Lehrer mit Migrationshintergrund sind in Deutschland sehr selten, so ist es auch kaum verwunderlich dass keine Untersuchungen existieren, die sich speziell dieser Gruppe unter den Lehrern widmen. Aufgrund einer positiven Wendung in der Migrationsforschung in der jüngeren Vergangenheit – weg von einem defizitorientierten, hin zu einem ressourcenorientierten Forschungsansatz – haben nun auch bildungserfolgreiche Migranten ihren Platz in den Ansätzen der Wissenschaft gefunden. So sind beispielsweise Studien zu kulturellen Identitätskonstrukten von bildungserfolgreichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. Badawia 2003), oder Studien zu sozio-kulturellen Kompetenzen von Studenten mit Migrationshintergrund Türkei erschienen (vgl. Griese, Schulte, Sievers, Canbulat, Ültanir 2007). Diese Veröffentlichungen haben den Weg für eine intensive Forschung in dem Bereich Migration und Bildung geebnet. Auch diese Studie widmet sich bildungserfolgreichen Menschen mit Migrationshintergrund, jedoch unterscheidet sie sich auch von den angesprochenen Untersuchungen. Der eigene Bezug zu dem Thema hat dabei eine gewisse Relevanz. Aufgrund meiner persönlichen Situation als Lehramtsstudent mit Migrationshintergrund habe ich mich oft gefragt, wie wohl andere zukünftige Lehrer mit Migrationshintergrund ihrem Beruf entgegensehen, was ihre Motivation dabei ist und ob und inwiefern ihr eigener Migrationshintergrund eine Rolle spielt. In dieser Arbeit möchte ich dies mit Hilfe von ethnographischen Interviews untersuchen. Dabei sollen Aspekte wie kulturelles Selbstbild, Bildungsbiographie, Erwartungshaltungen, Berufswahlmotivation der Probanden und der eventuelle Einfluss des eigenen Migrationshintergrunds dazu betrachtet werden. Bei der Wahl des Samples wurden Probanden mit einem kulturell homogenen Migrationshintergrund gewählt, da dadurch Gemeinsamkeiten in den Angaben erwartet werden.
Inhaltsverzeichnis
0 Einleitung
1 Motivation, Berufswahlmotivation und der ethnographische Kontext
1.1 Begriffseinschränkung: Berufswahlmotivation
1.2 Berufswahlmotivation im ethnographischen Kontext
1.3 Zusammenfassung
2 Ausländer, Migration, Migrationshintergrund – eine Einführung
2.1 Migration
2.2 Kommunikationsmechanismus „Ethnisierung“
2.3 Wissenschaftlicher Diskurs zu Migration, Integration und Bildung
2.4 Aktuelle Tendenzen und Einordnung des hiesigen Forschungsprojektes
3 Bildungsbenachteiligung, Migration, und PISA-Schock: Mängel des deutschen Bildungssystems
3.1 Institutionelle Manifestierung des Problems der Bildungsbenachteiligung
3.2 Bildungsbenachteiligung und die Zielgruppe
3.3 Menschen mit Migrationshintergrund für den Lehrerberuf gewinnen
4 Das methodische Untersuchungsdesign
4.1 Festlegung der Sozialen Situation und Wahl des Samples
4.2 Interview
5 Ergebnisse
5.1 Motivation für den Lehrerberuf
5.2 Bildungsverläufe, Herausforderungen und Hürden
5.2.1 Lehrer
5.2.2 Die Stellung des Lehrers in der Türkei
5.2.3 Der Stellenwert von Bildung im Leben der Probanden
5.2.4 Umgang mit Bildungsbenachteiligung, Bildungssystem und Chancen- gleichheit
5.3 Selbstverortung der Probanden
5.4 Diskriminierungserfahrungen
5.4.1 Reaktionen von Schülern, Eltern, Lehrern aus der Perspektive der Probanden
5.4.2 Lehrerangst und die Zielgruppe
5.4.3 Der eigene Migrationshintergrund als Chance
5.5 Die Vorbildfunktion als Motiv
5.6 Zusammenfassung
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
8 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
9 Anhang
9.1 Regeln zur Transkription
9.2 Transkripte der Interviews
0 Einleitung
Lehrer mit Migrationshintergrund sind in Deutschland sehr selten, so ist es auch kaum verwunderlich dass keine Untersuchungen existieren, die sich speziell dieser Gruppe unter den Lehrern widmen. Aufgrund einer positiven Wendung in der Migrationsforschung in der jüngeren Vergangenheit – weg von einem defizitorientierten, hin zu einem ressourcenorientierten Forschungsansatz – haben nun auch bildungserfolgreiche Migranten ihren Platz in den Ansätzen der Wissenschaft gefunden. So sind beispielsweise Studien zu kulturellen Identitätskonstrukten von bildungserfolgreichen Jugendlichen mit Migrations-hintergrund (vgl. Badawia 2003), oder Studien zu sozio-kulturellen Kompetenzen von Studenten mit Migrationshintergrund Türkei erschienen (vgl. Griese, Schulte, Sievers, Canbulat, Ültanir 2007). Diese Veröffentlichungen haben den Weg für eine intensive Forschung in dem Bereich Migration und Bildung geebnet. Auch diese Studie widmet sich bildungserfolgreichen Menschen mit Migrationshintergrund, jedoch unterscheidet sie sich auch von den angesprochenen Untersuchungen. Der eigene Bezug zu dem Thema hat dabei eine gewisse Relevanz. Aufgrund meiner persönlichen Situation als Lehramtsstudent mit Migrationshintergrund habe ich mich oft gefragt, wie wohl andere zukünftige Lehrer mit Migrationshintergrund ihrem Beruf entgegensehen, was ihre Motivation dabei ist und ob und inwiefern ihr eigener Migrationshintergrund eine Rolle spielt. In dieser Arbeit möchte ich dies mit Hilfe von ethnographischen Interviews untersuchen. Dabei sollen Aspekte wie kulturelles Selbstbild, Bildungsbiographie, Erwartungshaltungen, Berufswahl-motivation der Probanden und der eventuelle Einfluss des eigenen Migrationshintergrunds dazu betrachtet werden. Bei der Wahl des Samples wurden Probanden mit einem kulturell homogenen Migrationshintergrund gewählt, da dadurch Gemeinsamkeiten in den Angaben erwartet werden.
In einem ersten Schritt soll in dieser Arbeit der Motivationsbegriff thematisiert werden. Da Begriffe wie Motiv und Motivation aufgrund ihrer Natur als hypothetische Konstrukte sehr vielschichtig sind, werden sie soweit möglich für die Thematik dieser Arbeit eingegrenzt. Dies ermöglicht eine gezieltere Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsschwerpunkt dieser Arbeit.
Anschließend wird in einem zweiten Schritt eine Einführung in den wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Migration gegeben. Hierbei werden zu Beginn Begriffe und Konstrukte, die im Kontext von Migration und Bildung von zentraler Bedeutung sind, erklärt und darauf aufbauend ein geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der theoretischen Ansätze in der Migrationsforschung gegeben. Zudem werden aktuelle Forschungstendenzen, die für die Einordnung des hiesigen Forschungsvorhabens von Bedeutung sind, vorgestellt. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Entwicklung und den aktuellen Forschungstendenzen in der Migrationsforschung soll hierbei helfen, auf den Stand der aktuellen Forschungssituation zu kommen, sowie die Angaben der Probanden in diesen Kontext einzuordnen.
In einem dritten Schritt widmet sich diese Arbeit den Mängeln des deutschen Bildungssystems, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Bildungssystem notwendig, um den Einfluss der Angaben zur eigenen Bildungsbiographie auf die Berufswahlmotivation der Probanden besser bewerten zu können. Zum anderen wird das deutsche Bildungssystem den zukünftigen Arbeitsplatz der Probanden darstellen. Somit ist es interessant zu sehen, wie die Probanden dieses System bewerten. Diese Frage wird im empirischen Teil aufgegriffen, um zu untersuchen, inwiefern die Probanden als zukünftige Lehrer die problematischen Rahmenbedingungen der Institution Schule sehen.
Unter Punkt 4. wird die methodische Vorgehensweise des empirischen Teils der Arbeit beschrieben. Hier werden neben den Grundlagen der ethnographischen Methode auch die Wahl des Samples und die vorgenommene Abweichung in den Interviews erklärt.
Darauf aufbauend werden in Kapitel 5. die Ergebnisse der Interviews in verschiedenen Kategorien getrennt vorgestellt. Hierbei werden die verschiedenen Ergebnisse zu Aspekten wie Bildungsverlauf und Herausforderungen und Hürden, Diskriminierungserfahrungen, kulturelles Selbstbild der Probanden, die Situation des Bildungssystems und deren Einfluss auf die Berufswahlmotivation vorgestellt. Im letzten Teil werden alle Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und reflektiert.
