Die Große Koalition und das Mehrheitswahlrecht

Eine Analyse unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Bundestagswahl 2021


Masterarbeit, 2022

59 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Abstract

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einführung

2 Wahlen, Wahlfunktionen und -systeme

2.1 Funktionen von Wahlen

2.1.1 Repräsentationsfunktion

2.1.2 Prozessfunktion

2.1.3 Stabilitätsfunktion

2.2 Wahlsysteme

2.2.1 Verhältniswahlrecht

2.2.2 Mehrheitswahlrecht

2.3 Rahmenbedingungen Deutschland

2.3.1 Historischer Kontext

2.3.2 Personalisiertes Verhältniswahlrecht

2.3.3 Wahlrechtsreformen und Reformvorhaben

2.3.4 Fragmentierung des Parteiensystems und die Große Koalition

3 Die Mehrheitswahl als Alternative?

3.1 Volksparteien-Domäne Wahlkreismandate

3.2 Bundestagsmehrheiten - Regierung und Opposition

3.2.1 Projektion 1: Republikanische Formierung und Anpassung

3.2.2 Projektion 2: Dominanz und Omnipotenz der großen drei

3.2.3 Projektion 3: Zwischen politischer Wende und Jahrtausendwende

3.2.4 Projektion 4: Leichte Fragmentierung und abschwächende Dominanz

3.3 Wahlergebnisse im Vergleich der Wahlsysteme und Funktionsauswertung

3.4 Vetospieler und Realisierungschancen

4 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang


Abstract

 

Im personalisierten Verhältniswahlsystem der Bundesrepublik Deutschland gestaltet sich die Mehrheitsbildung mit steigender Anzahl an politischen Wettbewerbern und fragmentieren Wahlergebnissen zunehmend schwieriger. So mussten Christ- und Sozialdemokraten seit 2005 bereits drei Mal eine Große Koalition bilden, was gemeinhin eine Ausnahme statt der Regel im deutschen Parlamentarismus darstellt. Als Alternative zur Sicherstellung eindeutiger Mehrheiten wurde bereits in den Sechzigerjahren die relative Mehrheitswahl nach britischem Vorbild wissenschaftlich wie politisch diskutiert. Dieser Ansatz wird aufgegriffen und die Mehrheitswahlbedingungen werden auf die bisherigen 20 Bundestagswahlen projiziert. Es zeigt sich, dass dieses Wahlsystem aus sich heraus in 90 Prozent der Fälle eine Parlamentsmehrheit für eine Partei bildet. Hierbei werden die Parteien der Christ- und Sozialdemokraten zu Lasten der Interessenparteien gestärkt. Es kommt allerdings auch in diesem Szenario zur Notwendigkeit von Koalitionsregierungen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit hierfür geringer ist. Große Koalitionen zwischen Christ- und Sozialdemokraten hingegen werden erfolgreich vermieden. Es gilt zu beachten, dass die Möglichkeit einer Wahlsystemänderung bei den derzeitigen politischen Mehrheitsverhältnissen und durch die institutionellen Vetospieler Bundesrat und Bundesverfassungsgericht faktisch ausgeschlossen werden kann.

 

In the personalised proportional representation system of the Federal Republic of Germany, the formation of a majority is becoming increasingly difficult with a growing number of political competitors and fragmented election results. For example, the Christian Democrats and Social Democrats have already had to form a grand coalition three times since 2005, which is generally the exception rather than the rule in German parliamentarism. As an alternative to securing clear majorities, relative majority voting based on the British model was discussed both academically and politically as early as the 1960s. This approach is taken up and the majority voting conditions are projected onto the previous 20 federal elections. It is shown that this electoral system by itself forms a parliamentary majority for one party in 90 per cent of the cases. In this case, the parties of the Christian Democrats and Social Democrats are strengthened at the expense of the interest parties. However, coalition governments are also necessary in this scenario, although the probability of this is lower. Grand coalitions between Christian Democrats and Social Democrats, on the other hand, are successfully avoided. It should be noted that the possibility of a change in the electoral system can be effectively ruled out under the current political majority conditions and by the institutional veto players, the Federal Council and the Federal Constitutional Court.

Abkürzungsverzeichnis

 

AfD Alternative für Deutschland

BVerfG Bundesverfassungsgericht

BWahlG Bundeswahlgesetz

CDU Christlich Demokratische Union

CSU Christlich-Soziale Union in Bayern e.V.

DP Deutsche Partei

FDP Freie Demokratische Partei

NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

PDS Partei des Demokartischen Sozialismus

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

1         Einführung

 

Die vierte Koalitionsregierung zwischen den Parteien Christlich Demokratische Union (CDU), Christlich-Soziale Union (CSU) und Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) auf Bundesebene endete im Bundestagswahljahr 2021. Der Zusammenschluss der beiden jeweils stärksten Fraktionen des Deutschen Bundestages, umgangssprachlich als Große Koalition betitelt, ist seit dem Jahrtausendwechsel mehr die Regel statt einer Ausnahme. Drei der fünf Koalitionsregierungen auf bundesdeutscher Ebene seit 2005 setzten sich aus den Unionsparteien CDU und CSU als Seniorpartner sowie der SPD als Juniorpartner zusammen. Auch das Ergebnis der Bundestagswahl am 26. September 2021 schließt diese Koalitionsmöglichkeit nicht explizit aus. Dem amtlichen Ergebnis entsprechend verfügt diese Konstellation über eine Mehrheit von 403 Bundestagabgeordneten - die absolute Mehrheit liegt bei 369 Abgeordneten (Bundeswahlleiter, 2021). Dass die beiden größten Bundestagsfraktionen sich jedoch nach zwei zurückliegenden Legislaturperioden der Zusammenarbeit erneut zusammenschließen, galt als unrealistische Option. Erstmalig wird auf Bundesebene eine Koalitionsregierung durch drei Parteien getragen - ein sozialliberales ökologisches Bündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Freien Demokratischen Partei (FDP). Die Zeit wird zeigen, ob sich dieses Modell trag- und zukunftsfähig erweist und Ausgangspunkt für weitere Dreierbündnisse auf Bundesebene, wie eine Jamaika-Koalition[1] oder Rot-Grün-Rot[2] sein kann. Im Zweifel bleibt die Große Koalition bisweilen weiterhin eine Alternative, da die Union und SPD zusammen jeweils eine Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinen können und damit entsprechend in allen 20 Bundestagslegislaturperioden eine Parlamentsmehrheit repräsentieren (Bundeswahlleiter, o. D.).

 

