Psychologische Mechanismen des nationalsozialistischen Diskurses und ihre Effekte in H. G. Alders "Eine Reise"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. DIE PSYCHOLOGISCHEN MECHANISMEN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN DISKURSES

3. DIE PSYCHOLOGISCHEN EFFEKTE DES NATIONALSOZIALISTISCHEN DISKURSES
3.1. MASSIFIZIERUNG UND BETÄUBUNG DER BÜRGER
3.2. REALITÄTSVERDRÄNGUNG DER SS – WACHEN
3.3. PSYCHOLOGISCHE EFFEKTE AUF DIE JUDEN

4. SCHLUSSWORT

LITERATURANGABEN

1. Einleitung

„Nur wer die Reise wagt, findet nach Hause“[1] schrieb einst H. G. Adler auf einem Widmungsexemplar seines beliebtesten, jedoch noch recht unbekannten Romans Eine Reise.[2] Diese Worte müssen dem 1910 in Prag geborenen Schriftsteller jüdischer Vorfahren aus dem Herzen stammen, denn er überlebte selbst den Holocaust in den Lagern Theresienstadt (1942-1944), Auschwitz und Niederorschel (1944) vor seiner Befreiung seitens der Alliierten am 12./ 13. April 1945, und kehrte 1945 wieder nach Prag zurück. Jenseits des unmittelbaren Verweises auf die Deportation ins Lager ragt jedoch eine umso bedeutungsvollere Andeutung auf die psychologische Sphäre des Individuums empor, welche in Adlers Romanen eine Schlüsselrolle spielt. Insbesondere der Roman Eine Reise bietet einen eindringlichen Blick auf die psychologischen Aspekte des nationalsozialistischen Diskurses durch fiktive Charaktere, welche jedoch autobiographisch getränkte Züge aufweisen.[3] Solch eine psychoanalytische Fähigkeit beweist Adler aber vor allem in den zwei ausführlichen Bänden seiner Studie Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, an deren Entstehung der Autor schon während der Gefangenschaft arbeitete. Dank ihrer Objektivität und ihrem intellektuellen Abstand stellt dieses Werk die Ausarbeitung und die Ergänzung seines Romans dar und „zeigt eine seltene Fähigkeit, besonders wenn man die Zeit in der es geschrieben wurde, bedenkt, von den unmittelbaren Schrecken der noch frischen Erfahrung Abstand zu nehmen und die eigenen Fragen zu den allgemeineren in Beziehung zu setzen.“[4]

Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist die psychologische Wirkung des Nationalsozialismus in dem Roman Eine Reise. Die Analyse besteht aus zwei Teilen: erstens werden die psychologischen Mechanismen des Nationalsozialismus und Antisemitismus untersucht und es wird versucht, die ideologische Grundlage des Diskurses zu schildern; zweitens werden ihre psychologischen Folgen auf die Charaktere im Roman untersucht. Insbesondere wird versucht, nicht nur die Opfer, sondern sämtliche Teilnehmer am nationalsozialistischen System, sowie die unterschiedlichen Effekte des Diskurses auf die jüdischen Gefangenen selbst, in Betracht zu ziehen.

2. Die psychologischen Mechanismen des nationalsozialistischen Diskurses

Es ist vorauszusetzen, dass Diskurs hier als Begriff aufgefasst wird, wie Foucault ihn konzipiert hat, das heißt, eine allumfassende Weltanschauung, die Macht erzeugt und die nicht nur die Ebene der Sprache, sondern auch sämtliche sozialen, ökonomischen und politischen Ebenen beeinflusst und somit in das Leben des Einzelnen eindringt.[5] Diskurs erweist sich also in dieser Auffassung als ein geeigneter Begriff für die nationalsozialistische Ideologie, welche auf allen Ebenen wirkte, nicht nur politisch.[6] Wie schon erwähnt, soll diese Analyse keinen soziologischen oder historischen Schwerpunkt haben, sondern einen psychologisch – literarischen, deswegen basiert die Analyse der Verfasserin hinsichtlich des nationalsozialistischen Diskurses auf dem, was im Roman Eine Reise besondere Relevanz findet.

