Aspekte des Gattungsbegriffes im musikwissenschaftlichen Diskurs


Dossier / Travail de Séminaire, 2008

23 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

II. Vorwort

III. Allgemeine Feststellungen zur musikwissenschaftlichen Terminologie im Kontext von Wissenschaftssprache

IV. Der Gattungsbegriff im Kontext des philosophischen Universalienstreits und das Problem der Terminologie

V. Der Gattungsbegriff als Vermittlungsinstanz – eine Betrachtung der Beziehungen zwischen Objekt- und Beschreibungsebene

VI. Gattungstheorien und ihr Systemcharakter

VII. Die historische Dimension von Gattungen und Gattungsbegriff

VIII. Nachwort

IX. Literaturverzeichnis

II. Vorwort

In der heutigen globalen ‚Musikkultur‘, in der man Musik hauptsächlich als Produkt ansieht, welches es zu vermarkten gilt, ist es aufgrund der Bedeutung von Zielgruppen-Orientiertheit, Trend-Prognosen und ‚Schubladendenken‘ in der Musikindustrie unverzichtbar geworden, ein musikalisches Produkt gattungskategorisch in das vorhandene System einordnen zu können, beziehungsweise eine auf das Produkt zugeschnittene Gattungsbezeichnung zu konstruieren. Nur auf diese Weise kann Musik auf dem globalen Markt als Produkt erfolgreich vertrieben werden, da über die Gattungskategorie eine vermittelnde Instanz zwischen Produzent und Konsument besteht, die eine marktgerechte, auf den Massenabsatz von Musik konzentrierte Handhabung dieser ermöglicht (vgl. Marx, 2005, S. 288f. und: Danuser, 1995, Sp. 1059ff.).

Unbeachtet – da für die Musikindustrie vermutlich auch nicht relevant – bleibt hierbei allerdings die Fragestellung, ob Musik denn überhaupt gattungskategorisch erfassbar ist, oder ob es sich bei musikalischen Werken nicht viel mehr um Einzelphänomene handelt, denen man eine immanente Einzigartigkeit zusprechen muss.

Ausgehend von dieser Fragestellung (und der Untersuchung, ob diese Fragestellung für eine effektive Anwendung des Gattungsbegriffs überhaupt sinnvoll ist) beschäftigt sich die folgende Hausarbeit mit dem Begriff der ‚Gattung‘ in der Musikwissenschaft und zeigt auf, in welcher Art und Weise der Begriff in bestimmten, ausgewählten Kontexten innerhalb der Musikwissenschaft Verwendung findet, und welche Problematiken sich daraus ergeben. Als exemplarische (und kritisch betrachtete) Quelle wird hierzu der MGG-Artikel „Gattung“[1] von Herman Danuser auf eben diese Fragestellungen hin untersucht, während verschiedene Texte weiterer Musikwissenschaftler sekundär als Ergänzung hinzugezogen werden. Vorerst wird allerdings eine kurze Zusammenfassung über die allgemeine Problematik musikwissenschaftlicher Terminologie aufgezeigt, da die im Folgenden skizzierten Problemfelder auch für die Anwendung und Definition des Gattungsbegriffes eine Rolle spielen.

III. Allgemeine Feststellungen zur musikwissenschaftlichen Terminologie im Kontext von Wissenschaftssprache

„Bei den Fachsprachen handelt es sich um Erscheinungsformen der Sprache, die der sachgebundenen Kommunikation unter Fachleuten dienen“ (Brandstätter, 1990, S. 45). Hierbei unterscheidet sich die Fachsprache von der natürlichen/gemeinen Sprache vor allem dadurch, dass sie einen ausgeprägten Instrumental-Charakter besitzt. Diese Funktionsgebundenheit von Fachsprache wirkt sich auch auf ihren Wortschatz aus, der sich hauptsächlich aus sogenannten ‚Termini‘ konstituiert. Der Terminus wiederrum zeichnet sich (idealerweise) durch eine exakte, eindeutige Definition des von ihm bezeichneten Objekts aus, wobei diese Bedeutung stets eine explizite Konvention darstellt und zudem kontextinvariant ist (vgl. ebd., S. 45f.).