Gleichwohl nimmt diese Mehrheit durch das Aufkommen und den Erfolg weiterer politischer Mitbewerber ab. Das politische Spektrum der Republik fragmentiert sich seit den 1990er Jahren. Zudem beeinflusst das Wahlsystem diesen Trend (Detterbeck, 2021, S. 43; von Alemann et al., 2018, S. 56). Während nach der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag noch elf Parteien und drei Parteilose in das Parlament einzogen, begann bereits in der Folgewahl eine Konsolidierung der im Bundestag vertretenden politischen Gruppierungen auf vier Parteien (Bundeswahlleiter, o. D.). Dieser Umstand änderte sich erst ein Vierteljahrhundert später mit dem Aufkommen der ökologischen Bewegung, welche seit 1983 auch eine politische Vertretung im Bundestag einnimmt, gefolgt von der sozialistischen Bewegung während der Wendejahre und einer rechtspopulistischen Bewegung seit 2017 (ebd.; von Alemann et al., 2018, S. 56). „Abschmelzende Bindekraft traditioneller politischer Loyalitäten, steigende Volatilität des Wahlverhaltens, Niedergang der Volksparteien und Fragmentierung des Parteiensystems sowie in der Konsequenz zunehmende Schwierigkeiten der Regierungsbildung bei wachsender Zahl lösungsbedürftiger Großprobleme sind nur einige der Stichworte“ (Schmitt-Beck, 2021, S. 10), welche derzeit den wissenschaftlichen Diskurs um die Bundestagswahlen bestimmen. Die Stimmenabgabe zum 20. Deutschen Bundestag verhalf erneut sieben Parteien organisiert in sechs Fraktionen zur politischen Vertretung in den Bundestag (Bundeswahlleiter, o. D.). Für die Wahlberechtigten wird es indes immer schwieriger einzuschätzen, welches Regierungsbündnis nach der Wahl gebildet wird. Zum einen haben sie nicht die Möglichkeit, direkt ein Regierungsbündnis zu wählen, sondern vergeben ihre Stimmen jeweils an einen Wahlkreiskandidaten und eine Partei (§ 4 BWahlG). Zum anderen werden die Mehrheitsverhältnisse bei steigender Anzahl an Akteuren zunehmend homogen, was die Mehrheitsbildung erschwert (Rudzio, 2019, S. 103). Nicht die Wahlberechtigten entscheiden direkt durch das Wahlsystem über die künftige Regierung, sondern die erfolgreichen Parteien sondieren nach dem Wahlgang mögliche politische Bündnisse, ohne dass die Wählenden hierauf Einfluss nehmen können. Ebenso schwierig gestaltet sich die Umsetzung von Sachthemen, die vormals im Wahlkampf von Parteien vorgetragenen wurden. Je mehr Partner anschließend über ein Regierungsbündnis verhandeln, desto geringer wird der Anteil der Themen die direkt aus dem Wahlprogramm in den Koalitionsvertrag fließen. Und selbst wenn die Themen im Koalitionsvertrag festgeschrieben werden, kann dies in einer gänzlich anderen Erscheinung als noch im Wahlprogramm geschehen, da die Koalitionspartner zwar dasselbe Thema fokussieren, jedoch in einer anderen Ausgestaltung. Insgesamt gestalten sich Bundestagswahlen im personalisierten Verhältniswahlsystem mit zunehmenden politischen Wettbewerbern und volatilen Wahlergebnissen komplexer. Eine direkte Folge ist die regelmäßige Überschreitung der Regelgröße des Bundestages von 598 Bundestagsabgeordneten. Durch Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es derzeit 736 Mandatsträger.

 

Nachdem die in den Sechzigerjahren intensiv geführte „politische und wissenschaftliche Diskussion um die Tragfähigkeit des bundesdeutschen Wahlsystems“ (Dehmel, 2020, S. 48) abgeebbt war, gewann diese mit der zunehmenden Aufblähung des Parlaments seit der 16. Legislaturperiode immer wieder an Bedeutung. Der Forschungsgegenstand ist dank der Diskussionen in unterschiedlichen zeitlichen Phasen gut debattiert und literarisch festgehalten. Hierbei ist festzustellen, dass die Debatte zu Beginn der Bundesrepublik und in den Sechzigerjahren grundsätzlicher Natur zwischen den beiden Idealtypen Verhältnis- und Mehrheitswahl geführt wurde und sich seit der Jahrtausendwende hin zur Anpassung des vorhandenen personalisierten Wahlsystems entwickelt.

 

Das deutsche Wahlrecht wurde bereits angepasst. Bislang wurden jedoch nur kleinere Reformen, meist auf Grundlage des kleinstmöglichen Nenners und meist parteienübergreifend verabschiedet und teilweise vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen (Bundesverfassungsgericht, 2008; Bundesverfassungsgericht, 2012). Eine grundlegende Reform, welche die Herausforderungen und Problemstellungen jedoch dauerhaft bewältigt, blieb bisher aus. Als Alternative zur Anpassung und Weiterentwicklung des vorhandenen personalisierten Verhältniswahlsystems stellt sich eine radikale Reform hin zum Mehrheitswahlrecht dar. Dieses Ansinnen verfolgte maßgeblich die erste auf Bundesebene geschlossene Koalition zwischen Christ- und Sozialdemokraten bereits in den Sechzigerjahren (Kiesinger, 1967, S. 2.).

 

Diesen radikalen Ansatz aufgreifend sollen im Folgenden die 20 zurückliegenden Bundestagswahlgänge aus dem Blickwinkel des Mehrheitswahlsystems dargestellt werden. Hätte dieses System aus sich heraus ein mehrheitsbildendes Wahlergebnis für eine Partei hervorgebracht? Würde sich damit die Bildung von Koalitionsregierungen und damit auch Große Koalitionen erübrigen?

 

Hierzu schließt sich nachfolgend ein Kapital über Wahlen und deren Funktionen sowie eine Betrachtung der idealtypischen Wahlsystem Mehrheits- und Verhältniswahlsystem an. Darauf aufbauend wird die spezifische Ausgestaltung des Wahlsystems in Deutschland als personalisiertes Verhältniswahlsystem unter Berücksichtigung des historischen Kontextes fokussiert. Ebenso beschrieben werden verabschiedete Reformen und debattierte Reformansätze sowie eine Betrachtung des Parteiensystems der Bundesrepublik. Auf Grundlage der theoretischen Überlegungen und inhaltlichen Einordnungen folgt die Analyse der Bundestagswahlen im Mehrheitswahlsystem.

2         Wahlen, Wahlfunktionen und -systeme

 

„Wahlen sind für Demokratie […] notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung“ (Derichs et al., 2006, S. 12). Denn Wahlen werden nicht ausschließlich in demokratischen Systemen angewandt, auch autoritäre und totalitäre Regime bedienen sich dieser Methode (Nohlen, 2014, S. 30). Das nationalsozialistische Regime etwa führte noch drei Reichstagswahlen nach der Entmachtung des Reichstags durch. Diese Wahlen wurden dem Wahlsystem und -recht der demokratischen Weimarer Republik entsprechend durchgeführt, enthielten jedoch aufgrund des totalitären Einparteiensystems keine Auswahl personeller und sachlicher Alternativen. Dementsprechend waren die Wahlen nicht auf die Erneuerung der politischen Führung ausgelegt, sondern zielten darauf ab, das diktatorische Regime durch den Wahlakt der Bevölkerung zu legitimieren. Das Wahlergebnis war bereits vor dem Wahlakt bestimmt. Diese Wahlen sind daher als Scheinwahlen zu werten und sollten nur den Eindruck einer demokratischen Wahl erwecken. Sie liefen den Wahlgrundsätzen zuwider. Im nationalsozialistischen Deutschen Reich wurden also keine freien Wahlen abgehalten. Die Freiheit des aktiven Wahlrechts, die eigene Stimme zwanglos, unbeeinflusst, ohne Repressionen fürchten zu müssen und nicht manipuliert abgeben zu können, war nicht gewährleistet (Omland, o. D.). Ebenso konnte das passive Wahlrecht einer freien Kandidatur und ein freier Wahlkampf ohne staatliche Repressionen nicht ausgeübt werden. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und ihre Mitglieder stellten während der nationalsozialistischen Herrschaft die einzigen Wahlkandidaten dar. Zudem waren die Wahllokale mit Hakenkreuzen und Hitlerporträts weder wertfrei noch neutral gestaltet (Omland, o. D.).

 

Die Ausführungen verdeutlichen, welche elementare Bedeutung den Wahlgrundsätzen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim zur Einordnung einer Wahl als demokratisch zukommt. Allgemein bedeutet hierbei, dass das Wahlrecht nicht gebunden ist an Merkmale wie Geschlecht, Einkommen, Religionszugehörigkeit, Beruf, Stand, Klasse, Sprache, Ethnie oder politische Überzeugung, sondern allen Staatsbürgern zusteht (Nohlen & Grotz, 2011, S. 671). Einschränkend wirken nur einige unerlässliche Voraussetzungen, etwa Lebensalter, Wohnsitz oder geistige Behinderung. Die Stimmenabgabe hat hierbei direkt und unmittelbar ohne Zwischeninstanz oder Stimmenübertragung auf Dritte zu erfolgen (Nohlen & Grotz, 2011, S. 671). Alle Bürger sind in ihrer Wahl frei - frei in der Wahlteilnahme, frei in ihrer Stimmenabgabe und Wahlentscheidung und frei von Zwang, Druck oder sonstiger Beeinflussung. Jede Stimme ist gleich und weist damit denselben Zählwert auf. Der Erfolgswert einer Stimme hingegen kann, je nach angewendetem Wahlsystem, durchaus ungleich sein (ebd.). Der Wahlakt des Wahlberechtigten selbst ist geheim durchzuführen (ebd.).

