Was ist Gender? Sally Haslangers kritisch-analytischer, materialistisch-feministischer Theorieentwurf


Essay, 2021

10 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

1 Einfuhrende Betrachtungen

2 MethodischerAnsatz: die analytische Untersuchung

3 Die Definition vongender

4 Das Problem der Gemeinsamkeit und das Problem der Normativitat

5 KritischeWurdigung

Literatur

1 Einfuhrende Betrachtungen

Simone de Beauvoir wirft in ihrem BuchDas andere Geschlecht, das sich seit seiner Erst- veroffentlichung im Jahr 1951 als eines der Standardwerke der feministischen Bewegung eta- bliert hat, eine bemerkenswerte Frage auf: „Wenn die Funktion des ,Weibchens' nicht aus- reicht, um die Frau zu definieren, wenn wir es auch ablehnen, sie mit dem Ewigweiblichen zu erklaren, aber gelten lassen, daft es, zumindest vorlaufig, Frauen auf der Erde gibt, mussen wir uns wohl die Frage stellen: was ist eine Frau?" (de Beauvoir 2020: 11). Ein halbes Jahr- hundert spater greift die US-Philosophin Sally Haslanger diese Fragestellung in ihrem Beitrag zur Debatte ubergender1 undrace auf; inGender and Race: (What) Are They? (What) Do We Want Them To Be? reformuliert und erweitert sie die Frage folgendermaRen: „Was istgender?" (Haslanger 2021a: 66, Herv. i. Org.) bzw. „Was heiRt es, ein Mann oder eine Frau zu sein?" (ebd.). Zur Beantwortung dieser Fragen arbeitet sie in ihrem Text einen durch eine ma- terialistisch-feministische Erkenntnistheorie informierten kritisch-analytischen Theorieent­wurf aus, innerhalb dessengender undrace2 als sozial konstruierte Ordnungs- und Struktu- rierungskategorien zu verstehen sind. In Haslangers Theorievorschlag istgender relational definiert: Die Gruppe der Frauen und die Gruppe Mannern stellen zwei gender-Kategorien dar, die sich vor dem Hintergrund eines bestimmten (ideologisch gepragten) Gesellschafts- kontextes durch ihre Positionierung zueinander in einem sozialen Klassensystem definieren lassen, in dem die soziale Klasse der Manner derjenigen der Frauen (entlang bestimmter sozialer Dimensionen) ubergeordnet ist. Diese binare Hierarchie, so sehr sie von Ideologien mannlicher Dominanz durchdrungen ist und so sehr die dahinterstehenden Mainstream- Annahmen, wie „Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit" (ebd.: 80), oft unhinterfragt reproduziert und so perpetuiert werden, sei nichtsdestotrotz nur „als Folge der normalen Vorgange des Alltagslebens" (ebd.) aufzufassen. Somit sei sie sozial kontingent und deshalb prinzipiell revisionierbar. Genau in diesem Sinne versteht Haslanger nun ihren Theoriebei- trag: Sie mochte die bestehendegender-ReaWtat kritisch - d. h. in Hinblick auf das Hervor- kehren verdeckter Widerspruche - hinterfragen, um so unreflektierte gender-Normalismen aufzulosen undgender „auf eine Art zu definieren, dass es dem Streben nach Geschlechter- gerechtigkeit dient" (ebd.: 76).

Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, Haslangers Theoriebildung in Hinblick auf folgende Themenkreise zu untersuchen: In Abschnitt 2 wird zunachst Haslangers metho­discher Ansatz zur Begriffsbildung vongender eingefuhrt. Dabei wird die von ihr gewahlte analytische Strategie mit der konzeptionellen und der deskriptiven Strategie kontrastiert, um ihr besonderes Potenzial fur ein kritisches Projekt offenlegen zu konnen. Abschnitt 3 ist der Herausarbeitung der von Haslanger furgender vorgeschlagenen Definition gewidmet; ihr Definitionsvorschlag wird dabei anhand der gender-Kategorie Frau veranschaulicht. Die mit dieser Definition verbundenen Probleme - das Problem der Gemeinsamkeit und das Problem der Normativitat - werden in Abschnitt 4 konkretisiert, wobei aufgezeigt wird, wie Haslanger dieser Problematik begegnet. Abschnitt 5 schlieRt die Uberlegungen mit einer kritischen Wurdigung ab.