Zugunsten der angenehmeren Lesbarkeit werden in dieser Arbeit Substantive lediglich in maskuliner Form aufgeführt, wobei die feminine Begriffsbedeutung selbstverständlich eingeschlossen ist. Wenn im Folgenden die Rede von Lehrern ist, dann sind gleichermaßen auch Lehrerinnen gemeint. Gleiches gilt für Studenten, Schüler und alle anderen namentlich nicht erwähnten Personen. Abschließend soll noch erwähnt werden, dass aus datenschutzrechtlichen Gründen die Namen der Probanden im empirischen Teil verändert wurden. Hierbei wurde versucht, Namen aus demselben Kulturkreis zu benutzen.
1 Motivation, Berufswahlmotivation und der ethnographische Kontext
Um die Konsistenz des individuellen Verhaltens zu erklären, werden Menschen unterschiedliche Ausprägungen einer Reihe von Motiven zugeschrieben. Motive werden dabei als überdauernde Dispositionen aufgefasst (Heckhausen 1989). Jedes Motiv umfasst eine definierte Inhaltsklasse von Handlungszielen, von angestrebten Folgen des eigenen Handelns, die in Form überdauernder und relativ konstanter Wertungsdispositionen vorliegen (ebd.). Nach Heckhausen (1989) sind diese Wertungsdispositionen „höherer“ Art (d.h. sie sind für die Aufrechterhaltung der Funktionen des Organismus nicht entscheidend), nicht angeboren und sie entwickeln sich im Laufe der Ontogenese.
Motivation ist demnach eine gedankliche Hilfsgröße, ein hypothetisches Konstrukt, das uns bestimmte Verhaltensbesonderheiten erklären soll (Heckhausen Heckhausen 2006, nach Rudolph 2007). Im Rahmen einer weit gefassten Begriffsbestimmung kann Motivation als die Gesamtheit der Prozesse, die Zielgerichtetes Verhalten auslösen und aufrechterhalten, definiert werden (Mook 1987, vgl. auch Mietzel 1986). Der Motivationsbegriff ist eine Abstraktionsleistung, mit der von vielen verschiedenen Prozessen des Lebensvollzuges jeweils diejenigen Komponenten oder Teilaspekte herausgegriffen und behandelt werden, die mit der ausdauernden Zielausrichtung unseres Verhaltens zu tun haben (Heckhausen Heckhausen 2006, nach Rudolph 2007). Trotz des hypothetischen Charakters des Konstruktes „Motivation“, erscheint sie uns aber durchaus als reale Gegebenheit, da uns die Binnenzustände des Zielgebundenen Strebens, Wollens, Wünschens, Hoffens einschließlich ihrer Verhaltensauswirkungen – Anstrengung und Ausdauer – aus unserem eigenen Erleben wohl vertraut sind (Rudolph 2007). Allerdings ist uns die Motivation auch aus dem Selbsterleben nicht gegeben, sondern immer nur bestimmte Motivationsphänomene in] bestimmten Kontexten (ebd.).
Das Zusammenwirken von Anreizen und Motiven ist Voraussetzung für das Entstehen von Motivation (Schneider Schmalt 2000, nach Martinek 2007). Die personenseitige Verhaltensdeterminante (Motiv) wird nur dann verhaltenswirksam, wenn sie durch situative Anreize angeregt wird; die situationsseitige
Verhaltensdeterminante muss auf die entsprechende Motivdisposition im Individuum treffen, um Verhalten zu bewirken (ebd.).
Motivationen werden nach der Art des angestrebten Zielzustandes unterschieden, hierbei kann man fragen: Worin liegt die Befriedigung? (Nolting Paulus 2004). Einige Motivationen, wie etwa das Streben nach Selbstbestimmung oder Kompetenzerleben (ebd. Nach Deci Ryan 1993), sind primär auf die eigene Person gerichtet. Andere haben einen sozialen Bezug, wie das Streben nach Anerkennung, Anschluss oder Einflussnahme bzw. Macht. In diesen Fällen liegt die Befriedigung nicht in den Aktivitäten, sondern in den dadurch ermöglichten sozialen Nutzeffekten. Weiterhin liegen Anreize in materiellem Nutzen, wie zum Beispiel der Verbesserung beruflicher Chancen. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass viele Menschen von der Angst vor Bestrafung einschließlich Tadel, Liebesentzug getrieben werden (Nolting Paulus 2004.). Atkinson unterscheidet bei leistungsmotiviertem Handeln neben vier Situationsvariablen auch zwei Personenvariablen, die des Erfolgsmotives (Erfolg aufsuchen) und die des Misserfolgsmotives (Misserfolg meiden). Bei grundsätzlich erfolgsmotivierten Menschen, steht die Erwartung bzw. Hoffnung auf Erfolg im Vordergrund, wohingegen bei dem misserfolgsängstlichen Typen die Angst vor Misserfolg oder Versagen überwiegt (Schneider Schmalt 2000). Welche Motivation sich jedoch bei welchem Menschen konkret abspielt, hängt wie bei allen aktuellen Prozessen, von der Situation und der Person ab (ebd.).
1.1 Begriffseinschränkung: Berufswahlmotivation
Wie oben bereits deutlich wird, ist der Begriff der Motivation sehr weit gefasst. Es soll deswegen im Folgenden eine Einschränkung des Begriffes für die Thematik der vorliegenden Arbeit vorgenommen werden. Diese Einschränkung soll den Gegenstand der Untersuchung präzisieren und den Bereich von Interesse deutlicher abgrenzen.
In dieser Arbeit soll vor allem eine bestimmte Motivation, nämlich die Berufswahlmotivation von Lehramtsstudenten untersucht werden. Es gilt, Aufschlüsse über die Beweggründe der Entscheidung für den Lehrerberuf, den Antrieb zur Berufswahl der Lehramtsstudenten zu bekommen (Sauerbeck 1996).
Mit Berufswahlmotivation „ist [...] die Frage gestellt nach „überdauernder Motivation“ als „Norm (Soll-Lage), die beziehungssystemartig festlegt, wie der Umwelt-Bezug einer gegebenen Inhaltsklasse (Thematik) beschaffen sein muss, um für eine bestimmte Person befriedigend zu sein“ (Schiefele 1981, nach Sauerbeck 1996: 22). Es geht aber nicht nur um den Umwelt-Bezug, sondern auch um den Ich-Bezug, um die intrapersonellen Voraussetzungen (Sauerbeck 1996). Fragen nach dem Wollen, Streben, Wünschen, Hoffen (Rudolph, 2007) im Kontext der Berufswahl stehen hier im Vordergrund. Berufswahlmotive erscheinen in diesem Sinne plausibel zur Beantwortung der Frage, warum z. B. ein Lehrer Lehrer wird, oder vorsichtiger, warum jemand angibt den Lehrerberuf gewählt zu haben (Gerner 1976). Die Wahl eines bestimmten Berufes stellt einen komplexen Entscheidungsprozess dar, in dem zahlreiche Faktoren wirksam werden können:
- Individuelle Ziele und Interessen, die durch
Sozialisationsprozesse (auch in der Schule) beeinflusst sind;
- die subjektive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten;
- berufsrelevante Erfahrungen, Vorstellungen und Informationen;
- die Anforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Berufs;
- Anforderungen, Dauer und Kosten der Ausbildung;
- Arbeitsplatzangebot und –Sicherheit. (Ulich 2004: 8)
Dies sind alles wichtige Determinanten der Berufswahl, die auch als potentielle Motive bei der Entscheidung für ein Lehramtsstudium eine Rolle spielen (ebd.), sie sind jedoch in ihrer Gesamtheit zu komplex und in diesem Sinne nicht relevant für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit. Auch die berufsmotivationalen Störfaktoren, die im Lehrerberuf in einer großen Intensität und Vielzahl vorkommen (vgl. Sauerbeck 1996), sind nicht primärer Bestandteil der Untersuchung. Obwohl ihnen eine hohe Bedeutung bei der Wahl des Lehrerberufes zukommt, sind nur bestimmte, im folgenden Abschnitt erklärte Motive und Störfaktoren bei der vorliegenden Betrachtung von Bedeutung. Es ist die Wahl des Samples, die die Fragestellung und somit auch den Gegenstand der Arbeit bildet. Dies soll im Folgenden erklärt werden.