 

2.1       Funktionen von Wahlen

 

Was verstehen wir unter Wahlen und welche Funktionen bilden sie ab? Dieter Nohlen definiert Wahlen als:

 

Eine Technik zur Bildung von Körperschaften oder zur Bestellung einer Person in ein Amt. In der Demokratie bilden sie jene Methode, welche die der Herrschaft unterworfenen Bürger in einem auf Vereinbarung beruhenden, also friedlich, formalisierten Verfahren (nach Spielregeln) periodisch an der Erneuerung der polit. Führung (durch Auswahl und Wahlfreiheit zwischen konkurrierenden Sach- und Personalalternativen) beteiligt. (Nohlen & Grotz, 2011, S. 667)

 

Wahlen dienen Nohlen entsprechend als friedliche, geordnete, periodische Verfahrensweise zur Bestimmung der politischen Führung. Ähnliche Aspekte betonen auch Claudia Derichs, Thomas Heberer und Jochen Hippler und begreifen Wahlen als „demokratische Methode zur Auswahl von Funktionsträgern“ (Derichs et al., 2006, S. 15) und technisches Verfahren zur Bestimmung von Körperschaften und Personen für ein Amt (ebd.). Diese Auswahl der Regierenden seitens der Wählerschaft definieren Weissenbach und Korte als Rekrutierungsfunktion von Wahlen (Weissenbach & Korte, 2006, S. 28).

 

Die Rekrutierungsfunktion von Wahlen bedingt Legitimität als weitere Funktion. Demokratische Wahlen tragen also „maßgeblich zur Legitimität von Führung, Führungspersonal oder Regierungswechsel bei“ (Weissenbach & Korte, 2006, S. 28). Ein demokratischen Grundsätzen entsprechender Wahlakt kann zudem Legitimität für das politische System und auch für das (Wahl-)verfahren selbst erzeugen. „Wahlen […] bilden heute unabdingbare Voraussetzungen für die Legitimität einer Demokratie“ (Nohlen & Grotz, 2011, S. 668) und sind, wenn sie als „fair und legitim betrachtet werden, […] eine Quelle der Legitimität der ‚Wahlsieger‘“ (Derichs et al., 2006, S. 12). Der Wahlakt legitimiert neben der Führung auch die Opposition und weist ihr die notwendige Rolle als Kontrollinstanz der Regierung zu.  

 

Die Personenauswahl und die Legitimität der Wahlen können Ausgangspunkt für einen friedlichen Machtübergang sein. Deutlicher als Nohlen stellen Derichs et al. den partizipatorischen Charakter von Wahlen in den Vordergrund. Neben der Auswahl der politischen Führung wird durch Wahlen der Bürgerschaft die Gestaltung des politischen Systems ermöglicht (Derichs et al., 2006, S. 15). Für Heino Kaack derweil ist die „Teilnahme des Staatsbürgers am politischen Entscheidungsprozeß […] die wichtigste Funktion der Wahl“ (Kaack, 1967, S. 51).

 

Die wesentliche Funktion von Wahlen ist für Nohlen die Repräsentationsfunktion. Alle Wahlsysteme lassen sich seiner Meinung nach auf Grundlage dieser Funktion den beiden Grundsystemen Mehrheits- oder Verhältniswahl zuordnen (Nohlen, 2014, S. 125). Wahlen untersetzen die Anliegen der Bürger mit der notwendigen Verbindlichkeit und Berücksichtigung bei der politischen Entscheidungsfindung (Weissenbach & Korte, 2006, S. 28). Neben der „Willensartikulation der Wähler [soll die Wahl] den gesellschaftlichen Pluralismus integrieren und einen politischen aktionsfähigen Gemeinwillen etablieren“ (ebd., S. 28-29).

 

Unter dem Verständnis des Wahlaktes als Ausgangspunkt eines sich anschließenden Prozesses zur politischen Verantwortungsübernahme und aufbauend auf den Ausführungen von Derichs et al., Kaack, Nohlen und Weissenbach & Korte wurden im Folgenden drei Funktionscluster – die Repräsentations-, Prozess- und Stabilitätsfunktion – inklusive Kriterien entwickelt. Diese werden nachfolgend dargestellt und bilden die Bewertungsbasis für die beiden idealtypischen Wahlsysteme der Verhältnis- und Mehrheitswahl sowie für die Projektion der Bundestagswahl unter Mehrheitswahlbedingungen.  

 

2.1.1        Repräsentationsfunktion

 

Repräsentation ist eine entscheidende Wahlfunktion (Nohlen, 2014, S.125; Weissenbach & Korte, 2006, S. 29). Durch den Wahlakt artikulieren die Wahlberechtigten ihren Gestaltungswillen und bestimmen ihre Repräsentanten auf Zeit. Parteien nehmen in diesem Prozess eine hervorgehobene Stellung ein. In Deutschland etwa sind Parteien im Grundgesetz verankert und „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG). Die Zusammensetzung des Parteiensystems wird hierbei maßgeblich durch die Ausgestaltung des Wahlsystems beeinflusst. Betrachtet wird daher, welchen Einfluss das jeweilige Wahlsystem auf Volks-, Regional- und Interessenparteien ausübt.

 

Weiterhin bestimmt das Wahlsystem direkt die Parteien- bzw. Fraktionskonzentration innerhalb des zu wählenden politischen Gremiums (Weissenbach & Korte, 2006, S. 30). So gewinnt beispielsweise nur ein Kandidat bei der relativen Mehrheitswahl das Mandat, wohingegen bei der Verhältniswahl mehrere Kandidaten verschiedener Parteien durch Listenwahl Mandate im Proporz ihres Wahlergebnisses erhalten.

 

Die Konzentration steht im Zusammenhang mit der Integrationsfunktion von Parteien (Jüttner, 1970, S. 56; Kaack, 1967, S. 42). Sinken die Chancen für kleine Parteien ein Mandat zu erringen, erhöht sich der Druck zur Integration in große potenziell erfolgreiche Parteien, um weiterhin politisch teilhaben zu können und die eigenen Belange berücksichtigt zu wissen. Hierbei ist zum einen die thematische Breite des politischen Spektrums von Interesse. Zum anderen die Verortung des Interessensausgleichs und die Kompromissfindung. Dieser Ausgleich findet in Koalitionsregierungen zwischen den beteiligten Parteien statt und verlagert sich bei Einparteienregierungen in die Partei selbst. Konflikte und Richtungsentscheidungen werden damit innerhalb der Partei ausgetragen und entziehen sich somit eventuell der Öffentlichkeit. Dies ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal von Zweiparteiensystemen mit zwei dominierenden Parteien, welche eine Bandbreite verschiedener Bevölkerungsgruppen, Ansichten und Interessen zu integrieren vermögen. Auch in Mehrparteiensystemen sind innerparteiliche Strömungen, Gruppierungen und gegensätzliche Parteiflügel vorhanden, wie die deutsche Parteienlandschaft beweist. Die Bundestagsfraktion der SPD etwa weist mit dem Seeheimer Kreis, dem Netzwerk Berlin und der Parlamentarischen Linken drei Flügel auf (von Alemann & Spier, 2013, S. 449-450). Gleiches gilt für die FDP mit dem Schaumburger Kreis, dem Dahrendorf-Kreis und dem Liberalen Aufbruch – aber auch für die anderen am politischen Prozess beteiligten Parteien. Die Mitgliederstrukturen und entsprechenden inhaltlichen Ausrichtungen stellen keine gänzlich homogenen Blöcke dar, sondern sind durchaus vielfältig. Eine pluralistische Gesellschaft lässt sich demnach auch in einem dualen Parteiensystem abbilden, wie etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika. Den Duopol bilden in diesem Fall die Demokratische und die Republikanische Partei.  