2 MethodischerAnsatz: die analytische Untersuchung

Die Frage „Was istgender?" lasst sich Haslanger zufolge mithilfe von drei voneinander ver- schiedenen - jedoch nicht ganzlich voneinander unabhangigen - methodischen Ansatzen adressieren, die je unterschiedliche Prioritaten setzen sowie unterschiedlicher Zugange und Vorgehensweisen bedurfen. So unterscheidet sie zwischen einer konzeptionellen, einer des­kriptiven und einer analytischen Untersuchung (vgl. Haslanger 2021a: 67). Haslangers spe- zifisches Erkenntnisinteresse bei der Auseinandersetzung mit vorstehend genannter Frage- stellung, namlich eines in der Tradition materialistisch-feministischer Erkenntnistheorien, lasst sich ihr zufolge am aussichtsreichsten mit letzterer, der analytischen Vorgehensweise umsetzen. Zwar sei die konzeptionelle Herangehensweise geeignet, „unsere alltags- sprachlichen Begriffe zu klaren" (ebd.: 68) und so z. B. existierende Konzepte vongender be- grifflich zu prazisieren. Die deskriptive Herangehensweise auf Basis empirischer bzw. quasi- empirischer Methoden wiederum ermogliche es, durch „sorgfaltige Betrachtung [naturlicher oder sozialer] Phanomene" (ebd.: 67, Erg. FW) diese anhand bestimmter Merkmale zu unter- scheiden, in Kategorien einzuordnen und auf diese Weise eine „zugrunde liegende (moglicherweise soziale) Art zu ermitteln" (ebd.: 68). Jedoch konne letztere deshalb nur eine klassifikatorische Generalisierung von (sozialen) Arten - beispielsweise der soziale Art Frau und der sozialen Art Mann als „zwei Arten vongender" (ebd.: 86, Herv. i. Org.) - leisten, wahrend erstere lediglich den Alltagsgebrauch von Begriffen (beispielweise desgender- Begriffs) durch deren Ausformulierung aufzeigen konne.