1.2 Berufswahlmotivation im ethnographischen Kontext
Im Vergleich zu der Vielzahl an veröffentlichten Studien zur Motivation und Berufswahl von Lehrern bzw. Lehramtsstudenten, bildet diese Arbeit eine Ausnahme. Der ethnographische Kontext, die Betrachtung einer (kulturell) bestimmten Zielgruppe unter den Lehramtsstudenten, in diesem Fall Studenten mit türkischem Migrationshintergrund und ihrer Stellung in der Gesellschaft, steht in dieser Arbeit im Vordergrund. Ihre Berufswahlmotivation im aktuellen Kontext von Migration und Bildung, der Bildungsbenachteiligung, der Situation des Bildungssystems in Deutschland wird der Gegenstand der Untersuchung sein. Das heißt, nur diejenigen Aspekte der Berufswahlmotivation der Zielgruppe, die mit dem oben angesprochenen Kontext zu tun haben werden in dieser Arbeit betrachtet. Die Entscheidung für ein kulturell homogenes Sample aus der Population mit Migrationshintergrund wurde aus unterschiedlichen Gründen getroffen. Zum einen, erhoffe ich mir gezielte Aussagen über einen eventuellen Zusammenhang zwischen dem ethnischen Hintergrund und der Motivation für den Lehrerberuf zu treffen. Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund gehören zu der ethnischen Mehrheit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland. Sie haben deswegen in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung in der deutschen Gesellschaft und sind oft Ziel der so genannten „Ethnisierung“ (Kapitel 2.2) und leiden darunter. Die Auswirkungen dieser kulturellen Unterschiede, der Ethnisierung, und ihre eventuellen Auswirkungen auf die Berufswahlmotivation sind der Forschungsgegenstand dieser Arbeit.
1.3 Zusammenfassung
Bei der Frage nach einer Definition von Motiv und Motivation hat sich vor allem Heckhausens Ansatz als nützlich erwiesen, der die Motivation als eine Abstraktionsleistung, mit der von vielen verschiedenen Prozessen des Lebensvollzuges jeweils diejenigen Komponenten oder Teilaspekte herausgegriffen und behandelt werden, die mit der ausdauernden Zielausrichtung unseres Verhaltens zu tun haben, definiert (2006). Motivation ist demnach auch immer ein Zusammenwirken von Anreizen und Motiven (Schneider Schmalt 2000, nach Martinek 2007). Die personenseitige Verhaltensdeterminante (Motiv) wird nur dann verhaltenswirksam, wenn sie durch situative Anreize angeregt wird; die situationsseitge Verhaltensdeterminante muss auf die entsprechende Motivdisposition im Individuum treffen, um Verhalten zu bewirken (ebd.). Von den möglichen Motiven sind für diese Arbeit nur diejenigen von Bedeutung, die mit der Berufswahl und dem eventuellen Zusammenhang mit dem ethnischen Hintergrund der Probanden zu tun haben.
2 Ausländer, Migration, Migrationshintergrund – eine Einführung
Die Wanderbewegungen aus anderen Staaten nach Deutschland sowie die kulturelle und soziale Heterogenität der Zuwandererpopulation bieten ein großes Entwicklungspotenzial für die deutsche Gesellschaft (Konsortium Bildungs-berichterstattung 2005). Sie stellen jedoch auch seit langem das Bildungswesen auf allen seinen Stufen vor erhebliche Herausforderungen, die lange unterschätzt wurden und deren positives Potential nicht erkannt worden ist (z. B. kulturelle Heterogenität und Mehrsprachigkeit als Ressource für die internationalen Austauschbeziehungen im Zuge der Globalisierung) (ebd.). In Politik und Wissenschaft besteht Einvernehmen, dass dem Erziehungs-, Bildungs- und Qualifikationssystem eine Schlüsselfunktion für den langfristigen Erfolg der Gesellschaftlichen Integration von Migranten(kindern) zukommt (ebd.). Es herrscht jedoch ein Spannungsverhältnis zwischen den Integrationsbemühungen der Erziehungs-, Bildungs- und Qualifizierungsinstitutionen, ihren internen Strukturen und Handlungsbedingungen und den außerhalb der Bildungsinstitutionen liegenden Umfeldbedingungen (ebd.). Im Zuge dieser Arbeit wird dieses Spannungsverhältnis näher betrachtet. Für das Verständnis dieser Betrachtung werden Begriffe und Konstrukte im Kontext von Migration und Bildung, die von zentraler Bedeutung sind, im Folgenden erklärt und definiert.
Anschließend werden in einem geschichtlichen Überblick die theoretischen Ansätze in der Migrationsforschung, die sich in der Vergangenheit von einer Ausländerpädagogik, über die Interkulturelle Pädagogik bis zum aktuellen Trend der ressourcenorientierten Studien entwickelten, aufgearbeitet. Dies wird gemacht, da ein Verständnis der Entwicklung der Forschung auf diesem Gebiet für das eigene Forschungsvorhaben von Bedeutung ist.
2.1 Migration
Den Menschen ist es heutzutage, nicht zuletzt aufgrund der Zugänglichkeit von Verkehrsmitteln verschiedenster Art und der fortschreitenden Globalisierung, einfacher denn je, ihre ursprünglichen Lebensverhältnisse aufzugeben und ihren Lebensmittelpunkt sowohl innerhalb nationaler Grenzen als auch international zu verlagern (vgl. Dabisch 2005). Solche Wanderungen bzw. Migrationsprozesse sind ein Urphänomen der menschlichen Geschichte und haben auch in der heutigen Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Die daraus entstehenden Unterschiede und Ungleichheiten in einer Gesellschaft sind historisch gesehen nichts Neues:
Mehr noch: Sie gehören zum Menschsein dazu. Sie sind nicht nur Folge äußerer Bedingungen, sondern auch Ausdruck der Freiheit eines jeden von uns, unserer unterschiedlichen Entscheidungen und der daraus folgenden Ergebnisse. Die Herstellung völliger Gleichheit ist weder möglich noch wünschenswert. Unterschiede und Ungleichheiten machen die Vielfalt unserer Gesellschaft aus, und sie spornen zu Leistung und Anstrengung an. Wenn Ungleichheiten allerdings zu groß werden, wenn sie für den Einzelnen unüberwindlich erscheinen, oder wenn sie nicht erkennbar durch Leistung gerechtfertigt sind, dann können sie auch dazu führen, dass Menschen sich nicht mehr anstrengen; dass sie sich ausgeschlossen fühlen; dass sie das Land und die Gesellschaft, in der sie leben, nicht mehr als die ihren betrachten. (Köhler 2008, 1ff.).
Migration wird in dem Migrationsbericht der Bundesregierung als räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunktes von Personen und Personengruppen über eine sozial bedeutsame Entfernung definiert (2005). Hierbei werden zwei Formen der Migration unterschieden: die nationale und die internationale. Bei der internationalen Migration handelt es sich um die Verlagerung des Lebensmittelpunktes über die Grenzen eines Nationalstaates hinaus (ebd.). Sie bildet im Kontext der Begriffsverwendung „Migration“ in dieser Arbeit den Hauptgegenstand, da das im empirischen Teil dieser Arbeit betrachtete Sample mit seinem Migrationshintergrund Türkei in diese Kategorie fällt.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung Deutschlands verändert sich ständig aufgrund von Zu- und Abwanderungsprozessen (Konsortium Bildungs-berichterstattung 2005). Während in den amtlichen Statistiken, die diese Wanderungsprozesse dokumentieren, bis in die jüngste Vergangenheit mit einem so genannten „Ausländerkonzept“ gearbeitet wurde, wird nun mit einem „Migrationskonzept“ statistisch erhoben. Dieses neue Erhebungskonzept bietet im Vergleich zu dem Ausländerkonzept eine bessere Darstellung des Charakters und der Größenordnung der mit der Ab- und Zuwanderung verbundenen Aufgaben für Bildungspolitik und pädagogische Praxis (ebd.). Nun können die verschiedenen Facetten der Migration, ihre Rahmenbedingungen und Auswirkungen auf die Gesellschaft besser sichtbar gemacht und erforscht werden. Somit liegen nach diesem Konzeptwechsel erstmals repräsentative Daten zu folgenden Merkmalen vor:
- Geburtsort in Deutschland oder außerhalb,
- Zuzugsjahr,
- Staatsangehörigkeit, Einbürgerung, (ebenfalls Angaben über Eltern und Großeltern)
- Individuelle oder familiäre Migrationserfahrung (1. oder 2.
Generation)
(Konsortium Bildungsberichterstattung 2005: 139)
Diese Entwicklung ist vor allem ein Ergebnis der IGLU und PISA Studien, die u. a. diese Unterscheidungen der Migrationstypen vornehmen um genauere Angaben über die Performanz von Bildungssystemen zu machen. Die folgende Abbildung zeigt die Verteilung und Struktur der Bevölkerung 2005 nach Migrationshintergrund und Migrationstypen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Definition und Struktur der Bevölkerung 2005 nach Migrationshintergrund und Migrationstypen (Konsortium Bildungsberichterstattung 2005: 140)
Der Begriff Menschen mit Migrationshintergrund, mit dem hier vorwiegend gearbeitet wird, macht einerseits auf die verschiedenen Hintergründe aufmerksam und berücksichtigt diese (selbst migriert, Nachkommen, Folgegeneration, nur ein Elternteil hat einen Migrationshintergrund etc.), andererseits vereint er all diese verschiedenen Typen in sich und erleichtert den Umgang mit dieser Thematik.