 

Ein weiteres Kriterium der Repräsentationsfunktion ist jenes der Minderheitenvertretung. Eine „Beteiligung der Minderheiten am politischen Leben ist ein systemnotwendiges Merkmal der Demokratie“ (Kaack, 1967, S. 34) und sollte daher im ausreichenden Maß durch das Wahlsystem selbst gewährleistet werden.

 

2.1.2        Prozessfunktion

 

Dem Wahlakt selbst geht ein intensiver Wettbewerb voran. Im Wahlkampf werben die antretenden Parteien mit Persönlichkeiten und Sachthemen um die Gunst und die Stimmen der Wahlberechtigten. Auf den Wettbewerb kann die Konzentration des Parteiensystems einwirken. Je weniger Mitbewerber vorhanden sind und je sicherer Mandate durch eine Partei errungen werden können, desto schwächer kann der Wahlkampf um dieses Mandat ausfallen. Andererseits wirken mehr Mitbewerber und eine stärkere Auswahlmöglichkeit, thematisch und personell, belebend auf den Wettbewerb, können jedoch auch aufgrund der Vielfalt zur Überforderung der Wahlberechtigten beitragen.

 

Ein weiteres Kriterium in diesem Bereich liegt im Komplexitätsniveau des Wahlsystems (Weissenbach & Korte, 2006, S. 30). Sind sowohl der Prozess der Stimmenabgabe als auch das daraus resultierende Ergebnis für die Wahlberechtigten verständlich und nachvollziehbar, kann dies den Eindruck der Unmittelbarkeit und folglich die wahrgenommene Legitimität erhöhen.

 

Der Komplexität des Wahlsystems schließt sich die Gleichheit der Wertigkeit an. Gemeint ist hiermit die Einschätzung der Gleichheit des Zählwertes und des Erfolgswertes einer abgegebenen Stimme (Kaack, 1967, S. 28). Der Zählwert jeder Stimme ist gleich, wenn jede Stimme das gleiche Gewicht besitzt, unabhängig beispielsweise von Stand und Einkommen des Wählenden oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Beim Erfolgswert hingegen ist entscheidend, ob jede Stimme bei der Mandatsverteilung Berücksichtigung findet und gleichwertig zählt.

 

Zähl- und Erfolgswert hängen mit der Entscheidungsgewalt der Wahlberechtigten zusammen (Weissenbach & Korte, 2006, S. 30). Welchen Einfluss hat die wählende Person auf das Ergebnis? Bestimmt sie mittels Stimmenabgabe über die koalitionsbildenden Parteien in einer Rangfolge oder wird durch eine Stimmabgabe direkt die Regierung, ohne Zwischenschritt durch die Parteien, bestimmt? Über welches Gewicht und welche Entscheidungsgewalt verfügen also die Wahlberechtigten?

 

Des Weiteren wird das Wahlergebnis fokussiert. Kann durch das Wahlsystem über den Wahlakt selbst ein mehrheitsbildendes Ergebnis erzeugt werden? Somit würde dem Wahlsieger eindeutig die Aufgabe der Regierungsverantwortung und dem Wahlverlierer die Rolle der kontrollierenden Opposition sowie Regierungsalternative zugeordnet werden. Die Dichotomie in Regierung und Opposition könnte der Bevölkerung eine erkennbare Zuordnung von politischen Gesetzesvorhaben und Verantwortlichkeiten ermöglichen und damit zur verstärkten Abgrenzung der Parteien führen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob der regierungsbildende Prozess nach dem Wahlergebnis die von den Wahlberechtigten mehrheitlich präferierte Regierungskonstellation hervorbringt.  

 

2.1.3        Stabilitätsfunktion

 

Neben der Repräsentations- und Prozessfunktion ist die Stabilität des wahlentspringenden Gremiums entscheidend. Im Kern lässt sich die Frage stellen: Bringt das Wahlsystem stabile Regierungen hervor? Als Kriterien können hier die Anzahl der beteiligten Akteure sowie deren parteipolitische Zugehörigkeit herangezogen werden. Es ist davon auszugehen, je weniger Akteure und je homogener deren politische Zusammensetzung, desto stabiler die gemeinsame Regierung. Ein Scheitern einer Einparteienregierung verbunden mit einem Wechsel zur unterlegenden Partei ist faktisch ausgeschlossen. In diesem Fall würde nicht die Regierungsgewalt zwischen den Parteien wechseln, sondern die wahlsiegende Partei würde eine personelle Neuaufstellung der Regierung vornehmen. Bei Koalitionsregierungen hingegen besteht die Gefahr, dass der heutige Koalitionspartner morgen bereits mit einer anderen Partei eine Mehrheit gegen einen selbst bildet und damit einen Regierungswechsel innerhalb einer Wahlperiode vollzieht.

 

Ebenfalls interessant ist das Machtkalkül und Gewicht der beteiligten Parteien und der ihr angehörenden Mandatsträger (Bredthauer, 1973, S. 81; Kaack, 1967, S. 45; Nohlen, 2014, S. 161). Beide nachfolgenden Wahlsysteme weisen hierbei gegensätzliche Schwerpunkte auf.    

 

2.2       Wahlsysteme

 

Das Ergebnis einer Wahl bildet den Ausgangspunkt für den weiteren Prozess der Bestimmung der politischen Führung. Neben dem Ergebnis ist die Umrechnung der abgegebenen Stimmen in konkrete Mandate entscheidend. Sowohl das Wahlverfahren als auch die anschließende Stimmenverrechnung sind Teil des Wahlsystems. Die Ausgestaltung des Wahlsystems besitzt hierbei ein erhebliches Gewicht für Funktionen und Kriterien von Wahlen. „[D]as Wahlsystem stellt einen Faktor dar, der für das gesamte Verfassungsleben eine weitreichende Wirkung besitzt und der nicht zuletzt auch die Parteienstruktur [Hervorhebung im Original] erheblich beeinflußt“ (Jüttner, 1970, S. 16). Grundlegend lassen sich Wahlsysteme in Verhältniswahl und Mehrheitswahl klassifizieren (Nohlen & Grotz, 2011, S. 674). „Der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem kommt somit eine fundamentale Bedeutung zu“ (Menzenbach & von der Hude, 2008, S. 1). Nachfolgend werden die beiden Wahlsystem-Idealtypen hinsichtlich der zuvor erarbeiteten Repräsentations-, Prozess- und Stabilitätsfunktion dargestellt.

 

2.2.1        Verhältniswahlrecht

 

„Ziel der Verhältniswahl ist die möglichst wirklichkeitsnahe Abbildung der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Richtungen im Parlament. Sie bringt alle, nicht nur die für die siegreichen Bewerber abgegebenen Stimmen zum Tragen und verhilft ihnen zum (proportional) gleichen Erfolg“ (Menzenbach & von der Hude, 2008, S. 2). Damit entspricht sie der Repräsentationsfunktion und Minderheitenvertretung in ausgezeichneter Weise. Das Wahlsystem fördert durch die Berücksichtigung aller Stimmen das Aufkommen neuer politischer Akteure und ist daher vorteilhaft sowohl für Interessen- als auch Regionalparteien (Nohlen, 2014, S. 167-168). Volksparteien verlieren tendenziell Einfluss und Gestaltungsspielraum an neue politische Kräfte. Das Kriterium der politischen Konzentration von Strömungen verliert entsprechend im Verhältniswahlrecht an Gewicht. Eine reine Verhältniswahl ohne Einschränkung durch eine Sperrklausel[3] begünstigt eine Zersplitterung des Parteiensystems und schafft damit die Grundlage für ein Vielparteiensystem (Bredthauer, 1973, S. 21; Jüttner, 1970, S. 16; Kaack, 1967, S. 14-15; Nohlen, 2014, S. 167). Weitergehend kann das Wahlsystem das Aufkommen extremer Gruppierungen fördern, zu Desintegration politischer Akteure führen und radikale Tendenzen begünstigen (Kaack, 1967, S. 14-15).