Haslanger glaubt, dass eine materialistisch-feministische Untersuchung der Frage „Was istgender?" eines anderen als des konzeptionellen oder des deskriptiven Zugangs bedurfe, namlich eines, wie sie es nennt, „analytischen Projekts" (ebd.: 68). Der Grund hierfur sei, dass uns „die Welt allein nicht sagen [kann], wasgender [...] ist" (ebd.: 69, Herv. i. Org., Erg. FW) und es deshalb an uns liege, „zu entscheiden, welche Phanomene in der Weltgender [...] sind" (ebd., Herv. i. Org.). Ein in diesem Sinne verstandenes analytisches Projekt sei in der Fage, dieser Forderung nachzukommen, da es sich auf bestimmte, geeignete Weise von den beiden erstgenannten unterscheide: Innerhalb einer kritisch-analytischen Herangehensweise sei die vorstehende Frage namlich Anlass dafur, den gender-Begriff vor allem in Hinblick auf „die Pragmatik unserer Art und Weise, d[en] betreffenden Ausdr[u]ck[...] zu verwenden" (ebd.: 68, Erg. FW), zu befragen. In eben dieser Hinsicht sei ein analytischer Ansatz fur feministischesTheoretisieren pradestiniert, denn dieses habe den gender-Begriffzuvorderst wie folgt pragmatisch zu befragen: „Was nutzt es uns, diese[n] Begriff[...] zu haben? [...] Handelt es sich um [ein] effektive[s] Instrument^..] zur Erfullung unserer (legitimen) Ziele?" (ebd.: 68, Erg. FW). Wenn es also das Ziel von Haslangers Theoriebildung im Rahmen einer kritischen Sozialtheorie ist, Geschlechterungleichheit identifizierbar zu machen, um fur Ge- schlechtergerechtigkeit streiten zu konnen, welchen pragmatischen Zweck muss der Begriffgender bei der Untersuchung der Frage „Was istgender?" dann erfullen konnen? Oder, um mit Haslanger zu fragen: Welche „Arbeit [soil er] fur uns leisten" (ebd.: 69, Erg. FW)? Ihr geht es eindeutig nicht darum, „das zu erfassen, was wir meinen, wenn wir bestimmte Ausdrucke verwenden" (ebd.) - also den alltagssprachlichen gender-Begriff zu klaren sondern darum, den Begriffgender „in Hinblick auf unsere Ziele zu definieren" (ebd.). Kurz: Die Frage „Was istgender?" wird vor dem Hintergrund von Haslangers materialistisch-feministischem Er- kenntnisinteresse zu der Frage: Wie konnen oder sollten wirgender „sinnvollerweise fur be­stimmte theoretische und politische Zwecke abandern" (ebd.)? Ein deskriptives Projekt wird also zu einem normativen Projekt. Was nun kann ein solches Projekt Haslanger zufolge leisten? Sie vertritt die Auffassung, es konne eine Theorie vongender liefern, die geeignet ist, Geschlechterungleichheit zu erklaren, ein „Verstandnis von Handlungsfahigkeit" (ebd.: 73) zu entwickeln, das der Ermachtigung „kritische[r] soziale[r] Akteur:innen" (ebd., Erg. FW) dienen kann, sowie ein „wirksame[s] Instrument^..] im Kampf gegen Ungerechtigkeit" (ebd.: 72, Erg. FW) bereitzustellen.

3 Die Definition von gender

Bisher wurde die von Haslanger vorgeschlagene Methode einer analytischen Untersuchung der Frage „Was istgender?" bzw. „Was heiRt es, ein Mann oder eine Frau zu sein?" naher spezifiziert. Um Haslangers Definitionsvorschlag furgender wurdigen zu konnen, erscheintes sinnvoll, zunachst seine theoretische Fundierung nachzuzeichnen und ihn anschlieRend am Beispiel der gender-Kategorie Frau zu konkretisieren. Eingangs soil also zunachst die theo­retische Herleitung dargelegt werden, wobei es fur ein Verstandnis dieser Herleitung vor- teilhaft, wenngleich nicht zwingend notwendig ist, sie sich in Verbindung mit Diagramm 1 (S. 6) zu erschlieRen. Innerhalb des bereits oben erlauterten analytischen Ansatzes eignet sich Haslanger zufolge eine „fokale Analyse"3 (ebd.: 75), um eine fur ihren materialistisch- feministischen Erkenntniszweck - dessen „Fokus darauf liegt, Systeme der Ungleichheit zu theoretisieren" (ebd.: 83) - fruchtbare Definition vongender zu stipulieren. Hiernach seigender4 (das zu erklarende Phanomen) vorrangig als soziale Klasse (das Kernphanomen) zu verstehen (vgl. ebd.: 75).Gender als soziale Klasse aufzufassen,5 sei - zumindest innerhalb des materialistischen Feminismus - deshalb gerechtfertigt, weil sich auf diese Weisegender- Ungleichheiten und -Ungerechtigkeiten durch „das Muster sozialer Beziehungen, welche die soziale Klasse der Manner als uber- und diejenige der Frauen als untergeordnet" (ebd.: 75) konstituieren, erklaren lieRen. An dieser Stelle erleichtert die Verwendung des im Deutschen gebrauchlichen Begriffs furgender, namlich des Begriffs des sozialen Geschlechtes, ein Nach- vollziehen ihres Theorieentwurfs: Das soziale Geschlecht{gender) wird als soziale Klasse analysiert (vgl. ebd.: 75), wobei die beiden gender-Kategorien Frau und Mann (vgl. ebd.: 77­78) als die sozialen Klassen Frau und Mann (vgl. ebd.: 83-84) betrachtet werden.