Um sich einen klaren Überblick über die Dichotomie des nationalsozialistischen Diskurses zu verschaffen, wird kurz auf die Erklärung bezogen, die Adler selbst in seinem Werk Theresienstadt darstellt.[7] Laut Adler basiert der nationalsozialistische Diskurs auf dem Dualismus zwischen „Gutem“ (Macht) und „Nicht-Gutem“ (Ohnmacht), indem Hitler und die Nation mit dem Guten identifiziert werden. Das führt zu einer Vergöttlichung des Staates, dessen Gesetze als heilige Gebote empfunden werden und dessen Willen als unbestritten gilt. Die materialistische Effizienz und Allmächtigkeit des Staates geht so weit, dass ihm eine anonyme, passiv gehorchende Masse gegenübersteht. Solch eine binäre Rationalität wird aber auf einer irrationalen mythologischen Grundlage aufgebaut, nämlich der ethnischen Dominanz der Arier über alle anderen, sodass sich eine anormale, instabile Synthese erweist. An der Seite des Bösen werden nämlich die Juden gestellt, deren „Sündenbock-Position“[8] in der Geschichte unter dem Volk schon bekannt ist, und der Begriff „Jude“ umfasst sämtliche Gegensätze zum Guten, die kaum mit dem eigentlichen Judentum verbunden werden können, wie zum Beispiel Bolschewismus, Freimaurerei, nur weil „die Juden“ nicht zur nationalsozialistischen Ideologie des „arischen Volkes“ gehören sollen. Jude wird sogar mit dem Teufel verbunden und wahnsinnige, fanatische politische

Reden verbreiten diese Überzeugung in die Bevölkerung. Die Realitätsumstände ändern sich rasch durch die Verdrehung der Gesetze und der Moral, woraus sich die Entwertung und der Zerfall der Werte ergeben. Aus dieser krankhaften Ideologie ist der Schritt zur tatsächlichen menschlichen Abschaffung des „Bösen“ nicht weit.

Der oben geschilderte Diskurs wirkt dominierend und eindringlich im Laufe des Romans, und es lässt sich schon am Anfang spüren, wie sehr die Juden in der Zeit vor der Deportation unter Druck standen. Die einzelnen Bestandteile des alltäglichen Lebens, die zugleich die Bestandteile der menschlichen Identität sind, werden bedroht und dann abgeschafft, sodass nur völlige Unsicherheit und Ohnmacht übrig bleiben. Die Entscheidungsfähigkeit wird abrupt gelähmt, indem das Buch mit der Aussage beginnt: „Niemand hat euch gefragt, es wurde bestimmt. Man hat euch zusammengetrieben und keine lieben Worte gesagt.“[9] Zuerst tritt die Verbotenheit bisher selbstverständlicher Taten und sogar des Eigentums auf, wie zum Beispiel des eigenen Hauses und der eigenen Arbeit im Falle von Leopold Lustig, der seine Praxis als Arzt nicht mehr weiterführen darf. Die meisten Verbote entstehen abrupt und ohne jegliche Erklärung, sie werden meistens durch Gerüchte verbreitet und versetzen die Familie Lustig in einen unaufhörlichen Angstzustand. Außerdem wird das Ziel der abrupten, gezwungenen Absonderung nicht enthüllt, und alles wird deswegen „unbestimmt“ und „unbekannt“.[10] Die Sinnlosigkeit der verwandelten Moral ist verwirrend und irrational, daher das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Die Sprache selbst, welche den Kontakt zur Wirklichkeit ermöglicht, verliert an Sinn, denn sie wird zum Mittel einer sinnlosen Ideologie erniedrigt und stellt kein überpersönliches, jedem Individuum zu Verfügung stehendes Identitätsbestandteil mehr dar:

„Worte mischen sich in das Grauen, denn die Sprache gehört uns nicht mehr; fremd entringt sie sich dem, der anhebt zu reden. Aber dann rinnen sich die Worte fort, sie scheinen noch vertraut. Liebe Worte, fortgeschwommene Worte, meine Worte, deine Worte, sie reißen Wände ein und richten sie auf, sie fügen sich dicht, undurchdringlich und sicher.“[11]

Eben diese Macht der Sprache schöpft eine derartig feste Weltanschauung, der jeder Einwohner unterworfen ist, sodass die Bevölkerung solch eine antisemitische Auffassung nicht nur akzeptiert, sondern sogar unterstützt und propagiert, wie es durch die anonymen Anklagen gegen die Juden im Laufe des Romans klar wird. Es besteht eine immer größer werdende Distanz zwischen einst alten Freunden, die nur auf Basis expliziter staatlicher Verbote auf der einen Seite, doch auch ideologisch bedingten Hasses gegen Juden auf der anderen Seite entsteht. Die Macht eines externen Diskurses wirkt überwiegend auf die individuellen Erfahrungen im alltäglichen, realen Leben.

Diese Feindlichkeit, zusammen mit irrationalem Hass und abrupter Umwertung der politischen und zwischenmenschlichen Werte, führt unmittelbar zur Isolierung der Familie Lustig, die dann den unbegründeten Befehl befolgen muss, auf ihr gesamtes Eigentum zu verzichten und abzureisen. Dies sei als ein erster Schritt zur Entmenschlichung und Verdinglichung der Juden zu verstehen, wie der Erzähler selbst explizit kommentiert: „Man muß [sic] immer etwas dabei haben, damit man sein kann. Nur der Haserle, die Tiere haben nichts, die darum auch nicht so sind, wie nur Menschen sind.“[12] Ohnmacht bezüglich der paradoxen, „freiwilligen“ Pflicht zur Konfiszierung, deutlich in dem Befehl „Unterschreiben Sie, dass Sie nicht dürfen!“,[13] führt bei den Angehörigen der Familie Lustig, sowie vielen anderen betroffenen Juden, zu einer Bedrohung der eigenen Identität, denn sie haben plötzlich kein Eigentum, keine eigene Freiheit, keine Sicherheit, keine Gegenwart, keine V]ergangenheit und keine Ehrbarkeit mehr. Sie werden zu passiven Gefangenen, deren Erinnerungen in den verlassenen Häusern, in den bisher geführten Leben bleiben.

Ein weiterer Aspekt der menschlichen Massifizierung und Übermechanisierung seitens des nationalsozialistischen Diskurses besteht in der Anonymisierung der Gefangenen durch die Abschaffung ihres Namens und die Vernichtung ihrer Ausweise, sowie durch die Vergabe einer Nummer zur Vereinfachung und Beschleunigung der staatlichen Kontrolle. Bevor sie ins Lager nach Ruhenthal[14] gefahren werden, werden sie gezählt und sie müssen wie Vieh in einem leeren Museum die Nacht in der Dunkelheit verbringen, ohne dass sie sich unterhalten oder gar erkennen können. Sie dürfen sich auch nicht bewegen und die Verbote werden so irrational und extrem, dass man sogar keine Schneeflocken mit der Zunge auffangen darf.[15]

Der daraus entstehende Zustand der Gefangenen, die „ehemalige Menschen“ genannt werden, wird in den folgenden Wörtern deutlich:

„Ihr seid dem Zufall überlassen und seid gewürfelt. [...] Ihr seid wilde Tiere. Erinnert ihr euch noch daran, dass ihr noch Menschen gewesen seid? [...] Sollten sie euch nach Namen und Herkunft fragen, dann antwortet, dass ihr alles vergessen habt. Will man euch das nicht glauben, dann erklärt ihr, dass man eure Namen ausgestrichen hat, weil ihr nicht mehr eigentlich seid.“[16]