 

Das Verhältniswahlsystem befördert einen intensiven Wahlkampf und kann mit steigender Anzahl der Wettbewerbsteilnehmer zu unübersichtlichen Verhältnissen bezüglich der Sachthemen und personellen Zuordnung des politischen Spitzenpersonals führen. Das Mehr an Parteien und Positionen birgt die Gefahr der Überforderung der Wahlberechtigten und des Desinteresses aufgrund der zunehmenden Komplexität und politischen Alternativentwürfe.

 

Hinsichtlich des Wahlverfahrens und der anschließenden Umrechnung der Wählerstimmen in Mandate weist die relative Verhältniswahl mit Sperrklausel eine moderate Komplexität auf. 

 

Die signifikante Stärke der Verhältniswahl ist die Gleichheit von Zähl- und Erfolgswert der Wählerstimme. Damit wird sie dem Wahlgrundsatz der Gleichheit gerecht. Sie bevorteilt damit jedoch vor allem kleinere gegenüber größeren Parteien und ermöglicht kleinen und neuen Parteien die Teilnahme an Wahlen und anschließende Vertretung in politischen Gremien. Kleine erfolgreiche Parteien erhalten zudem eine überproportionale Bedeutung, da diese „in einem Mehrparteiensystem zumeist von den größeren Parteien zur Erreichung der absoluten Mehrheit benötigt würden“ (Kaack, 1967, S. 15). Die deutsche FDP etwa konnte Jahrzehnte lang „wegen ihrer Rolle als Königsmacherin im Prozess der Regierungsbildung […] einen für eine kleine Partei bemerkenswerten Einfluss ausüben“ (Vorländer, 2013, S. 506). Zudem wirkt eine Sperrklausel einschränkend auf die Gleichheit von Zähl- und Erfolgswert. Bei allen Parteien unterhalb der Sperrgrenze verfallen die abgegebenen Stimmen, der Erfolgswert dieser Stimmen ist gleich null (Jüttner, 1970, S. 47). Damit schränkt auch die Verhältniswahl mit Sperrklausel die Gleichheit von Zähl- und Erfolgswert ein, wenngleich nicht in dem Maße wie das Mehrheitswahlsystem.

 

Die Entscheidungsgewalt der Wahlberechtigten beschränkt sich auf die Bestimmung der koalitionsbildenden Parteien, da das Wahlsystem keinen endogenen mehrheitsbildenden Effekt impliziert, sondern wie dargestellt auf eine möglichst genaue Repräsentation der Wählenden im politischen Gremium abzielt. Die Funktionalität ist nachrangig. Das Wahlergebnis bildet den Ausgangspunkt für den anschließenden Prozess zur Aushandlung eines Regierungsbündnisses zwischen den politischen Akteuren ohne Beteiligung der Wählenden (Jüttner, 1970, S. 51). Als Beispiel kann das Bundestagwahlergebnis 2021 herangezogen werden. Unter Berücksichtigung der vor der Wahl geäußerten Ausschlüsse der Zusammenarbeit, blieben drei potenzielle mehrheitsabbildende Koalitionsoptionen denkbar: eine Ampel-Koalition zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, eine Kenia-Koalition zwischen Unionsparteien, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie die Große Koalition zwischen SPD und den Unionsparteien. Befürworter des Mehrheitswahlrechts argumentieren, dass „durch die Wahl selbst entschieden werden müsse, wer regiert, und nicht durch nach der Wahl stattfindende Koalitionsabsprachen, die sich dem Einfluß des Wählers entziehen“ (Kaack, 1967, S. 15).

 

Nachteilig wirkt sich zudem eine fehlende wirkungsstarke Opposition als Gegengewicht und Alternative zur Regierungsmehrheit aus. Besteht die Opposition aus mehreren Parteien, erhöht sich die Anzahl der Alternativentwürfe zu Sachthemen. Ebenso denkbar ist ein Überbietungswettbewerb hinsichtlich der Forderung und in der Schärfe der Kritik an der Regierung (ebd., S. 40). Diese Möglichkeit ergibt sich, sofern eine Partei keine realistischen Chancen auf die Übernahme von Regierungsverantwortung besitzt und damit auch nicht dem Risiko ausgesetzt ist extreme Forderungen in der Regierungsarbeit umsetzen zu müssen. Beispielweise lassen sich hierfür die Bundestagsfraktionen und -parteien AfD und Die Linke anführen, welche weitgehende Forderungen erheben, ohne in die Verlegenheit zu kommen diese auch tatsächlich umsetzen und verantworten zu müssen.  

 

Die politische Zersplitterung erschwert die Bildung und Zusammenarbeit einer Koalitionsregierung. Vorstellbar ist, dass der Arbeitsprozess dauerhaft und nachhaltig durch stetiges Aushandeln und die Kompromisssuche belastet ist. Dadurch kann die Effizienz des Regierungshandelns abnehmen und die exekutive Flexibilität und Effektivität beeinträchtigt werden. Möglicherweise scheitert die Regierung aufgrund der Unvereinbarkeit und Integration der Interessen der beteiligten Parteien. Je mehr Partner eine Koalitionsregierung parlamentarisch stützen und in Regierungsverantwortung stehen, desto größer ist das Risiko, dass dieses Regierungsbündnis durch personelle, inhaltliche oder wertanschauliche Hürden scheitert (Bredthauer, 1973, S. 22). Machtkalkül der Parteien kann ebenso zum Bruch der Partnerschaft vor Ende der regulären Legislaturperiode führen und Neuwahlen befördern, die möglicherweise zunehmend schwierige Mehrheitsverhältnisse hervorbringen. Das Machtkalkül und -gewicht der einzelnen Mandatsträger ist im Vergleich zur Partei begrenzt (Nohlen, 2014, S. 161). Parteien sind hierbei die entscheidenden Akteure.

 

Die Repräsentationsfunktion ist im Verhältniswahlsystem der primäre Aspekt zu Lasten der Prozess- und Stabilitätsfunktion.

 

2.2.2        Mehrheitswahlrecht

 

Im Unterschied zur Verhältniswahl zielt das Mehrheitswahlsystem nicht auf eine exakte Repräsentation der verschiedenen politischen Gruppen im Parlament, sondern darauf eine Einparteienregierung mittels absoluter Parlamentsmehrheit hervorzubringen „und zwar gerade dann, wenn keine [absolute] Wählermehrheit vorhanden ist“ (Meyer, 1987, S. 261). Gewählt ist in jedem Wahlkreis der Abgeordnete, der mindestens 50 Prozent (absolutes Mehrheitswahlrecht) bzw. die meisten (relatives Mehrheitswahlrecht) der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann.

 

In der Regel führen Wahlen, die mittels dieses Systems durchgeführt werden, zu einer absoluten Mehrheit der Parlamentssitze für eine Partei. Diese Mehrheit bildet die Basis für eine Einparteienregierung. Weissenbach und Korte führen hierzu aus: „Ein geringer Stimmenvorteil wird künstlich in eine deutliche Mehrheit transformiert, es kommt zu einem ‚mehrheitsbildenden Effekt‘ […]“ (2006, S. 31). Die Systematik bildet „eine natürliche Barriere gegen die gefürchtete Parteienzersplitterung [Hervorhebung im Original]“ (Jüttner, 1970, S. 15-16) und wirkt integrativ auf kleine Parteien. Kleine Parteien und Minderheitenpositionen gehen in größeren Parteien auf, um weiterhin Gehör zu finden und eine politische Vertretung zu gewährleisten. Andernfalls verschwinden diese Positionen in der Bedeutungslosigkeit (Kaack, 1967, S. 57). Relative Mehrheitswahlsysteme führen daher tendenziell zur Bildung von Zweiparteiensystemen und der Konsolidierung der politischen Lager (Nohlen, 2014, S. 167). Auch ein Mehrparteiensystem mit zwei zentralen Parteien in Vormachtstellung, beispielsweise in Großbritannien, sind in der Praxis belegbar. Die Konzentrationsfunktion des Wahlsystems ist also signifikant (Nohlen, 2014, S. 167). Hierdurch beschränkt das Wahlsystem maßgeblich die Minderheitenvertretung in eigenständigen parlamentarischen Fraktionen. Während Regionalparteien neben den Volksparteien bestehen können, verlieren vor allem Interessenparteien Wählerzuspruch, da diese befürchten ihre Stimme unnütz an den Wahlverlierer zu verschenken. Mit dem Verlust der Interessenparteien als eigenständige Parteiorganisation erfolgt eine Vergröberung des Parteiensystems (ebd., S. 167-168).