Es ist dieser theoretische Schritt der Analyse des sozialen Geschlechts{gender) als sozialer Klasse, der es Haslanger ermoglicht, die gender-Arten6 Frau und Mann als die beiden sozialen Klassen Frau und Mann in Hinblick auf „eine umfassende Struktur der Unterordnung und Privilegierung" (ebd.: 83) hierarchisch strukturiert abzubilden.Gender auf diese Weise zu theoretisieren, glaubt Haslanger, sei erstens ein „wirksame[s] Instrument^..] im Kampf gegen Ungerechtigkeit" (ebd.: 72, Erg. FW) mit dem Ziel, die Strukturen der Unterdruckung zu unterminieren, „so dass es eines Tages keine Frauen (aber naturlich sehr wohl noch weibliche Menschen!) mehr gibt" (ebd.: 92). Insofern es bei dieser Form derTheoretisierung um das Etablieren von Geschlechtergerechtigkeit geht, diene sie also feministischen Zecken. Daruberhinausgehend sei sie zweitens ein Mittel, um uber die „politische Moglichkeit, nicht- hierarchischegender zu erschaffen, nachzudenken" (ebd.: 86, Herv. i. Org.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diagramm 1

Nachfolgend soil am Beispiel der Definition der gender-Kategorie bzw.gender-krt Frau - und zwar anhand jener Definition, die soziale Kontexte (und deren Hintergrundideologien) als Beurteilungskriterium berucksichtigt - veranschaulicht werden, wie Haslanger sich ihr theo- retisches Modell vorstellt. Zunachst aberwird ihre Definition wiedergegeben:

,,Sfungiert als Frau im Kontext K gdw.df

(i) S im Kontext K aufgrund von Beobachtung oder Einbildung fur jemand gehalten wird, die bestimmte korperliche Merkmale hat, welche als Hinweis auf die weibliche biologische Rolle in der Fortpflanzung aufgefasst werden;
(ii) die Tatsache, dass S diese Merkmale hat, S in der Hintergrundideologie von K als jemanden markiert, die bestimmte Arten von sozialen Positionen, welche faktisch untergeordnet sind, einnehmen sollte (und in diesem Sinne S' Einnehmen dieser sozialen Position motiviert und rechtfertigt); und
(iii) die Tatsache, dass S die Bedingungen (i) und (ii) erfullt, eine Rolle bei S' systematischer Unterordnung im Kontext K spielt; d. h. S' soziale Position im Kontext Kentlang einer Dimension unterdruckt ist und die Tatsache, dass S die Bedingungen (i) und (ii) erfullt, eine Rolle in dieser Dimension der Unterordnung spielt" (ebd.: 85, Herv. i. Org.).

Die Frage „Was heiRt es, eine Frau zu sein?" lasst sich mit vorstehender Definition wie folgt beantworten: In einem bestimmten ideologisch gepragten Kontext ist eine Person genau dann eine Frau, wenn (i) ihr korperliche Merkmale zugeschrieben werden, die auf die weib­liche biologische Rolle in der Fortpflanzung hinzuweisen scheinen, wenn (ii) sie aufgrund dieserZuschreibung als eine Person markiert7 wird, die benachteiligte soziale Positionen ein- zunehmen habe (wobei die Zuschreibung sowohl motivational als auch rechtfertigend wirkt) und (iii) sie aufgrund gerade dieser Bedingungen in ihrer sozialen Position systematisch - d. h.als Frau8 (vgl. ebd.: 79) - entlang z. B. einer okonomischen, politischen und/oder recht- lichen Dimension benachteiligtwird (vgl. ebd.: 78).