Wie gestaltet es sich nun mit der musikwissenschaftlichen Fachsprache?[2] Hierzu schreibt Brandstätter:

Mißt man die musikalische Terminologie an den oben dargestellten Kriterien einer Wissenschaftssprache, so zeigt sich, daß die Sprache der Musiktheorie und Musikwissenschaft die Bedingungen einer von subjektiven Einflussgrößen gereinigten, intersubjektiv gültigen Fachsprache nur zu einem geringen Teil erfüllt (ebd., S. 46).

Hierfür führt Brandstätter mehrere Gründe an, die im Folgenden kurz referiert werden:

1.) Der Forschungsbereich der Musikwissenschaft (hauptsächlich also das, was als ‚Musik‘ bezeichnet wird) sei begrifflich oft nur schwer definierbar.
2.) Die Fachsprach, derer sich die Musikwissenschaft bedient, sei ursprünglich nicht als Wissenschaftssprache konzipiert worden. Vielmehr sei sie erst aus der Praxis heraus entstanden. Dies führe dazu, dass vielen musikwissenschaftlichen Termini eine eindeutige Definition fehle und sie nicht kontextunabhängig seien, sondern sich ihre Bedeutung nur aus einem zeitlichen und geographischen Kontext heraus erschließen lasse. Entscheidend ist damit nicht nur die Geschichte des von den Begriffen Bezeichneten, sondern auch die Historizität der Termini selbst.
3.) Die musikwissenschaftliche Terminologie rekurriere nicht nur auf die natürliche Sprache, sondern habe im Laufe ihrer Geschichte auch Begriffe aus anderen Fachsprachen aufgenommen (vgl. ebd., S. 46f.).

Alle drei Punkte beziehen sich auch auf den Begriff der ‚Gattung‘ und die sich daraus ergebende Problematik seiner Anwendung und Bedeutung innerhalb der Musikwissenschaft, wie folgende Hausarbeit aufzuzeigen versucht.

IV. Der Gattungsbegriff im Kontext des philosophischen Universalienstreits und das Problem der Terminologie

In seiner Einleitung zum Gattungs-Artikel der MGG beschäftigt sich Danuser mit der theoretischen Begriffsbildung des Terminus ‚Gattung‘, wie er in der Fachsprache Verwendung findet. Er beginnt seinen Artikel mit der Herausstellung der Flexibilität des Begriffes ‚Gattung‘ im Verhältnis zum untergeordneten Terminus der ‚Art‘ und dem übergeordneten Terminus der ‚Familie‘ innerhalb von logischen Klassifikationssystemen. Die Einordnung dieser drei miteinander in Beziehung stehenden Begriffe stammt ursprünglich aus der antiken Logik, die eine Opposition der Begriffsbildungen von ‚Gattung‘ und ‚Art‘ festgelegt hat, in der beide Begriffe jeweils relativ zueinander existieren, je nachdem welche Position man im jeweiligen Klassifikationssystem betrachtet (vgl. Hempfer, 2005, S. 7). So wird die der ‚Gattung‘ untergeordnete ‚Art‘ selbst zur ‚Gattung‘, wenn man sie von der untergeordneten Stufe im System aus betrachtet, und die ‚Gattung‘ zur ‚Art‘ für die übergeordnete Stelle im System. In dieses Oppositionsverhältnis bezieht Danuser nun auch den Begriff der ‚Familie‘ mit ein, welcher dem der ‚Gattung‘ übergeordnet ist, womit also der Gattungsbegriff letztendlich eine mittlere, aber immer relative Position in einem derartigen Klassifikationssystem einnimmt.