 

Zudem befördert das Mehrheitswahlrecht Hochburgenbildung (Weissenbach & Korte, 2006, S. 32). Unterliegt beispielsweise eine Partei A regelmäßig mit weitem Abstand Partei B innerhalb eines Wahlkreises, kann dies zur Folge haben, dass Partei A zukünftig aufgrund der mageren Erfolgsaussichten weniger Ambitionen in diesem Wahlkreis aufbringt. Dies wiederum kann Partei B zu weniger Engagement bewegen, da dieser Wahlkreis als sicher gewonnen betrachtet wird (Nohlen, 2014, S. 158). Langjährige Direktabgeordnete steigen „zu einer ‚Institution‘ mit quasi überparteilicher Autorität“ (Kaack, 1967, S. 46) auf, was es den Herausforderern fast unmöglich macht, einen Wechsel zu gestalten. Die Kontinuität und Beständigkeit schafft Stabilität zu Lasten des Wandels und der Veränderung. Der Wahlkampf zwischen den Parteien kann sich so auf wenige stark umkämpfte Wahlkreise beschränken, man denke hierbei an die Swing States bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten von Amerika. In diese fließen überproportional viele Wahlkampfmittel und diesen Staaten wird durch die Präsidentschaftskandidaten so viel Bedeutung zugemessen, dass fast ausschließlich dort Wahlkampfveranstaltungen stattfinden. Vorteile ergeben sich in diesem Zusammenhang auch für regional begrenzte Parteien (Weissenbach & Korte, 2006, S. 32). Die CSU kann hierzu als Beispiel herangezogen werden. Sie tritt ausschließlich in Bayern an und gewinnt seit dem bundesrepublikanischen Beginn in der Regel sämtliche Direktmandate in diesem Bundesland. Eine Konkurrenzsituation und Wettbewerb treten selten auf und beschränken sich dann ausschließlich auf städtische Gebiete.

 

Das Mehrheitswahlsystem ist wenig komplex und zeichnet sich durch Verständlichkeit aus zu Lasten der repräsentativen Stimmenauswertung. Größte Schwäche der Mehrheitswahl ist die systematische Verzerrung des Zähl- und Erfolgswertes der Wählerstimme. So verfallen sämtliche Stimmen der unterlegenen Kandidaten und besitzen keinen Einfluss auf die Mandatsverteilung (Kaack, 1967, S. 28; Menzenbach & von der Hude, 2008, S. 2). Während der Zählwert jeder abgegebenen Wählerstimme gleichrangig ist, schmälert der Verfall der Stimmen der unterlegenen Kandidaturen – der mehrheitsbildende Effekt – den Erfolgswert der Wählerstimme. Der Wert der Wählerstimme der erfolgreichen Kandidatur wird erhöht, wohingegen jener der unterlegenen Kandidaturen verringert wird. Diese Ungleichheit des Stimmenerfolgswertes kann das Vertrauen in das Wahlsystem und somit dessen Legitimität senken und beeinflusst maßgeblich das Gerechtigkeitsempfinden.

 

Die Wahlberechtigten bestimmen mit ihrer Stimmenabgabe direkt die Regierung und entsprechende programmatische Inhalte sowie das aufgestellte Personal der jeweils gewählten Partei, in der Regel ohne den Zwischenschritt der Koalitionsverhandlungen der Parteien.

 

Im Wesentlichen konkurrieren zwei Parteien um die Regierungsmehrheit. Eine Partei wird diese bereits durch einen leichten Stimmenvorteil erlangen, während die unterlegene Partei die Funktion einer wirksamen Opposition übernehmen kann. Heiko Kaack stellt hierzu fest, „daß sich das Zwei-Parteien-System am besten zur Formierung einer wirksamen Opposition eignet“ (Kaack, 1967, S.38). Somit kann Regierungshandeln und -verantwortung klar einer Partei zugeordnet werden und gleichzeitig kann die Opposition schon aufgrund ihrer Größe eine wirksame Alternative und einen Gegenentwurf zum Regierungshandeln bilden. Mäßigend hinsichtlich allzu radikaler Ansätze wirkt die potenzielle Option der Übernahme der Regierungsverantwortung und lässt die Opposition damit „Forderungen im Rahmen des Möglichen“ (ebd., S. 39) als Alternative darstellen. Die in der Oppositionsrolle aufgestellten Forderungen müssen in einer real möglichen Situation der nächsten Regierungsverantwortung umsetzbar sein. Gerade „in [Krisensituationen ist es] besonders wichtig, daß eine Opposition existiert, die Kritik nur im Rahmen dessen führen kann, was sie im Falle einer Übertragung der Verantwortung selbst zu leisten vermag“ (ebd., S. 58).

 

Regierungen auf Grundlage einer absoluten Mehrheit weisen in der Regel „die größte Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit“ auf (ebd., S. 38) und damit eine höhere Stabilität als Koalitionsregierungen (Nohlen, 2014, S. 167). Hintergrund ist, dass personelle, inhaltliche und weltanschauliche Hürden nicht zwischen Koalitionspartnern unterschiedlicher Parteien und während einer bestimmten Dauer der Partnerschaft ausgehandelt werden müssen. Diese Konfliktlinie existiert daher nicht im Mehrheitswahlsystem. Hierfür besteht jedoch eine innerparteiliche Konfliktlinie und ein „[…] interner Interessenausgleich – mittels Kompromiß oder hartem Machtkampf“ (Kaack, 1967, S. 40). Dieser gestaltet sich in der Regel weniger transparent und ist auch nicht ohne Berücksichtigung der jeweiligen politischen Parteikultur zur betrachten.

 

Während das Machtkalkül und der Einfluss der Parteien an sich sinkt, steigen jene Faktoren bei den einzelnen Mandatsträgern der mehrheitsbildenden Partei an. Zum einen liegt dies in der Direktwahl des Abgeordneten und der damit höheren Legitimität des Einzelnen begründet. Zum anderen erhöht sich das politische Gewicht des einzelnen Mandatsträgers zum Gelingen von Gesetzes- und Regierungshandeln, da die Mehrheitsverhältnisse knapper ausfallen (Nohlen, 2014, S. 161). Auch hier kann die Ausgestaltung des Wahlsystems in den Vereinigten Staaten von Amerika als Referenz herangezogen werden.

 

2.3       Rahmenbedingungen Deutschland

 

Neben der theoretischen Einordnung von Wahlen im Allgemeinen und der Darstellung der beiden idealtypischen Wahlsysteme, bedarf es der Betrachtung der Einzigarten des deutschen Verfassungsstaates. Der Staatsaufbau der Bundesrepublik, das deutsche Parteiensystem und auch die komplexe Ausgestaltung des Wahlsystems lassen sich nur durch eine historische Einordnung umfassend verstehen. Zur Vervollständigung des Bildes trägt zudem die Betrachtung der Zusammenarbeit der beiden stärksten Fraktionen im Bundestag als Großen Koalition bei.

 

2.3.1        Historischer Kontext

 

Die deutsche Staatsarchitektur ist maßgeblich durch die zwei vorangegangenen Epochen - die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Herrschaft - geprägt.