4 Das Problem der Gemeinsamkeit und das Problem der Normativitat

Im vorangegangenen Kapitel wurde die von Haslanger vorgeschlagene Definition vongender rekonstruiert. Zwei sich im Zusammenhang mit ihrer Definition ergebende Probleme sollen nachfolgend diskutiert werden: das Problem der Gemeinsamkeit und das Problem der Nor- mativitat. Dabei wird auch auf Haslangers Entgegnungen eingegangen. Das Problem der Nor- mativitat lasst sich so zusammenfassen, dass jede Definition dessen, was eine Frau ist, un- weigerlich mit Bewertungen einhergehe, weibliche Menschen marginalisiere und bestehen- de Geschlechternormen bekraftige (vgl. Haslanger 2021a: 75-76). Das Problem der Gemein- samkeit folgt aus der Infragestellung der Annahme, dass „es etwas Soziales gibt, was alien weiblichen Menschen gemeinsam ist und als ihr,gender' angesehen werden konnte" (ebd.: 75, Herv. i. Org.). Das Gemeinsamkeitsproblem entkraftet Haslanger mit dem Verweis auf den analytischen Fluchtpunkt ihres kritisch-feministischen Projekts, der ihr zufolge gerade nicht darauf ausgerichtet ist, Gemeinsamkeiten zwischen weiblichen Menschen festzustellen.9 Einem feministischen Projekt musse es vielmehr primar darum gehen,gender „auf eine Art zu definieren, dass es dem Streben nach Geschlechtergerechtigkeit dient" (ebd.: 76). Dem Normativitatsproblem begegnet sie mit dem Verweis darauf, dass ein kritisches Programm darauf angewiesen sei, normative Auswirkungen zu haben, wobei „wissenschaftliche und philosophische Forschung [...] Ressourcen [bereitstellen], um die Kontroverse zu uberwin- den" (Haslanger 2021c: 207, Erg. FW). Haslanger vertritt die Auffassung, dass eine durch die kritisch-feministische Forschung informierte Definition von Frau ein „negatives Ideal" (Haslanger 2021a: 93) anzubieten vermoge, das dazu beitragen konne, mannliche Privile­gierung infrage zu stellen und so „Strukturen der Unterdruckung [...] [zu] untergraben" (ebd.: 76, Erg. FW).

5 KritischeWurdigung

Mit der vorliegenden Abhandlung wurde das Ziel verfolgt, Haslangers methodische Vorge- hensweise zur Begriffsbildung vongender zu rekonstruieren, die von ihr formulierte Defini­tion vongender vorzustellen und sich mit dem Problem der Gemeinsamkeit und dem Pro­blem der Normativitat zu befassen. Schlussendlich werden - zumindest skizzenhaft - einige Vorzuge ihrer kritischen gender-Theorie thematisiert, ohne jedoch mogliche Einwande zuvor- derst nicht unerwahnt zu lassen. Ob Haslanger mit ihrer Konzeptionierung dergender-Kate- gorie Frau als „negatives Ideal, das mannliche Dominanz infrage stellt" (Haslanger 2021a: 93) eine zu diesem Zweck geeignete theoretische Ressource zur Verfugung gestellt hat, wird u. a. davon abhangen, ob es in derfeministischengender-Debatte gelingt, Haslangers Definition des Frauseins de facto alsnegative Kontrastfolie zu kommunizieren. Nur unter dieser Voraus- setzung wird es moglich sein, einer durch Ideologie (gepragt von hegemonialen Weltbildern) verkurzten rabulistischen Aneignung und Instrumentalisierung der Definition alspositives Ideal entgegenwirken zu konnen.10 Dass Haslanger bei ihrer Theoriebildung aufAusdrucke der Alltagssprache zuruckgreift, anstatt neue und damit alltagsbedeutungsneutrale Aus­drucke einzufuhren, kann der (gerade auRerakademischen11) Rezeption dienlich sein. Eine auf Alltagsvokabular rekurrierende Form des Theoretisierens begunstigt allerdings auch die vorgenannte ideologische Fehlappropriation der Definition mit der Konsequenz, dass „die Auswirkungen derTheorie die Strukturen der Unterdruckung [...] verstarken" (ebd.: 76).