Wenn man sich mit Themen wie Migration und Integration befasst, ist eine Auseinandersetzung mit der Bildungssituation der Menschen mit Migrationshintergrund unumgänglich. Bildung ist der Schlüssel für den Aufbau einer Existenz und einer erfolgreichen Integration. Ihr, bzw. der Bildungsbenachteiligung, widmet sich in dieser Arbeit eine Analyse des deutschen Bildungssystems unter besonderer Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Kapitel 3.
2.2 Kommunikationsmechanismus „Ethnisierung“
Jedoch auch über die Grenzen von Bildung und Schule hinweg fällt es nicht schwer die besondere Situation der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund – besonders die der türkischstämmigen – wahrzunehmen. Unter der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund bilden sie die ethnische Mehrheit und werden als am „problematischsten etikettiert“ (Apitzsch 2002, nach Riedi Haab 2007). Als Vertreter der ethnischen Mehrheit der Migranten der ersten und der Folgegenerationen leiden sie besonders unter dem „Negativbild vom „Ausländer“, „Asylanten“ oder „Fremden“ ..., der entweder der (pädagogischen) Hilfe bedarf oder als Problem (Kostenträger, arbeitslos, ungebildet, ohne Schul- und Berufsabschluss) und Gefahr (kriminell, Islamismus) definiert und stigmatisiert wird“ (Griese 2007, 7f.). Das öffentliche Bild vom Fremden in unserer Gesellschaft ist nach wie vor von dieser Infantilisierung und negativen Stereotypisierung geprägt „und wird jederzeit politisch-ideologisch (z.B. in Wahlkämpfen) aktualisiert (werden)“ (ebd.: 8). Dass dies noch immer Aktualität hat, zeigte der Wahlkampf des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Jahre 2007, mit dem Hauptwahlkampfthema der Bekämpfung der Jugendkriminalität unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Oft werden bei solchen Maßnahmen die Massenmedien instrumentalisiert und nehmen damit einen negativen Einfluss auf die Integration. In seinem Beitrag „Normalisierung der Differenz oder Ethnisierung der sozialen Beziehungen?“ untersucht Butterwegge (2007) die Wirkung und den Einfluss der Medien auf die Ethnisierung. Hierbei identifiziert er die Massenmedien als die Vorantreiber des Ausgrenzungsprozesses. Ihren Einfluss als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung beschreibt Buttwerwegge wie folgt: die „Massenmedien [fungieren] als Bindeglieder zwischen institutionellem (strukturellem/staatlichem), intellektuellem (pseudowissenschaftlichem) und individuellem bzw.
Alltagsrassismus“ (Butterwegge 2007: 72). Auch Bukow kommt zu einem ähnlichen Ergebnis:
In Deutschland leistet man sich seit fast fünfzig Jahren eine schier uferlose „Ausländer“-Diskussion. Kein anderes Thema hat so lange, so breit und so nachhaltig den öffentlichen Diskurs geprägt. Und kein anderes Thema wurde in der Politik so häufig beschworen, so ubiquitär instrumentalisiert und von den Verwaltungen so kreativ gouvernementalisiert wie dieses.
(Bukow 2007: 29)
Bei einer Betrachtung dieses öffentlichen Bildes vom Fremden in unserer Gesellschaft ist es nicht verwunderlich, dass sich nach einer von der ZEIT in Auftrag gegebenen Umfrage, jeder zweite Deutschtürke in Deutschland „unerwünscht“ fühlt (Lau 2008).
Der Umgang mit der kulturellen Heterogenität in unserer Gesellschaft ist von verschiedenen Kommunikationsmechanismen geprägt, vor allem durch das Ethnisierungsverfahren nach Bukow (1996) (vgl. Badawia 2003). Ethnisierung wird als Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu bestimmten Bevölkerungsgruppen und die Reduktion eines Menschen auf diese Eigenschaften verstanden (Badawia 2003, vgl. auch Groenemeyer Mansel 2003). Sie erfüllt in diesem Zusammenhang verschiedene – rekonstruktive, konstruktive und operative – Funktionen, kreiert jedoch auch ein gewisses Konflikt- und Diskriminierungspotential (ebd.). Insbesondere Bevölkerungsgruppen mit erkennbar „anderen“ ethnischen Zugehörigkeiten (Menschen mit türkischem Migrationshintergrund etwa) geraten in „[...] eine(m) besonderen Ausmaß in prekäre Anerkennungsverhältnisse bzw. Ausschließungsdruck“ (Badawia, nach Heitmeyer et. al. 2003). Ethnisierung als Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu bestimmten Bevölkerungsgruppen und die Reduktion eines Menschen auf diese Eigenschaften wird auch auf andere ethnische Gruppen angewandt. In dieser Arbeit wurden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in den Vordergrund gestellt, um so deutlich wie möglich den Prozess der Ethnisierung und dessen eventuellen Einfluss auf die Motivation zur Wahl des Lehrerberufes der Probanden aufzuzeigen. Es wurde aber ebenfalls damit gerechnet, durch eine Fokussierung auf Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, leichter genügend Probanden mit einem homogenen kulturellen Hintergrund zu finden, die ebenfalls ähnliche Erfahrungen gesammelt haben.
Doch wie geht die Wissenschaft mit diesem Thema um? Dieser Frage soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.
2.3 Wissenschaftlicher Diskurs zu Migration, Integration und Bildung
Der wissenschaftliche Diskurs in der Migrations- und Bildungsforschung kann als sehr umfangreich bezeichnet werden. Er erstreckt sich auf verschiedenste Disziplinen: Sozialwissenschaften, Ethnologie, Kulturwissenschaften, Psychologie, Anthropologie, pädagogische und Bildungsstudien – und kann auf eine sehr schwierige geschichtliche Entwicklung zurückblicken. Leider gibt es vergleichsweise sehr wenige Studien die sich mit Bildung im Kontext von Migration befassen. Zu den ersten gehören die PISA und IGLU Bildungsstudien. Die gegenwärtige Debatte reicht hier von Defizit- und assimilativ geprägten Ansätzen, über Forderungen nach der Bekämpfung der institutionellen Diskriminierung (Radtke 2003) bis zu „konstruktiven“, ressourcenorientierten Studien (vgl. Hamburger 2005), die an Positivbeispielen versuchen aufzuzeigen, wie eine erfolgreiche Integration gelingen kann. Hierbei rückt vor allem die Bedeutung von Bildung in den Vordergrund. Im Folgenden wird nun ein geschichtlicher Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs in der Migrationsforschung gegeben.
Während die ersten dreißig Jahre nach der gezielten Anwerbung von Gastarbeitern in die BRD (in den sechziger Jahren) überwiegend von einer Nichtbeachtung der Integrations- bzw. Migrationsproblematik und deren Erforschung gekennzeichnet waren, haben sich das Interesse der Wissenschaft sowie deren Forschungsinhalte mittlerweile der Migrationsrealität gestellt. In seinem Abriss über die geschichtliche Entwicklung der Migrationsforschung, fasst Griese die relevanten Publikationen und Stichworte wie folgt zusammen:
- Ansätze zu einer makrotheoretisch-gesellschaftkritischen „politischen Ökonomie der Gastarbeiterfrage“ (vgl. Das Argument 1971, Schwarzbuch 1972, Nikolinakos 1973) sowie eine erster pädagogisch pragmatischer Blick auf „Ausländerkinder in deutschen Schulen“ (Koch 1970);
- „ Anwerbestopp “ im November 1973 – erste „ausländerpolitische“ Maßnahme, die unbeabsichtigt, aber folgewirksam, Deutschland faktisch zum „ Einwanderungsland“ gemacht hat (durch daraufhin erfolgte Familienzusammenführungen);
- Erste empirische Studien und daran orientierte Theoriebildung zur Sozialisation, Akkulturation und Identitätsbildung der „ Zweiten Generation “ (Schrader/ Nikles/ Griese 1976) und parallel dazu pädagogische Analysen zur Integrations-, Schul- und Sprachproblematik (Hohmann 1976) – Aufkommen einer „ Ausländerpädagogik “;
- „ Memorandum “ des ersten „Ausländerbeauftragten“ (Kühn 1979) – Anlass zu einer ersten politischen „ Integrationsdebatte “ vor über 25 (!) Jahren;
- Zunehmende ideologiekritische Diskussionen über den „ gläsernen Fremden “ und die Problem- und Defizitfixierung einer „Sonderpädagogik für Ausländer“ (Griese 1984, Niekrawitz
1990) – Phase der „ Kritik der Ausländerpädagogik “;
- Seit Anfang der 80er Jahre zeigen sich Konturen einer „ Interkulturellen Pädagogik “ in einer nunmehr als „ multikulturell “ bezeichneten Gesellschaft – die pädagogisch-sozialwissenschaftliche Reaktion auf die „Kritik der Ausländerpädagogik“;
- Allmähliche Etablierung einer „Interkulturellen Pädagogik“ in der „multikulturellen Gesellschaft“ (Essinger/ Ucar 1984 sowie Borelli 1986) – ohne „Inter-Multi-Kulti“ geht nun nichts mehr;
- Ausdifferenzierung der „Interkulturellen Pädagogik“ in Erziehung, Lernen, Bildung sowie Kindergarten, Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung (Schneider/ Wohlfahrt 1990) sowie theoretische Ankopplung an die traditionelle Rassismus-, Friedens- und (Anti-) Diskriminierungsdiskussionen – dadurch entstehen einer neuen „ Unübersichtlichkeit “ in der „Interkulturellen Pädagogik“;
- Erste kritische Anmerkungen zur „Interkulturellen Pädagogik“ Ende der 80er Jahre (Griese 1989, Radtke 1990)
- Aufkommen einer „ Kritik der Interkulturellen Pädagogik “ in den 90er Jahren (Radtke 1992, Schweitzer 1994, Hamburger 1995, Griese 2000) – Vorwurf des Kulturalismus, der Ethnisierung der Thematik bis hin zum (latenten) Rassismusverdacht;
- Ansätze zur Modifikation, Ausdifferenzierung und Überwindung der Probleme der „Interkulturellen Pädagogik“ („ Interkulturelle Öffnung “, „ Interkulturelle Kompetenz “, „ Institutionelle Diskriminierung “ etc.) um die Jahrhundertwende (vgl. exemplarisch Gomolla/ Radtke 2002, Auernheimer 2002);
- Mehrere einschlägige empirische und theoretische Studien (zu „ Transkulturalität “, „ Hybride Identität “, „ Third Culture Kids “, „ Hyperkulturalität “, „ Der Dritte Stuhl “ usw.), die zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine Art „Paradigmenwechsel“ einleiten (vgl. Badawia 2002, Pollock/ Van Reken/ Pflüger 2003, Bolscho, Hauenschild/ Wulfmeyer 2005, Han 2005, Datta 2005 oder zusammenfassend dazu Griese 200a)
(Griese 2007, 5 ff.)