 

Als erste parlamentarische Demokratie in Deutschland war die Weimarer Republik von 1918 bis 1933 ein instabiles politisches System des Deutschen Reiches. Deutlich wird dies beispielsweise an der Tatsache, dass in ihrem 14-jährigen Bestehen neun Reichstagswahlen[4] abgehalten wurden. In den Jahren 1924 und 1932 erfolgte die Stimmabgabe sogar zweimal im Abstand eines halben Jahres (Sautter, 2004, S. 112). Die Wahlen wurden mittels reiner Verhältniswahl ohne einschränkende Sperrklauseln durchgeführt. Im Ergebnis konnten bis zu 15 Parteien Abgeordnetensitze im Reichstag erringen. Durch die Zersplitterung der politischen Mehrheiten erwies sich die Regierungsbildung oftmals schwierig und gebildete Regierung amtierten häufig nur kurz (Rudzio, 2019, S. 92; von Alemann, 2000, S. 37). Insgesamt wurden in den 14 Jahren 21 Koalitionsregierungen ernannt. „Schon 1920 war es nicht mehr möglich, aus weniger als vier Parteien eine regierungsfähige Mehrheit zu stellen“ (Kaack, 1967, S. 16). Das Wahlsystem besaß zu jenen Zeiten Verfassungsrang, sodass eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag notwendig war, um Veränderungen daran durchzusetzen (Artikel 22 Verfassung des Deutschen Reiches). Die Ernennung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler markiert sowohl das Ende freier Reichstagswahlen als auch wenig später der Weimarer Republik als politisches System des Deutschen Reiches. „Es ist […] eine historische Tatsache, daß auch das Wahlsystem seinen Anteil am Scheitern der Weimarer Demokratie hatte“ (Jüttner, 1970, S. 42).

 

Auf Bitten von Adolf Hitler löste Reichspräsident Paul von Hindenburg am 1. Februar den 7. Deutschen Reichstag auf und ordnete Neuwahlen am 5. März 1933 an. Wenige Tage nach der Auflösung schränkte die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes[5] elementare Grundrechte wie die Versammlungs- und Pressefreiheit maßgeblich ein. Mit der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat[6] vom 28. Februar 1933 infolge des Reichstagbrandes, wurden die fundamentalen Eingriffe in die Bürgerrechte ausgeweitet. Ausgesetzt wurden so per Verordnung die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person sowie der Wohnung, die freie Meinungsäußerung, das Brief- und Postgeheimnis, die Gewährleistung von Eigentum und die Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Die Reichstagswahl am 5. März 1933 folgte denselben Wahlgrundsätzen der Weimarer Republik wie jene zuvor, jedoch mit erheblichen Einschränkungen durch die erlassenen Verordnungen. Die NSDAP agierte im Wahlkampf mittels Propaganda und Terror (Bauer, 2008, S. 202). Politische Gegner wurden systematisch einschüchtert, verfolgt und in Schutzhaft genommen. Trotz der maßgeblichen verzerrenden Maßnahmen erreichte die NSDAP mit 43,9 Prozent nicht die erwartete absolute Mehrheit im 8. Deutschen Reichstag (ebd.). Dennoch gelang es Adolf Hitler und der NSDAP schlussendlich eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit für die Ausschaltung des Reichstages als gesetzgebende Gewalt zu gewinnen. Am 23. März 1933 verabschiedete eine bürgerliche Mehrheit bestehend aus neun Parteien im Reichstag das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich[7], geläufig als Ermächtigungsgesetz bezeichnet, und beendete damit die durch den Reichstag ausgeübte parlamentarische Kontrolle der Regierung. Die gesetzgebende Gewalt wurde entmachtet und ihre Aufgaben fortan durch die exekutive Gewalt ausgeübt.

 

Die nachfolgenden Reichstagswahlen im November 1933, März 1936 und April 1938 sind als Scheinwahlen einzustufen (Bauer, 2008, S. 234). Das durch die Reichsregierung erlassene Gesetz gegen die Neubildung von Parteien[8] verbot alle Parteien mit Ausnahme der NSDAP und setzte somit gesetzgeberisch ein totalitäres Einparteiensystem ein. Zudem war der Reichstag durch das Ermächtigungsgesetz für die Gesetzgebung bedeutungslos.

 

Die gescheiterte Weimarer Demokratie und die nationalsozialistische Machtergreifung mit demokratischen Mitteln veranlassten die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach Ende des Zweiten Weltkriegs, auch unter Einflussnahme der Befreiungsmächte, systemische Machtbeschränkungen und Sicherungen von Gleichgewichten im Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland zu verankern. Sowohl vom Verfassungskonvent von Herrenchiemsee als auch vom Parlamentarischen Rat wurde auf die Anlehnung an ein idealtypisches Wahlsystem sowie die Festschreibung dessen im Grundgesetz verzichtet (Bredthauer, 1973, S. 30). Das reine Verhältniswahlsystem der Weimarer Republik wurde um Elemente des Mehrheitswahlrechts ergänzt. Seither setzt sich die parlamentarische Volksvertretung aus direkt gewählten und über eine Parteiliste gewählten Abgeordneten zusammen. Um der vom Verhältniswahlsystem beförderten politischen Zersplitterung entgegenzuwirken, wurde eine Sperrklausel bei Bundestagswahlen eingeführt. Damit bleiben Parteien, welche bundesweit weniger als fünf Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen auf sich vereinen bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt (§ 6 Absatz 3 Satz 1 BWahlG). Zudem wurde an die Tradition der Koalitionsregierung aus Weimarer Zeiten angeknüpft. Die Bildung einer Koalitionsregierung steht in Abhängigkeit zur Ausgestaltung des Wahlsystems, wie im Weiteren noch näher herausgestellt wird.

 

2.3.2        Personalisiertes Verhältniswahlrecht

 

„Das Wahlrecht der Bundesrepublik ist das Ergebnis eines Kompromisses, mit dem die Erfahrungen der Vergangenheit berücksichtigt werden sollten“ (Kaack, 1967, S. 14). „Wie der Gesetzgeber frei ist in der Entscheidung zwischen den Modellen der Mehrheits- und Verhältniswahl, so ist er auch befugt, beide Wahlsysteme miteinander zu verbinden“ (Menzenbach & von der Hude, 2008, S. 1). Das personalisierte Verhältniswahlrecht zur Wahl des Deutschen Bundestags ist jedoch nicht als reines Mischsystem zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl anzusehen, „da lediglich bei der Auswahl der Hälfte der Kandidaten Elemente der Mehrheitswahl eingeführt wurden, die Mandatszahl der einzelnen Parteien jedoch im wesentlichen nach dem Proporz ermittelt werden“ (Bredthauer, 1973, S. 23). Das Grundgesetz weist in Artikel 38 aus, dass die „Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ (Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 GG) werden. Wie diese Wahl zu erfolgen hat, ist hingegen nicht Teil des Grundgesetzes und wird durch ein Bundesgesetz geregelt (Artikel 38 Absatz 3 GG). Das entsprechende Bundeswahlgesetz (BWahlG) besitzt keinen Verfassungsrang und ist somit auch nicht vor Änderung mit der Notwendigkeit einer absoluten Zweidrittelmehrheit des Bundestags belegt. Es kann mit absoluter Mehrheit der Abgeordneten geändert werden. „Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung […] ist im Grundgesetz bewusst darauf verzichtet worden, ein bestimmtes Wahlsystem vorzuschreiben“ (Menzenbach & von der Hude, 2008, S. 1).

 

Das Bundeswahlgesetz regelt weiterhin, dass der Deutsche Bundestag sich in der Regel aus 598 Abgeordneten zusammensetzen soll (§ 1 Absatz 1 Satz 1 BWahlG). „Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt“ (§ 1 Absatz 2 BWahlG). Das Gesetz verdeutlich damit die beiden unterschiedlichen Wahlsystematiken. Mittels Erststimme bestimmen die Wähler im Verfahren der relativen Mehrheitswahl in 299 Bundestagswahlkreisen die direkt gewählten Abgeordneten – nachfolgend Wahlkreismandat oder Direktmandat genannt. Die übrigen 299 Regelmandate werden durch die Zweitstimme im Verfahren der Verhältniswahl bestimmt. Während Anteil an per Mehrheitswahl ermittelten Mandaten (Direkt-/Wahlkreismandat) fixiert ist, ist der Verhältnispart flexibel und kann auch über den Wert von 299 Regelmandaten steigen (§ 6 BWahlG).

