres Lebens in Berührung kommt. Der Briefroman entwirft mit der Figur Sophie die Ver- körperung der Dichotomie zwischen Natürlichkeit und höfischer Künstlichkeit, sodass die Diskrepanz der Bedeutung und Funktion von Kleidung zwischen dem bürgerlichen und dem höfischen Kontext deutlich wird. Die bürgerliche Vorstellung, dass äußere Zeichen auf die Seele eines Menschen schließen lassen, kollidiert mit dem höfischen Konzept der Verkleidung, in das Sophie von Sternheim als Vertreterin der bürgerli- chen Vorstellung gedrängt wird.

[...]


1 Pierre Bourdieu: Die Metamorphose des Geschmacks. In: Soziologische Fragen. Aus dem Französischen von Hella Beister und Bernd Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993. S. 106.

2 Vgl. Monika Nenon: La Roche, Marie Sophie von, geb. Gutermann, seit 1741 Gutermann v. Gutershofen. In: Labouvie, Eva (Hrsg.): Frauen in Sachsen-Anhalt: Ein biographisch-biblio- graphisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Ver- lag 2016. S. 191.

3 Vgl. Kevin Hilliard: Der „Gang der Ordnung“: Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche. In: Loster-Schneider, Gudrun (Hrsg.): „Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften“: Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Tübingen: Francke Verlag 2010. S. 81.

4 Vgl. Monika Nenon: La Roche, Marie Sophie von, geb. Gutermann, seit 1741 Gutermann v. Gutershofen. S. 192.

5 Vgl. Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutsch- sprachigen Literatur (1770-1945). Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2005. S. 8.

6 Vgl. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübin- gen/Basel: Francke Verlag 2006. S. 1.

7 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. 5. Auflage. München: Deut- scher Taschenbuch Verlag 2015. 1. Auflage 2007. S. 61.

Anmerkung: Dem Primärtext entnommene Zitate werden im Folgenden nur noch mit dem Kür- zelLRund der Seitenangabe im Fließtext versehen.

8 Anke Bosse: Retheatralisierung im Theater und Drama der Moderne. Zum Spiel im Spiel. In: Anz, Thomas/Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin: de Gruyter 2009. S. 419.

9 Vgl. Kristian Donko: „L’homme copie“. Individualität und Imitation im 17. Und 18. Jahrhundert. München/Paderborn: Fink Verlag 2012. S. 77.

10 Julia Bertschik: Mode und Moderne. S. 4.

11 Vgl. Antonella Giannone: Kleidung als Zeichen. Ihre Funktion im Alltag und ihre Rolle im Film westlicher Gesellschaften: Eine kultursemiotische Abhandlung. Berlin: Weidler Verlag 2005. S. 103.

12 Kristian Donko: „L’homme copie“. S. 75.

13 Vgl. ebd., S. 74.

14 Vgl. Antonella Giannone: Kleidung als Zeichen. S. 103.

15 Vgl. ebd., S. 41.

16 Julia Bertschik: Mode und Moderne. S. 34.

17 Vgl. Kristian Donko: „L’homme copie“. S. 75.

18 Vgl. Antonella Giannone: Kleidung als Zeichen. S. 103.

19 Vgl. Kristian Donko: „L’homme copie“. S. 40.

20 Vgl. Antonella Giannone: Kleidung als Zeichen. S. 35.

21 Vgl. Kristian Donko: „L’homme copie“. S. 41f.

22 Vgl. ebd., S. 73.

23 Ebd., S. 47

24 Vgl. ebd.

25 Ebd.

26 Vgl. ebd., S. 34.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Kleidung als Verkleidung der Seele: Eine exemplarische Analyse anhand des Briefromans "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von La Roche
Hochschule
Universität Mannheim
Note
2,0
Jahr
2021
Seiten
19
Katalognummer
V1242899
ISBN (eBook)
9783346661944
ISBN (Buch)
9783346661951
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kleidung, verkleidung, seele, eine, analyse, briefromans, geschichte, fräuleins, sternheim, sophie, roche
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Kleidung als Verkleidung der Seele: Eine exemplarische Analyse anhand des Briefromans "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von La Roche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1242899

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