Der gesellschaftliche Hintergrund dieses anfänglich stagnierten Forschungsweges kann dadurch erklärt werden, dass die Einwanderung in die Bundesrepublik die Gesellschaft überrascht hat (vgl. Bukow Heimel 2003, 14 ff.). Die erste Phase, die Gastarbeiterphase, sah den Einwanderer als zeitlich befristeten Gast an. Die Situation der Gastarbeiter war zwar durch und durch schwierig, jedoch dadurch, dass man den zeitlich befristeten Arbeitnehmer mit dem Begriff des Gastes belegt hatte, und nicht vor hatte ihn zu behalten und einzugliedern, wurde ein Provisorium hierfür als angemessen betrachtet (Bukow Heimel 2003).
Nach der Weltwirtschaftskrise 1971 wurde ein Anwerbestopp erlassen um die Phase der Gastarbeiter zu beenden; der faktisch aber die bis dahin stattgefundene Einwanderung verstetigte (ebd.). In der „Öffentlichkeit“ wurde aus dem Gastarbeiter der „Ausländer“; jemand, der im Prinzip nicht dazugehört (ebd.). Bestenfalls wurde dem Ausländer ein Moratorium gestattet, bis er sich entscheidet ob er zurückkehrt oder Deutscher wird und sich „assimiliert“ (ebd.). So wie es bereits der Begriff Ausländer markiert, wurde Integration mit Assimilation gleichgesetzt.
Ende der 70-er Jahre verschlechterte sich die Lage der Einwanderer erneut. Es wurde zunehmend vom Fremden gesprochen (Migrationsforschung der 80-er), der aufgrund seiner Fremdheit schwer zu integrieren sei (vgl. Bukow Heimel, 2003). Die öffentliche Debatte konzentrierte sich immer mehr auf die Fremdheit der allochthonen Bevölkerung und entdeckte allmählich deren Ethnizität (ebd.). Es entstehen Studien darüber, warum der Fremde von Natur aus Schwierigkeiten hat sich zu integrieren. Zu dieser Zeit schwenkt die Aufmerksamkeit von den Italienern und Griechen zu den Türken um (ebd.).
Angesichts der Tatsache, dass die allochthone Bevölkerungsgruppe zunehmend ins Abseits gedrängt wird, entsteht ein erheblicher Erklärungsbedarf. Der dadurch befriedigt wird, dass man die zunehmenden Probleme mit den Minderheiten verrechnet. So verweist man beim Italiener auf den Machismo. Bei den Griechen betont man deren mangelnde emotionale Orientierung, bei dem Spanier ist es die fehlende Bereitschaft, sich von der Herkunftsgesellschaft zu trennen und bei dem Türken ist es alles zusammen plus eine fremde religiöse Orientierung. Gleichzeitig wird das erste Mal an dieser Sicht der Dinge massive Kritik laut.
(Bukow Heimel, 2003, 16)
Die 90-er Jahre sind durch fremdenfeindliche Aggressionen gezeichnet, die zu einem Teil von den türkischen Einwanderern weg und auf die „Asylanten“ gelenkt sind (ebd.). Die rassistische Gewalt pendelt sich auf einem relativ hohen Intensitätsniveau ein und erst die erschrockenen Reaktionen weiter Kreise der autochthonen Bevölkerung und die internationale Kritik wirken dämpfend (ebd.). Nachdem die gewalttätigen Ausschreitungen abnehmen tritt an deren Stelle ein veralltäglichter Rassismus, der sich zunehmend gegen alle Allochthonen zu richten scheint (ebd.). „Konservative Politiker warnen davor, dass die Stadtquartiere zu türkischen Quartieren verkommen und man sich in der eigenen Stadt nicht mehr auskennt. Und wieder zieht die Wissenschaft nach“ (Bukow Heimel 2003: 18 f.). Sie geriet in den Sog der populistischen Politik und konzentriert sich bis in die Gegenwart noch einseitig auf Konflikte zwischen den Deutschen und den Türken, auf Abweichen und Kriminalität der Einwanderer, auf Schulversagen und autoritäre Erziehungsstile (ebd.).
Ende der 90-er zeichnen sich Änderungen auf zwei Ebenen ab: erstens rücken an Stelle der türkischen Bevölkerung immer mehr die „Russlanddeutschen“ als die skandalisierte Bevölkerungsgruppe in Erscheinung, und zweitens wirkt sich die Globalisierung langsam aus, so dass provinzielle Skandalisierungsversuche angesichts der Weltrisikogesellschaft an Überzeugungskraft verlieren (Bukow Heimel 2003). Endlich beginnt man auf die Einwanderung zu reagieren und gibt sowohl politisch als auch wissenschaftlich anderen Richtungen deutlich mehr Raum zu geben (ebd.). „Man beginnt nach zehn verlorenen Jahren die Einwanderung endlich zu institutionalisieren und sich erstmals sogar den aktuellen Trends zu stellen ... Zugleich gewinnt die kritische und distanzierte Forschung weiter an Gewicht“ (Bukow Heimel, 2003: 18).
Um den geschichtlichen Verlauf besser nachvollziehen zu können, entwerfen Bukow Heimel (2003: 19) die folgende Übersicht, die die einzelnen Stufen der Entwicklungen des wissenschaftlichen Diskurses in der Migrationsforschung verdeutlicht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Überblick der geschichtlichen Entwicklung der Migrationsforschung (Bukow Heimel 2003: 19)
Zusammenfassend kann der Diskurs in der Migrations- und Bildungsforschung bis zur Jahrtausendwende als überwiegend problem- und defizitfixiert beschrieben werden (ebd.). Bei diesen Studien lag der durchaus „pädagogisch-karitativ helfende Blick“ auf den Defiziten und Problemen der Kinder mit Migrationshintergrund (Griese 2007: 7).
Bei einer Untersuchung zu der thematischen Ausrichtung der qualitativen Migrationsforschung ordneten und verglichen Bukow Heimel (2003) 166 Studien nach ihren Themengebieten und thematischen Ausrichtungen. Hierbei stellte Bukow fest, dass die thematische Ausrichtung der qualitativen Forschung sehr heterogen ist, und dass sich eine Kategorisierung dieser ebenfalls als schwierig darstellt (vor allem weil sich die Themen und Themenbereiche innerhalb eines Projektes oft überschneiden). Bei einer gezielten Betrachtung nach der quantitativen Verteilung aller Studien der Migrationsforschung in bestimmte Themenbereiche ist auffällig, dass sich fast ein Viertel der Studien mit Kindern, Jugendlichen und Familien befasst, wobei sich hier besonders Studien finden die z. B. die Armut von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, deren Identitätsentwürfe, oder auch die spezielle Situation von Kinderflüchtlingen aufgreifen (Bukow Heimel, 2003). Das folgende Schaubild zeigt eine Kategorisierung nach 11 verschiedenen Themengebieten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Thematische Ausrichtung in der qualitativen Migrationsforschung (Bukow Heimel 2003: 22)
Auffallend bei diesem Schaubild ist auch, dass sich im Gegensatz zu den drei führenden Themenbereichen (Kinder, Jugendliche und Familie, Identität und Integration, und Arbeit und Arbeitsmigration) nur 3% der Studien explizit mit Bildung und Schulerfolg befassen, was, aufgrund der aktuellen Diskussion um Bildungsbenachteiligung und der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem bemerkenswert ist.