Fur ihren Ansatz,gender zu definieren, spricht seine materialistisch-institutionelle Fun­dierung, insoferngender als soziale Klasse definiert wird. Genau dadurch grenzt sich Has­langers Ansatz von der Beliebigkeit ethnomethodologischer Beschreibungsstrategien vongender oder bestimmten (extremen) Formen des sprachlichen und/oder kulturellen Kon- struktivismus12 ab. Insbesondere gerat in Haslangers marxistisch verwurzeltergender-Vneo- rie (marxistisch in dem Sinne, dass sie soziale Klassen als Unterscheidungsmerkmale einfuhrt) die institutionelle Rahmung von gender-Aushandlungsprozessen nicht aus dem Blick, wie dies z. B. beimdoing gender der Fall ist.13 Hier ist die Unterscheidung der Geschlechter primar auf die Interaktionsebene verlegt. Mit ihrem auf konkret beobachtbare Febenswirklichkeiten re- kurrierenden institutionstheoretischen Ansatz, der systematische gender-Ungleichheiten u. a. in einer politischen, okonomischen und/oder rechtlichen Dimension formuliert, ist Has­langer daruber hinaus in der Fage, eine Alternative zu dem von Judith Butler vorgeschlagenen einflussreichen performativen Theoriemodell zur Verfugung zu stellen. Dessen erkenntnis- theoretischer Ausgangspunkt ist die dekonstruktivistische Geschlechterforschung (Gender Studies). Hierbei wird die Erzeugung von Geschlechtsbinaritat performativ gedeutet als sozio- kulturelle Konstruktion, die sich sprechakttheoretisch erklaren lasst. Die erkenntnistheore- tisch wichtige Dimension des Institutionellen bleibt allerdings weitgehend unberucksichtigt.

Eine weitere - grundsatzlichere - Problematic zu deren Mitigation Haslanger mit ihrem sozialtheoretisch informierten Philosophieren beitragt, betrifft die Tendenz vieler Philo- soph:innen, bei der Erklarung menschlichen Verhaltens individualistische Erklarungen zu praferieren und soziale Strukturen gar nicht oder nicht ausreichend zu berucksichtigen. Haslanger selbst formuliert dies pointiert in ihrer AbhandlungWas 1st eine (sozial-)struk- turelle Erklarung: „lhre Aufmerksamkeit [jene von Philosoph:innen], einschlieRlich ihrer moralischen Aufmerksamkeit (und vielleicht diese ganz besonders), gilt allein Individuen" (Haslanger 2021b: 174, Erg. FW). Die sozialtheoretische Anreicherung ihres Verstandnisses des Philosophierens ermoglicht es ihr bei ihrer Analyse des gender-Begriffs, sozialstrukturelle und sozialinstitutionelle Implikationen gewinnbringend in ihre philosophische Diskussion mit- einzubeziehen.14

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es" (de Beauvoir 2020: 334) - Haslangers kritisch-analytischer, materialistisch-feministischer Theorieentwurf zur gender-Kategorie Frau (und analog zur gender-Kategorie Mann) vermag es, Feminist:innen produktive Argumente fur eine egalitarere Gestaltung des aktuellen und zukunftigen Frau- und Mannwerdens an die Hand zu geben.

Fiteratur

De Beauvoir, Simone (2020) [1951]:Das andere Geschlecht. Sitte undSexus der Frau. 21. Aufl. Hamburg: RowohltVerlag.