Die Flexibilität dieses Bezeichnungssystems macht es freilich schwierig, überhaupt ein musikalisches Werk irgendeiner der Systemstufen zuzuordnen. Stefan Kunze merkt in seinem Aufsatz „Überlegungen zum Begriff der >>Gattung<< in der Musik“ an, dass es beispielsweise unerheblich sei, ob man die Motette des 16. Jahrhunderts als Typus, Art oder Gattung bezeichnen würde,

[…] da z.B. der Oberbegriff >>geistliche Musik<< nicht hinreichend genau bestimmt [sei], um als Gattungsname gelten zu können. Unter die Kategorie >>geistliche Musik<< fiele auch eine Messe von Mozart, die selbstverständlich einer anderen Gattung angehör[e] als die Motette (Kunze, 1980, S.92).

Laut Kunze läge hierbei das Problem an der Vorstellung von ‚Gattung‘ als einem „[…] Allgemeinbegriff […] gewöhnlicher Art (wie z.B. Baum oder Tisch) […]“ (ebda.). Diese Vorstellung habe dazu geführt, dass man den Gattungsbegriff und die Diskussion darum in den philosophischen Universalienstreit hineingezogen habe. Auf diesen Punkt geht auch Danuser in seinem Artikel ein. Der sogenannte ‚Universalienstreit‘ beschäftigt sich mit der Frage, „[…] ob Universalien, also Allgemeinbegriffe, >real< in der außermentalen Wirklichkeit oder nur >nominal< im menschlichen Geist der Sprache existieren“ (Danuser, 1995, Sp. 1043). Hierüber gibt es logischerweise zwei diametral zueinander stehende Extrempositionen: die nominalistische und die realistische. Von diesen Standpunkten sagt die nominalistische, das „[…] Allgemeinbegriffe als Erscheinungsformen des menschlichen Denkens, als heuristische Konstrukte der Erkenntnis zu gelten haben“ (ebda.) (universalia post rem). Demnach wird den Allgemeinbegriffen eine reale, also außermentale Existenz abgesprochen. Nach Goodman sei der Nominalist aufgrund seiner Ansichten, nicht dazu im Stande, „[…] irgendetwas als Klasse zu konstruieren“ (Goodman, 1978, S. 229), da es seiner Methodik entspräche, alles als Individuum zu erstellen. Demgegenüber heißt es im (Begriffs-)Realismus, dass Universalien sehr wohl in der außermentalen Wirklichkeit existieren, da sie den Einzelphänomenen vorgelagert sind, und sich erst aus ihnen überhaupt solche erschließen lassen (universalia ante rem). Im ‚klassischen‘ Realismus[3] ist die Wirklichkeit denkunabhängig, d.h., „daß die Existenz und die Beschaffenheit der Wirklichkeit nicht davon abhängen, was Menschen […] darüber denken (sagen, wissen) können“ (Willascheck, 2000, S. 10). Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen besteht nun in der Aussage des Realismus‘, dass die Unterscheidung von konkreten Gegenständen und das Verständnis von Prädikatsausdrücken[4] nur möglich ist, wenn Universalien tatsächlich als Gegenstände unserer Wahrnehmung existent sind, im Gegensatz zu der Annahme im Nominalismus, welche im Grunde genommen vom Gegenteil ausgeht und diese Aussage negiert (vgl. Van Orman Quine, 1978, S. 85f.).

Welche Bedeutung diese unterschiedlichen Positionen im Kontext eines musikwissenschaftlichen Gattungs-Diskurses haben, soll folgende Zusammenfassung veranschaulichen:

1.) Von der Position des Realismus‘ ausgehend, besitzen Gattungen eine höhere ‚Seinsqualität‘ und sind somit unabhängig von einzelnen Werken existent. Vielmehr können diese nur deshalb erkannt werden, da sie Ausprägungen der Universalie Gattung sind und mit ihr in Verbindung gesetzt werden (müssen). Ein von ihr unabhängig bestehendes Werk wäre damit genauso undenkbar wie eine Veränderung oder Neubildung der Universalien an sich.
2.) Anders als im Realismus trägt die Universalie Gattung im Nominalismus eine nur konstruierte Bedeutung, welche sie durch Abstrahierung aus den Objekten gewinnt, die sie subsumieren soll. Die ‚Gattung‘ ist demnach nur ein Scheinbegriff oder gar – je nach Spielart des Nominalismus‘ – nur ein willkürlich vergebener Name für etwas, das sie bezeichnen soll. Bei der Vertretung eines extremen Nominalismus könnte man sogar der Ansicht sein, dass so etwas wie ‚Gattung‘ überhaupt nicht existiert, oder aber die Annahme verfolgen, ein solches Konzept als völlig irrelevant einzustufen (vgl. Marx, 2005, S. 275-278).

Ausgehend von diesen Überlegungen weist Danuser im Folgenden darauf hin, dass beide Ansätze für die Musikwissenschaft und ihre Verwendung des Gattungsbegriffes nicht angemessen seien. Er verweist vielmehr auf eine dritte Position, die von Marx als ‚Konzeptualismus‘ bezeichnet wird und mit einem ‚in re‘ gleichgesetzt werden kann. Hierbei handelt es sich um einen Ansatz, der durch den Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß bestimmt worden ist und aussagt, dass „[…] ein geschichtlich je gegebenes System von Gattungen als erweiterungsfähig, also veränderbar [angesehen wird], zugleich aber auch die normative Kraft einer Gattungspoetik zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt [anerkannt wird]“ (Jauß, 1986, S. 111, zit. in: Danuser, 1995, Sp. 1043). Diese These vereint somit die Vorstellungen beider oben aufgeführten Positionen in sich und kann als Synthese aus Realismus und Nominalismus gesehen werden. Sie geht davon aus, dass sich Gattungsbegriffe aus einzelnen musikalischen Werken entwickeln können, aber ebenso aus einem Werk auch ein Gattungsbegriff hervorgehen kann. Der Gattungsbegriff wäre demnach flexibel und raum-zeitlich begrenzt. Er könnte als eine Art Konvention angesehen werden, die als Vorgabe für Musikschaffende dient, ohne allerdings einen normativen Einfluss auf die Werkgestaltung auszuüben. Auch würde die Gattung unter dieser Annahme ihre ‚höhere Seinsqualität‘ einbüßen und wäre damit variabel und historisch-konkret veränderbar (vgl. Marx, 2005, S. 277f.).

[...]


[1] Danuser, H.: Gattung, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume, Sachteil Bd. 3, 2., neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 1995, Sp. 1042-1068.

[2] Zum „Verhältnis der Musikterminologie zu anderen Fachsprachen“, siehe auch: Eggebrecht, 1955, S. 38-44.

[3] Sowohl im Realismus wie auch im Nominalismus gibt es natürlich diverse Spielarten. Siehe: Willascheck, 2000, S. 10-13.

[4] „Ein Prädikator ist ein >Name<, der Gegenständen zu- oder abgesprochen werden kann. Prädikatoren im logischen Sinne sind also z.B. Buch, Symphonie, groß, klein, klappern, schreiben usw.“ (Hempfer, 1973, S. 5. Fußnote 4).

Fin de l'extrait de 23 pages

Résumé des informations

Titre
Aspekte des Gattungsbegriffes im musikwissenschaftlichen Diskurs
Université
University of Bonn  (Abteilung für Musikwissenschaft / Soundstudies)
Cours
Musikalische Gattungstheorie
Note
1,3
Auteur
Année
2008
Pages
23
N° de catalogue
V124465
ISBN (ebook)
9783640297146
ISBN (Livre)
9783640302598
Taille d'un fichier
473 KB
Langue
allemand
Mots clés
Gattung, Begriff, Geschichte
Citation du texte
Jeremy Iskandar (Auteur), 2008, Aspekte des Gattungsbegriffes im musikwissenschaftlichen Diskurs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124465

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