2.4 Aktuelle Tendenzen und Einordnung des hiesigen Forschungsprojektes
Bis in die jüngste Vergangenheit haben sich die Themen und Inhalte der theoretischen Konzepte und empirischen Studien zur Migrationsforschung in den Sozial- und Erziehungswissenschaften überwiegend den Defiziten und Problemen der Menschen mit Migrationshintergrund zugewandt. In diesen Fachbeiträgen wurden die Sozialisationsprozesse und Sozialisationsbedingungen von Migranten als problematisch dargestellt, und ein starker Fokus (vermutlich aufgrund der negativen Medienpräsenz dieser Population) liegt auf der Kriminalität (Riedi Haab 2007). In Deutschland sind jedoch in den letzten Jahren vermehrt Studien veröffentlicht worden, die entgegen der überwiegend problematisierenden Defizit-und Konfliktorientierung in der politischen, öffentlichen und medialen Diskussion, gelungene Lebensentwürfe junger Migranten in den Vordergrund stellen (Athemeliotis Griese 2007: 14). Dieser erfreuliche Paradigmenwechsel weist Tendenzen zu einem theoretischen Umdenken, einem Perspektivwechsel in dem Herangehen an das Thema Migration und Integration – zumindest im Bereich der Sozial- und Erziehungswissenschaften (Griese 2007). Diesen Paradigmenwechsel bezeichnen Bukow und Heimel als „konstruktivistischen Trend“ und stellen fest:
Der Konstruktivismus avanciert hier als imperativ geprägter Ansatz zur Antithese gegenüber dem überkommenen normativ geprägten Defizitansatz, nach dem Differenz nur als Defizit, ja als Devianz und Integration nur als prolongierte Assimilation denkbar ist (2003: 26).
Auch diese Arbeit soll im Ansatz eine ressourcenorietierte Vorgehensweise, wie sie Griese et al. (2007) beschreiben, verfolgen. Dies wird dadurch geleistet, dass bildungserfolgreiche Menschen mit Migrationshintergrund im Vordergrund stehen. Ziel ist es sich mit Hilfe dieser Positivbeispiele an die Betrachtung des Problems der Bildungsbenachteiligung anzunähern, und die Sichtweisen, Erfahrungen und Ziele von zukünftigen Lehrern mit Migrationshintergrund zu erfahren. Lehrer mit Migrationshintergrund sind in Deutschland sehr selten, sie sind Exoten (vgl. Fidaoui 2007). Nicht zuletzt wegen der Bildungsbenachteiligung ist es interessant zu sehen was sie als Menschen mit Migrationshintergrund, die ein Positivbeispiel darstellen, für Einstellungen haben. Was treibt diese jungen Menschen dazu an, den
Lehrerberuf zu ergreifen? Wie sehen sie das Problem der Bildungsbenachteiligung, wie gehen sie mit ihrer kulturellen Differenz um, und den eventuellen Reaktionen von Anderen auf diese Differenz?
3 Bildungsbenachteiligung, Migration, und PISA-Schock: Mängel des deutschen Bildungssystems
Wenn ein Kind türkische Eltern hat, wenn seine Mutter oder sein Vater erwerbslos ist oder wenn seine Familie mit wenigen finanziellen Mitteln auskommen muss und in einem so genannten Ausländerghetto wohnt, muss sich das Kind mit Migrationshintergrund im Vergleich zu seinen deutschen Klassenkameraden, dessen Eltern der sozialen Mittelschicht angehören, um ein Zehnfaches mehr anstrengen, den Übergang ins Gymnasium zu schaffen.“ (Pommerin-Götze 2005: 147)
Bildung als Menschenrecht ist eine Grundvoraussetzung zum erfolgreichen Funktionieren einer Gesellschaft. Sie trägt zur gelungenen Integration bei und ermöglicht eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund ist die Bildung und allem voran die Beherrschung der deutschen Sprache der Schlüssel zum Aufbau einer erfolgreichen Existenz in Deutschland. In seinen Reden „Bildung für alle“ (2006) und „Arbeit, Bildung, Integration“ (2007) beklagt Bundespräsident Köhler die Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland als beschämend. Er formuliert das Ziel der „Bildung für alle“ und hebt die Bedeutung der Bildung mit den folgenden Worten hervor: „Gute Bildung ist und bleibt für den Einzelnen auch die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung und berufliches Fortkommen“ (Köhler 2006: 3). Die statistischen Angaben, die er zur Unterstützung dieser Feststellung nennt, sind eindeutig und, vor allem nach den Internationalen Vergleichsstudien der OECD Länder, bekannt.
Die Bildungsungerechtigkeit ist nach den skandalösen Ergebnissen der aktuellen PISA und IGLU Studie wieder ein vielfach diskutiertes Thema in Politik und Gesellschaft. Die Ergebnisse von PISA 2000, 2003, 2006 und IGLU 2007 haben gezeigt, dass es in Deutschland eine Bildungsbenachteiligung gibt, unter der Schüler mit schwachen sozioökonomischen Hintergrund und Schüler mit Migrationshintergrund leiden. Schüler aus dieser „Risikogruppe“ laufen in unserem Bildungssystem Gefahr benachteiligt und nachhaltig stigmatisiert zu werden. Die Selektionsmechanismen des dreigliedrigen Schulsystems, die nach dem vierten Schuljahr, dem Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, greifen, nehmen den Kindern den Mut und stempeln sie zu Bürgern zweiter Klasse ab. Im Folgenden werden die Ergebnisse der einzelnen Bildungsvergleichsstudien, die uns mit den Mängeln des deutschen Bildungssystems konfrontieren, näher analysiert.
PISA I-III
PISA, oder das Programme for International Student Assessment, ist eine von der OECD durchgeführte internationale Bildungsvergleichstudie. Sie liefert Daten über die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen anhand der Untersuchung der „literacy skills“ von Fünfzehnjährigen in verschiedenen – immer wechselnden – Bereichen (Lesen und Sprachfähigkeiten, Mathematik, Naturwissenschaften).
Die Ergebnisse der ersten PISA Studie im Jahr 2000 haben damals auf eine schockierende Weise deutlich gemacht, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich kaum über geeignete Lesestrategien und Techniken verfügen (Pommerin-Götze 2005: 144). Vor allem in der anspruchsvollsten Disziplin „Reflektieren und Bewerten“, eine der wichtigsten Kompetenzen im Lesen, wiesen die Schüler erhebliche Schwächen auf (ebd.). Als Konsequenz für dieses schlechte Abschneiden wurde vor allem ein „didaktisches Konzept des Lesens als kulturelle Praxis“ gefordert (Hurrelmann 2002, nach Pommerin-Götze 2005). Das PISA Konsortium stellte damals im Blick auf Schüler mit Migrationshintergrund fest:
Weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz als solche sind primär für Disparitäten der Bildungsbeteiligung verantwortlich; von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem dem jeweiligen Bildungsgang angemessenen Niveau. Für Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere. (PISA Konsortium 2001, nach Pommerin-Götze 2005: 149)
Diese Erkenntnis wurde mit der Annahme begründet, dass jedes systematische Lernen, jede Wissenskonstruktion und jeglicher Erfahrungsgewinn sprachbasiert seien (ebd.). Damit wurde deutlich gemacht, dass sprachliche Defizite der Schüler mit Migrationshintergrund nicht durch andere Kompetenzen kompensiert werden können, und dass diese eine entscheidende Hürde in der Bildungskarriere darstellen (ebd.). Obwohl die Studie eine große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit auslöste, gab es aus der Politik wenige Verbesserungsvorschläge.
Die Besonderheit der PISA Studie 2000 bestand darin, dass sie die erste Studie ihrer Art war und damit auch mit ihren negativen Ergebnissen zum ersten Mal auf eine drastische Art und Weise die Wissenschaft, Politik und die Gesellschaft auf die Schwächen des deutschen Schulsystems aufmerksam machte. Die Folgestudie im Jahre 2003, bei der naturwissenschaftliche Fächer sowie Mathematik im Vordergrund standen, attestierte Deutschland zwar bessere Ergebnisse, jedoch blieben die Leseleistungen auf ähnlicher Position.