Haslanger, Sally (2012): Gender and Race: (What) Are They? (What) Do We Want Them To Be? In: Dies.:Resisting Reality. Social Construction and Social Critigue. New York: Oxford University Press, S. 221-249.

Haslanger, Sally (2021a):Gender undRace: (Was) Sind sie? (Was) Sollen sie sein? In: Dies.:Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 64-105.

Haslanger, Sally (2021b): Was ist eine (sozial-)strukturelle Erklarung? In: Dies.:Der

Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 174-201.

Haslanger, Sally (2021c): Rassismus, Ideologie und soziale Bewegung. In: Dies.:Der

Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 202-233.

Nummer-Winkler, Gertrud / Wobbe, Theresa (2007): Geschlecht und Gesellschaft. In: Joas, Hans (Hg.):Lehrbuch derSoziologie. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Campus, S. 287-312.

Poincare, Henri (2007) [1914]:Science and Method. New York: Cosimo.

Weisbrod, Lars (2022): 1st die Wirklichkeit nur eine Erfindung alter, weiRer Manner? In: DieZeit, Nr. 4. 20. Februar2022. Hamburg: Zeitverlag, S. 53.

[...]


1 Die vorliegende Abhandlung folgt in ihrer Verwendung der englischen Originalausdrucke„gender", „race" und„sex" der in der deutschen Ubersetzung des englischen Textes vorgeschlagenen Vorgehensweise, diese Begriffe unubersetzt zu ubernehmen, da sie auch im Deutschen gebrauchlich geworden seien (vgl. Haslanger 2021a: 64).

2 Aus der Sicht Haslangers sind die Fragen „Was istrace?" (Haslanger 2021a: 66, Herv. i. Org.) bzw. „Was heiSt es, WeiB/Lateinamerikanisch/Asiatisch zu sein?" (ebd.) der Frage „Was istgender?" und jener nach der Bedeutung des Mann- oder Frauseins verwandt. Im Folgenden werden jedoch Haslangers Ausfuhrungen zugender im Zentrum der Ausfuhrungen stehen und jene zurace ausgeklammert werden.

3 Eine fokale Analyse sei in der Lage, „eine Vielzahl zusammenhangender Phanomene durch ihre Verbindung zu einem bestimmten Phanomen, das als das zentrale oder Kernphanomen verstanden wird" (Haslanger 2021a: 75), zu erklaren.

4 Haslanger bezieht sich in ihrer Definition vongenderau? die allgemein akzeptierte Formel:„gender\st die soziale Bedeutung vonsex" (ebd.: 74, Herv. i. Org.), wobei mit „sex" das biologische Geschlecht gemeint ist. Etwas ausfuhrlicher nehmen Theresa Wobbe und Gertrud Nummer-Winkler zugenderund sexStellung. Sie beziehen sich dabei mitgender auf „die Vielfalt der kulturellen und sozialen Bedeutungen des Geschlechts in Form von sozialen Positionen, kulturellem Verhalten oder gesellschaftlichen Erwartungen" (Nummer-Winkler / Wobbe 2007: 291) und mitsex auf eine „,naturliche' Geschlechterzugehorigkeit" (ebd.), charakterisiert beispielsweise durch Binaritat (es gibt zwei und nur zwei Geschlechter) oder auBerliche (z. B. Gestalt, Bewegung, Stimme) und korperliche Geschlechtsstereotype (insbesondere genitale Merkmale) (vgl. ebd.).

5 Haslanger nimmt explizit Abstand davon,gender „unter Bezugnahme auf die intrinsischen physischen oder psychologischen Eigenschaften eines Individuums" (Haslanger 2021a: 77) zu definieren. Etwaige Unterschiede in Hinblick aufsex (d. h. biologisches Geschlecht) fungieren in ihrer Theorie ausschlieBlich „als physische Markierungen zur Unterscheidung der beiden Gruppen" (ebd.: 78) der Frauen und Manner.