 

Unberücksichtigt bleiben bei der Zuteilung der Mandate Parteien und Wahlvereinigungen, welche im gesamten Bundesgebiet weniger als fünf Prozent der abgebenden Wählerstimmen erhalten (Fünfprozentklausel) oder weniger als drei Wahlkreise direkt gewonnen haben (Grundmandatsklausel). Vor allem die Fünfprozentklausel ist als Sicherungsmechanismus vor der Parteienzersplitterung aus den Erkenntnissen während der Weimarer Republik entstanden.

 

Verteilt werden die Mandate seit 2009 mit dem zweistufigen Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren[9] (§ 6 BWahlG). Eingangs wird die Mindestsitzanzahl der Parteien bestimmt. Die 598 zu vergebenden Sitze werden dabei nach Bevölkerungsstärke der einzelnen Bundesländer verteilt. Jedes Bundesland erhält damit ein Sitzkontingent basierend auf dem Bevölkerungsanteil. Anschließend wird das Sitzkontingent anhand der erhaltenen Parteizweitstimmen aufgeteilt. Die Direktmandate werden auf die Mandate der Landesliste angerechnet. Georg Geismann sieht hierin den Vorrang der Verhältniswahl gegenüber der Mehrheitswahl (2014, S. 25). In der zweiten Stufe wird die Gesamtsitzanzahl erhöht, so dass jede Partei ihre Mindestsitzanzahl erreicht. Abschließend wird festgestellt wie viele Sitze auf die einzelnen Landeslisten der Parteien entfallen. Erringt eine Partei mehr Wahlkreismandate als ihr nach Zweitstimmenanteil zusteht, gelten diese als Überhangmandate und bleiben erhalten. Überhangmandate ohne einen Ausgleich verzerren die Sitzverteilung der übrigen Parteien. Daher erhalten alle übrigen Parteien Ausgleichsmandate, um den Proporz des Wahlgangs exakt im Bundestag abzubilden.

 

2.3.3        Wahlrechtsreformen und Reformvorhaben

 

Seit Inkrafttreten des Bundeswahlgesetzes am 23. Mai 1956 bildet dieses die Basis zur Bestimmung der Mitglieder des Bundestags[10]. Das Gesetz wies über Jahrzehnte eine hohe Beständigkeit auf. Hervorzuheben sind bis 2008 allen voran die Änderungen des Verteilungsverfahrens. Seit 1956 fand das D’Hondt-Verfahren Anwendung. Dieses wurde 1985 vom Hare-Niemeyer-Verfahren abgelöst, welches wiederum 2008 durch das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren ersetzt wurde.

 

Erst im zurückliegenden Jahrzehnt wurden schließlich mehrere Wahlrechtsreformen durch den Gesetzgeber vorgenommen. Auf Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellten Verfassungswidrigkeit des negativen Stimmgewichts durch die Unterverteilung der Überhangmandate, sortierten die regierenden Parteien CDU/CSU und FDP das Verteilungsverfahren 2011 neu (Dehmel, 2020, S. 35-36). Überhangmandate wurden bis dahin nicht durch Ausgleichmandate nivelliert. Gegen die Wahlgesetznovelle klagten SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Mitte 2012 befand das Gericht die Novelle für nichtig, da sie die negative Stimmgewichtung nicht zu verhindern vermochte (ebd., S. 36). Im Februar 2013 verabschiedeten die Abgeordneten von Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eine erneute Reform des Wahlrechts (ebd.). Seither sind Überhangmandate durch Ausgleichmandate für die übrigen Parteien auszugleichen und damit die Verzerrung des Verhältnisses aufzulösen. Überhang- und Ausgleichmandate vergrößern den Bundestag über seine Regelgröße hinaus. Je höher die Abweichung der Erst- und Zweitstimmenergebnisse der CDU, CSU und SPD, desto mehr Überhangmandate gilt es auszugleichen und desto mehr Mitglieder umfasst der Bundestag insgesamt. Um einen weiteren Aufwuchs des Bundestags zu begrenzen, schoben die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD 2020 eine weitere Reform an (Schmid, 2020). Im Wesentlichen erfolgt ein Ausgleich von Überhangmandaten erst, sobald diese drei überschreiten. Ebenfalls soll die Zahl der Direktwahlkreise von 299 auf 280 sinken. Diese Regelung tritt jedoch erst zum 1. Januar 2024 in Kraft. Damit würde das Ungleichgewicht zwischen der Mehrheits- und Verhältniswahl weiter in Richtung des Proporzes verschoben. Ob die Neueinteilung der Wahlkreise umgesetzt wird, ist fraglich, denn es deutet sich bereits die nächste Wahlrechtsreform im Ansatz an. Die Koalitionsregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ist laut Koalitionsvertrag willens, das Wahlrecht innerhalb des ersten Regierungsjahres zu überarbeiten. Neben der Einhaltung der gesetzlichen Regelgröße des Bundestags, ist auch wieder der Ausgleich alle Überhangmandate vertraglich fixiert (SPD et al., 2021, S. 11).

 

Neben diesen politischen Reformen wurden und werden im wissenschaftlichen und theoretischen Kontext bereits vor der Verabschiedung des ersten Bundestagswahlgesetzes zahlreiche Überlegungen hinsichtlich der Ausgestaltung und Veränderung des Wahlrechtes getätigt. Denkbar ist beispielsweise unter Beibehaltung der bisherigen Systematik die Verschärfung der Sperrklausel auf zehn Prozent, bei gleichzeitiger Abschaffung der Grundmandatsklausel. Legt man diesen Maßstab an die Bundestagswahl 2021 an, wäre die Fraktion Die Linke nicht in den Bundestag eingezogen. Sie scheiterte schon in dieser Wahl an der Fünfprozentklausel und zog nur durch die Grundmandatsklausel in Fraktionsstärke in den Bundestag ein, da sie drei Direktmandate erringen konnte. Bei der CSU hätte das Zweitstimmenergebnis von 5,2 Prozent der Stimmen bei einer erhöhten Sperrklausel ebenfalls nicht zum Einzug in den Bundestag gereicht, jedoch konnte diese Partei 6 Prozent der Erststimmen und somit 45 Direktmandate erringen. Die direktgewählten Abgeordneten hätten somit auch unter den veränderten Rahmenbedingungen eine Fraktion[11] bilden können. Die AfD wäre mit einem Zweitstimmenanteil von 10,3 Prozent knapp über der erhöhten Sperrklausel und damit in den 20. Deutschen Bundestag eingezogen, zudem gewann die Partei 16 Wahlkreismandate (Bundeswahlleiter, o. D.).

 

Einige Ideen gehen über eine Weiterentwicklung des vorhandenen Systems hinaus. Ihre Verfechter diskutieren einen radikalen Wechsel vom proporzbestimmten Mischsystem zum relativen Mehrheitswahlrecht. Dieser wissenschaftliche Diskurs wurde von der ersten Großen Koalition auf bundesdeutscher Ebene 1956 in die politische Sphäre gehoben und als gemeinsames Projekt auf die Tagesordnung gesetzt.

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Die Große Koalition und das Mehrheitswahlrecht
Untertitel
Eine Analyse unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Bundestagswahl 2021
Hochschule
( Europäische Fernhochschule Hamburg )
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
59
Katalognummer
V1244693
ISBN (eBook)
9783346669292
ISBN (eBook)
9783346669292
ISBN (eBook)
9783346669292
ISBN (Buch)
9783346669308
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Große Koalition, BRD, Wahlsystem, SPD, CDU, Wahlrecht, Mehrheitswahl, Verhältniswahl, Bundestagswahl
Arbeit zitieren
Patrick Deligas (Autor:in), 2022, Die Große Koalition und das Mehrheitswahlrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1244693

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