Als geradezu alarmierend erscheinen dem PISA-Konsortium nach wie vor die Leseleistungen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund: „Besonders alarmierend ist, dass über 50 Prozent der Jugendlichen türkischer Herkunft, obwohl sie in Deutschland geboren sind, nur marginale Kompetenzen erreichen, die nicht über die Stufe 1 hinausgehen. Die Verteilung auf die Kompetenzstufen sieht für zugewanderte Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion zwar günstiger aus, aber über 30 Prozent von ihnen erreichen ebenfalls nur maximal die erste Kompetenzstufe [...] (PISA-Konsortium Deutschland 2004, nach Pommerin-Götze 2005: 144).
Um ein Beispiel zu nennen, welches dieses schlechte Abschneiden näher verdeutlicht, lag die durchschnittliche mathematische Kompetenz der Jugendlichen türkischer Herkunft mit 411 Punkten mehr als zwei Schuljahre hinter dem Gesamtdurchschnitt – welcher bei 503 Punkten liegt; 38 Punkte entsprechen einem Schuljahr (PISA-Konsortium Deutschland: 2004).
Als Fazit sah das PISA-Konsortium auch nach der zweiten PISA Studie keine Entwarnung für die Risikogruppe Jugendliche mit Migrationshintergrund vor:
Das Ergebnis zeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die zwar in Deutschland geboren sind, deutlich ungünstigere Voraussetzungen für eine nachfolgende Ausbildung und erfolgreiche Berufslaufbahn haben als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Dies weist auf denkbar schlechte Voraussetzungen für die Integration in die Gesellschaft hin. Die Verbesserung ihrer Lage, so sein impliziter Auftrag an alle, die sich für Bildung und Erziehung für sozial Benachteiligte Kinder und Jugendliche engagieren, stellt eine wichtige Herausforderung für die Zukunft dar“ (PISA-Konsortium Deutschland 2004: 265).
Dennoch blieben politische Schlussfolgerungen zur Behebung der Probleme im Bildungsbereich aus:
PISA I und II haben übereinstimmend gezeigt, dass ihre Bildungsbenachteiligung [die der Schüler mit
Migrationshintergrund] deutlich ausgeprägt ist und ihr relativer Schulmisserfolg über einen längeren Zeitraum hinweg stabil bleibt. Die Schulbesuchs- und Abschlussstatistiken der Kultusministerkonferenz haben diese Befunde schon seit 30 Jahren dokumentiert; eine ernsthafte politisch-öffentliche Reaktion ist, von Ausnahmen abgesehen, ausgeblieben (Hamburger 2005: 7). Die aktuellste PISA Studie 2006 ergab erneut einen Anstieg der Kompetenzen der Schüler, zeigte jedoch auf der anderen Seite, dass die soziale Herkunft eines Kindes in Deutschland nach wie vor über seinen Bildungserfolg entscheidet (Valtin 2008). Sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Leseleistungen konnte zwar ein leichter Anstieg verzeichnet werden (PISA 2006), jedoch gehört Deutschland immer noch zu den Ländern, in denen die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler zu hoch ist (ebd.). Um es mit den Worten von Valtin (2008: 11) auszudrücken, haben „Kinder aus der oberen Dienstklasse [haben] eine fast 5-mal höhere Chance als Kinder un- und angelernter Arbeiter, eine Gymnasialempfehlung von ihren Grundschullehrern und -lehrerinnen zu erhalten“ – und das bei gleichen Kompetenzwerten.“ Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer vierfachen Benachteiligung die im internationalen Vergleich einmalig ist:
Die primäre Benachteiligung für Kinder aus bildungsfernen Milieus bestehe darin, dass sie schlechtere Voraussetzungen mitbringen und weniger Unterstützung im Elternhaus erfahren.
Eine sekundäre und tertiäre Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten finde an einer wichtigen Gelenkstelle statt: dem Übergang in weiterführende Schulen, der in Deutschland recht früh durch die Grundschulempfehlungen erfolgt. IGLU 2006 zeige: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern erhalten von ihren Lehrern und Eltern erst bei deutlich höheren Leistungswerten eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Die Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialpräferenz ist bei Eltern aus der oberen Dienstklasse bei gleichen Lesekompetenzen und kognitiven Grundfähigkeiten des Kindes 9-mal höher als bei un- und angelernten Arbeitern und fast 6-mal höher als bei Facharbeitereltern. Für die Einschätzung der Lehrer gilt: Kinder aus der oberen Dienstklasse haben eine fast 5-mal höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung von ihren Grundschullehrern und - lehrerinnen zu erhalten. Dieser Befund ist 2006 noch deutlicher als 2001 sichtbar.
Die vierte Benachteiligung, der Schüler in Deutschland ausgesetzt sind, ist im internationalen Vergleich fast einmalig: Die frühe Aufteilung in hierarchisch gegliederte Schulformen und die damit einhergehenden schulischen Auslesemechanismen fördern die soziale Segregation der Heranwachsenden. In Schulen mit hohen Anteilen ebenfalls benachteiligter Schülerinnen und Schüler leisten diese weniger, als man aufgrund ihrer individuellen Lernvoraussetzungen erwarten könnte.
(Valtin 2008: 12)
Die von Valtin vorgenommene Einteilung in vier Arten der Benachteiligung bezieht sich auf Schüler mit schwachem sozioökonomischem Hintergrund und berücksichtigt Schüler mit Migrationshintergrund nicht explizit. Für Schüler mit Migrationshintergrund, die nach PISA 2003 meist von der doppelten Marginalisierung in ökonomischer wie auch politischer Hinsicht betroffen sind (Yildiz 2006), kommt hingegen noch ein weiterer Faktor der Benachteiligung hinzu, der besonders durch die IGLU Studie 2006 deutlich wurde: die ungleiche Leistungsbewertung durch die Lehrerschaft in Grundschulen (vgl. Radtke 2003, IGLU 2006, Konsortium Bildungsberichterstattung 2005, Gomolla Radtke, 2007).
Obwohl seit der ersten PISA Studie mehr als sieben Jahre vergangen sind, gab und gibt es auch nach der aktuellsten Bestätigung des Problems der Bildungsbenachteiligung keine angemessene Reaktion auf Seiten der Bildungspolitik. Dieses Unvermögen auf veränderte Bildungsanforderungen angemessen zu antworten und die Sicherstellung der Partizipation von Schülern mit Migrationshintergrund zu gewährleisten, kritisiert Hamburger (2005) wie folgt:
PISA I und II haben übereinstimmend gezeigt, dass ihre Bildungsbenachteiligung deutlich ausgeprägt ist und ihr relativer Schulmisserfolg über einen längeren Zeitraum hinweg stabil bleibt. Die Schulbesuchs- und Abschlussstatistiken der Kultusministerkonferenz haben diese Befunde schon seit 30 Jahren dokumentiert; eine ernsthafte politisch-öffentliche Reaktion ist, von Ausnahmen abgesehen, ausgeblieben (Hamburger 2005: 252).
Obwohl diese Kritik sich auf die ersten beiden PISA Studien bezieht und lange vor der Veröffentlichung der PISA Studie 2006 geäußert wurde, hat sie an Aktualität nicht verloren. Das Problem der Bildungsbenachteiligung, welches schon die Vorgängerstudien aufdeckten, ist mit der aktuellsten Bildungsvergleichsstudie wieder bestätigt worden. Somit schwebt im deutschen Bildungssystem der dunkle Schatten der Bildungsbenachteiligung noch immer über sozial schwache und Schüler mit Migrationshintergrund. In keinem anderen europäischen Land ist es für diese Schülergruppe so schwer einen erfolgreichen Bildungsweg zu gehen wie in Deutschland.
3.1 Institutionelle Manifestierung des Problems der Bildungs-benachteiligung
Das deutsche Schulsystem mit seiner Struktur ist in Europa und weltweit einmalig. Aufgrund der sich kontinuierlich bestätigenden schlechten Ergebnisse im internationalen Vergleich zeigt sich dieses System als nicht wettbewerbsfähig und vor allem als ungerecht. Schüler mit sozial schwachem Hintergrund und Schüler mit Migrationshintergrund sind die eindeutigen Verlierer dieses Systems. Alarmierend ist die Tatsache, dass Schüler mit Migrationshintergrund an den Haupt- und Sonderschulen überdurchschnittlich hoch repräsentiert sind. In diesen Schultypen, der „Restschule“, sammeln sich bekanntermaßen die zu der „Risikogruppe“ zählenden Schüler (Pommerin-Götze 2005). In diesem Zusammenhang spricht Radtke (Radtke 2003, vgl. auch Gomolla Radtke 2007) von „Institutioneller Diskriminierung“, von „mechanisms of discrimination in primary schools“, die ihm zufolge [are] located around four respectively five main situations of decision making. There are: (1) Decisions around children’s putting into school (school maturity); (2) Decisions to put an immigrant child into a P-class; (3) Decisions of non promotion a student to the following level; (4) Transition to a special school for learning handicapped; (5) Recommendation to schools of higher education. Interviewing headmasters and teachers about the procedures around these four or five main situations of decision making, about the criteria they apply in any of these situations, leads to the justification patterns for their decisions and opens an inside into the way the institution is thinking [...] For school practitioneers it is pedagogical knowledge that has become part of a traditional common sense [...] Everybody who does not fit into the image of the “normal pupil” who can be treated within the “normal” procedures, is supposed to cause extra problems and therefore is, if even possible, rejected or excluded. (Radtke 2003: 12)
Wie wir sehen können, kommt Radtke bei seiner Suche nach den Gründen für diese Mechanismen zu dem Schluss, dass diese vor allem durch die im deutschen Schulsystem zwangsetablierte Selektion in die verschiedenen Schularten des dreigliedrigen Schulsystems zustande kommen. Diese hat ihre eigenen Selektionsmuster und Mechanismen unter denen vor allem die Schüler mit Migrationshintergrund leiden. Heterogene Schüler werden somit zum Störfaktor, da das System nur durch Homogenität gut funktioniert.