6 Haslanger verwendet die Termini „gender-Kategorie" (vgl. Haslanger 2021: 78) und„gender-M.“ (vgl. ebd.: 86) synonym.

7 In diesem Zusammenhang spricht Haslanger auch von einem Markieren ,,als Zielscheibe fur die Ausubung unterdruckerischer Krafte" (Haslanger 2021a: 81) und zwar insofern als „die Zuschreibung [angenommener oder tatsachlicher Korpereigenschaften [...] als angemessen zur Erklarung und Rechtfertigung unserer Stellung [jene der Frauen] in einer Struktur von unterdruckerischen sozialen Beziehungen aufgefasst wird" (ebd.).

8 Haslangers Vorstellung von einer systematischen Unterdruckung von Frauen„als Frauen" (ebd.: 79, Herv. i. Org.) liegt die Idee zugrunde, dass „Gesellschaften von Reprasentationen geleitet werden, die das Weiblichsein mit [...] Tatsachen verbinden, die Auswirkungen darauf haben, wie jemand gesehen und behandeltwerden sollte" (ebd.: 81).

9 Wenn es kultur- und epochenubergreifende Gemeinsamkeiten geben sollte, dann seien diese keine dem weiblichen Menschen intrinsischen, nichtanatomischen Merkmale (vgl. Haslanger 2021a: 91), sondern dann handle es sich (wenn uberhaupt) einzig und allein um den Korperbau (vgl. ebd.: 75).

10 In ihrer AbhandlungRassismus, Ideologie undsoziale Bewegungen diskutiert Haslanger die spezifischen Herausforderungen von Ideologiekritik (vgl. Haslanger 2021c: 206-225).

11 Siehe hierzu beispielsweise den BeitragIstdie Wirklichkeitnureine Erfindung alter, weifterMdnner?voa Lars Weisbrod in der Wochenzeitung DIEZEIT (vgl. Weisbrod 2022).

12 Beispielsweise lasst sich bezweifeln, ob die Verwendung des Wortes .wommon" anstatt des Wortes .woman" tatsachlich zu Geschlechterunabhangigkeit beitragen kann. Einige Feminist:innen bedienen sich dieses Wortes (das eine veraltete Schreibweise von .woman" ist), um das Wort „man" aus dem Schriftbild zu eliminieren. Die dem Wort .woman" inharente begriffliche Bezugnahme auf das Weibliche mittels des Mannlichen soil so umgangen werden, um die hierdurch konstituierten sozialen Abhangigkeiten aufzu- losen.

13 Alsdoing gender bezeichnen Don Zimmermann und Candace West den „Vorgang der Herstellung, der Hervorbringung von Geschlecht" (Nummer-Winkler / Wobbe 2007: 293).

14 Die Verbindung verschiedener Disziplinen (im Faile von Haslanger: Sozialphilosophie und feministische Sozialtheorie) beschreibt der franzosische Mathematiker, theoretische Physiker und Wissenschafts- theoretiker Henri Poincare als potenziell erkenntnisfordernd, wenn er in Bezug auf die verschiedenen Disziplinen der Mathematik konstatiert: „we should see that the great progress of the past has been made when two of these siences have been brought into conjunction, when men have become aware of the similarity of their form in spite ofthe dissimilarity of their matter" (Poincare 2007: 39-40).

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Details

Title
Was ist Gender? Sally Haslangers kritisch-analytischer, materialistisch-feministischer Theorieentwurf
College
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg  (Institut für Philosophie)
Course
Seminar Sozialontologie
Grade
1,0
Author
Year
2021
Pages
10
Catalog Number
V1257849
ISBN (eBook)
9783346697769
Language
German
Keywords
Sozialontologie, Sally Haslanger, gender, race, Feminismus
Quote paper
Falk Wisinger (Author), 2021, Was ist Gender? Sally Haslangers kritisch-analytischer, materialistisch-feministischer Theorieentwurf, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1257849

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