Die Anonymisierung des Lebens bedroht die Identität der Gefangenen, aber nicht nur das Leben wird anonymisiert. Nachdem die Familie Lustig, zusammen mit den anderen Gefangenen, nach Ruhenthal gebracht wird, verschlechtern sich die gesundheitlichen Zustände so dermaßen, dass der alte Leopold trotz aller Mühe seitens seiner Familie verhungert. Sogar im Tod bleibt er aber anonym, denn es werden keine Totenscheine erstellt.[17]

Darüber hinaus werden im Lager die Mechanismen des nationalsozialistischen Diskurses noch zugespitzter, denn die Situation trägt zu einem engen Kontakt zwischen Gefangenen unter sich, aber auch zu den SS-Wachen bei. Die tragischen und historischen Ereignisse sind schon bekannt, deswegen soll hier ausschließlich auf den ideologischen Motor der grausamen Menschenentsorgung in den Gaskammern eingegangen werden, dessen Irrsinn und krankhafte „irrationale Überrationalität“ durch die bewusst sadistische Lobrede der erzählerischen Stimme auf ironische Weise zur Geltung kommt:

„Das Krematorium ist praktisch und hygienisch. Es ist eine der schönsten und nützlichsten Erfindungen der Neuzeit, das Geist nicht allein, sondern das verfeinerte Empfinden eines gebildeten Herzens ersonnen hat, um schnell zu machen, was getan sein muss, und um den Totengräbern viel Arbeit zu ersparen. [...] Wie schön ist das! Und nicht teuer! Machen Sie heute einen Versuch! Selbstmörder genießen ermäßigte Preise! Wie beglückend, ein enormer Vorschritt der Kultur! [...]“.[18]

[...]


[1] Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 359.

[2] Hubmann H., Lanz A. O., Zu Hause im Exil. Stuttgart, 1987, S. 198.

[3] Vgl. Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 357ff.

[4] Hubmann, Lanz, Zu Hause im Exil, 1987, S. 32., auf den Roman Panorama bezogen.

[5] Dazu vgl. Foucault, M., The Archaeology of Knowledge & The Discourse on Language, Tavistock Publications Limited, 1972.

[6] Vgl. hierzu: Wolfgang Bergsdorf, Politik und Sprache, München/Wien 197g, sowie: Herrschaft und Sprache, Studie zur politischen Terminologie der Bundesrepublik Deutschland, Pfullingen, 19g3.

[7] Adler, H. G., Theresienstadt 1960, S. 627 – 685.

[8] Ebd. 647.

[9] Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 9.

[10] Vgl. Ebd. S. 15.

[11] Ebd. S. 11f.

[12] Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 23.

[13] Ebd. S. 25f.

[14] Dazu ist es zu erwähnen, dass Adlers Sohn Jeremy der fiktive Lager Ruhenthal mit dem Lager Theresienstadt identifiziert hat, indem sein Vater 3 Jahre seines Lebens verbringen musste. Vgl. H. G. Adler, Eine Reise, Nachwort S. 358f.

[15] Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 38.

[16] Adler, H.G., Eine Reise, 2002, S. 42.

[17] Vgl. Ebd., S. 237.

[18] Ebd., S. 242f.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Psychologische Mechanismen des nationalsozialistischen Diskurses und ihre Effekte in H. G. Alders "Eine Reise"
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar - Prager deutsch-jüdische Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V124827
ISBN (eBook)
9783640299102
ISBN (Buch)
9783640304127
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologische, Mechanismen, Diskurses, Effekte, Alders, Eine, Reise, Hauptseminar, Prager, Literatur
Arbeit zitieren
Dott. Manuela Gallina (Autor:in), 2008, Psychologische Mechanismen des nationalsozialistischen Diskurses und ihre Effekte in H. G. Alders "Eine Reise", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124827

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