The rejection can take place without referring to gender or ethnic characteristics along legitimate educational criteria: brightness, intelligence, learning abilities, willingness, eagerness etc. Schools are blind towards ethnic or cultural differences but are disturbed and alarmed about educational heterogeneity. Ethnic discrimination can only occur as a result of the coincidence of ethnic and negative educational characteristics. For schools it has no importance as such that immigrants are ethnically/ culturally/ linguistically different. What is important is that because of their school biography immigrant’s children do not fulfil the normality expectations of the German school in terms of educational characteristics. (ebd.: 13)
Ethnische Diskriminierung tritt also als Resultat des Zusammentreffens von ethnischen und negativen Bildungsmerkmalen indirekt auf. Dieses Zusammentreffen wird auch mit Hilfe eines institutionalisierten Wissenshaushalts/ öffentlichen Diskurses, der „Kultur“ und „Mentalität“ als Unterscheidung benutzt, künstlich hergestellt (Gomolla Radtke 2007: 12). Vor allem die Überrepräsentation von Schülern mit Migrationshintergrund an Sonderschulen ist ein gewichtiges Argument, das für Radtkes Aussagen spricht. Aber auch Untersuchungen zur Einschulung bzw. Versetzung auf weiterführende Schulen von Schülern mit Migrationshintergrund (vgl. Gomolla Radtke 2007), das Ungleichgewicht der Verteilung der Schüler mit Migrationshintergrund auf die verschiedenen Schulformen, sowie Angaben über verspätete Einschulungen zeigen ähnliche Befunde, die in den folgenden Tabellen zu sehen sind:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Migrantenanteil 2000 in den Schularten der Jahrgangsstufe 9 nach Herkunftsregionen (in%) (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 152)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Anteil vorzeitiger und verspäteter Einschulungen aller Schüler an allen Einschulungsentscheidungen in Nordrhein-Westfalen 1995-2004 nach Staatsangehörigkeit (in%) (ebd.: 151)
Die Abbildung 5 zeigt den Anteil vorzeitiger und verspäteter Einschulungen aller Schüler an allen Einschulungsentscheidungen in Nordrhein-Westfalen 1995-2004 nach Staatsangehörigkeit. Hier kann man deutlich die ungleiche Verteilung der Schüler mit und ohne Migrationshintergrund erkennen. Sie werden durchschnittlich doppelt so oft verspätet eingeschult und nur halb so oft vorzeitig eingeschult wie ihre Mitschüler ohne Migrationshintergrund.
Die Bildungswege der Schüler mit Migrationshintergrund sind überproportional oft unterbrochen bzw. durch Abstufungen, Verzögerungen oder Qualifizierungen über den zweiten Bildungsweg gekennzeichnet – mit anderen Worten, ihre Bildungsbiographien sind oft gebrochen oder verlaufen nicht geradlinig, sondern scheinen vielmehr verschlungen (vgl. Karakasoglu-Aydin 2000, Schulze Soja 2006, nach Griese 2007).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Verzögerte Schullaufbahnen bei 15-Jährigen 2003 nach Ländern und Herkunftsregionen (in %) (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 153)
Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebene Bericht zu Bildung und Migration (2006) spricht in diesem Zusammenhang von schulischer Segregation:
Zu den relevanten, der bildungspolitischen Steuerung zugänglichen Kontextmerkmalen, die Effekte auf die Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besitzen können, gehört die Zusammensetzung von Lerngruppen. Diese ist im gegliederten deutschen System der Sekundarstufen eng mit Merkmalen der Schulstruktur verbunden und geht mit hoher sozialer Selektivität einher. In der Sekundarstufe I gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Schulart, der sozialen Herkunft der Schülerschaft und ihrer „ethnischen“ Zusammensetzung (hier verstanden als Migrantenanteil), der auch die erreichten Lernergebnisse mitbestimmt. Die Verteilung der Schüler mit Migrationshintergrund auf die Schularten und Einzelschulen weist auf Tendenzen der Segregation hin.
Ein hoher Migrantenanteil ist in der Regel verbunden mit einem Übergewicht von Schülerinnen und Schülern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus. Hier fallen dann verschiedene Problemlagen zusammen, ergänzen oder verstärken sich wechselseitig. Soziale Segregation und „ethnische“ Segregation sind in Deutschland eng aneinander gekoppelt und stellen eine wichtige Herausforderung für die Bildungspolitik dar. (ebd.: 161)
Hierbei wird schulische Segregation wie folgt definiert: „Schulische Segregation liegt vor, wenn Personen mit einem bestimmten Sozialstatus oder Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen und/oder Wohnbezirken dauerhaft überdurchschnittlich häufig vertreten sind“ (ebd.: 161). Schüler mit Migrationshintergrund werden also gesammelt und auf Bildungseinrichtungen in bestimmten Wohnbezirken verwiesen, um somit einer Heterogenität aus dem Wege zu gehen. In diesen Schultypen, der „Restschule“, sammeln sich bekanntermaßen die zu der „Risikogruppe“ zählenden Schüler (Pommerin-Götze 2005). Diese und weitere Befunde, wie die Ergebnisse zur prozentualen Verteilung der verzögerten Schullaufbahnen der Schülerschaft, bestätigen dass das deutsche Schulsystem nicht in der Lage ist alle Schüler in gleichem Umfang zu fördern.
Auch zur Leistungsbeurteilung legt der Bildungsbericht interessante Fakten vor. Während die Leistungsbeurteilung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund an der Sekundarstufe I noch als „im Wesentlichen leistungsadäquat“ verläuft, sieht dies in der Grundschule anders aus (vgl. Konsortium Bildungsbeurteilung 2006). Hierzu stellt der Bericht folgendes fest:
Dies scheint in der Grundschule anders zu sein. Dort sind es vor allem die Übergangsempfehlungen für weiterführende Schulen, die zu einer Benachteiligung von Migranten führen können, da sich mit der Wahl der Schulart unterschiedliche Bildungschancen verbinden. Aufgrund der deutlich migrationsspezifischen Übergangsquoten (vgl. H3) wird immer wieder vermutet, dass Grundschullehrkräfte Migranten bei ihren Empfehlungen benachteiligen. Welche Übergangsempfehlung gegeben wird, hängt nicht nur von der schulischen Leistung ab, sondern auch von der sozialen Herkunft. Selbst wenn man diese beiden Faktoren statistisch kontrolliert, ist die Chance auf eine Gymnasialempfehlung für Kinder, deren Eltern in Deutschland geboren wurden, 1,66-mal höher als für Kinder, deren Eltern beide nicht aus Deutschland stammen (Tab. H4-4A). Weiter gehende Analysen aus IGLU und anderen Studien zeigen, dass diese migrationsspezifische Benachteiligung schon in den Noten angelegt ist, die während der Grundschulzeit gegeben werden. Schüler mit Migrationshintergrund erhalten in der Grundschule bei derselben Leistung etwas schlechtere Noten als ihre Mitschüler; unterschiedliche Chancen für eine Gymnasialempfehlung sind die Folge. (ebd.: 165).
Diese Befunde sind ein Ergebnis der so genannten IGLU Studie, die sich mit den Kompetenzen und der Bildungssituation von Schülern der Grundschule, die kurz vor dem Wechsel an weiterführende Schulformen stehen, befasst. Die aktuellste IGLU Studie 2006 hat in diesem Zusammenhang ein großes öffentliches Interesse ausgelöst.
Zusammengenommen bestätigen die durch die verschiedenen Studien erhobenen Daten eindeutig, dass das Bildungssystem nicht in der Lage ist das Problem der Bildungsbenachteiligung zu lösen. Der Trend nach der ersten bis zur aktuellsten PISA Studie hat sich in diesem Punkt nicht erheblich verändert und hat somit gezeigt, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind.
Somit können auch für die Zukunft keine raschen positiven Veränderungen erwartet werden. Hier drängt sich die Frage auf, inwieweit Lehramtsstudenten mit Migrationshintergrund informiert sind, was sie erwarten, denken, fühlen. Diesen Fragen wird im empirischen Teil dieser Arbeit nachgegangen.
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