Regulierter Fortschritt

Die Politik am Gaspedal des wissenschaftlichen Fortschritts? Eine Untersuchung am Beispiel der Gentechnik in England und Deutschland


Dossier / Travail, 2009

26 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Warum die Politik der Wissenschaft „theoretisch“ hinterhinkt
2.1 Die funktionale Differenzierung – Wie ausdifferenziert ist die Politik im Vergleich zur Wissenschaft
2.2 Das Zeitproblem der Politik – Zwischen Problemwahrnehmungsdauer und Reaktionsreichweite

3. Die Biotechnologie – Ein schwieriges Politikfeld zwischen moralischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedenken

4. Über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft – Ein Vergleich deutscher und britischer Politik in der Biotechnologie
4.1 Regulierungsgründe – Gesellschaft, Moral oder politische Taktik. Warum wird Wissenschaft reguliert oder liberalisiert?
4.2 Regulierungsmittel – Was wird wie verboten und was ist erlaubt?
4.3 Regulierungswirkung – Wirkung oder Wirkungslosigkeit politischer Regulierung?

5. Fazit – Politik als aktiver Lenker der Forschungsausrichtung oder staunender Beifahrer im Fortschrittszug?

6. Literatur:

1. Einleitung

"Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht vom Fortschritt in der internationalen Forschung abkoppeln.“[1], mahnte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Redemanuskript aus dem Jahr 2005 und sprach sich damit deutlich gegen eine Regulierung der Wissenschaft in Deutschland aus. Denn wer sich dem Fortschritt durch die Einschränkung der Forschung entzieht ist dadurch auch von der Mitsprache an der Nutzung und der Kontrolle der Verfahren und der Ergebnisse ausgeschlossen, heißt es weiter in dem Manuskript. Schröder verweist dabei auf die Tatsache, dass Restriktionen weitestgehend nur auf das eigene Land beschränkt bleiben und Forschung in anderen Staaten uneingeschränkt weitergehen kann. Damit kritisierte er relativ offen, das in seiner Amtszeit verabschiedete Stammzellengesetz aus dem Jahr 2002 und betont, dass Gesetze bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überprüft und gegebenenfalls angepasst werden müssten.

Einen solchen Bezug auf das in einem Artikel wiedergegebenen Redemanuskripts des ehemaligen Bundeskanzlers an den Beginn der Arbeit zu setzen mag an dieser Stelle ungewöhnlich wirken. Jedoch werden darin Thesen und Ansichten zu fast allen für diese Arbeit relevanten Fragen der Beziehung zwischen Wissenschaft, Forschung und der Politik von jemandem geäußert, der ein bedeutender und aktiver Teil dieser Beziehung war. Darüber hinaus sind diese Äußerungen bemerkenswert, da es sich in diesem Fall um eine klare Forderung der Forschungsfreiheit von Seiten der eigentlich regulierenden Seite handelt. Wenn diese Forderung von Seiten der Wissenschaft geäußert worden wäre, hätte das wohl niemanden verwundert. Da sie aber vom deutschen Bundeskanzler kam, unter dessen Regierung diese Restriktionen erst eingeführt wurden, muss ein verstärkter Blick auf die Frage nach der Regulierungsmotivation gelegt werden. Das impliziert die Frage nach der Position des Bundeskanzlers zum Zeitpunkt der Regulierung und gegebenenfalls die Betrachtung der veränderten Rahmenbedingungen zwischen diesem Zeitpunkt und dem verfassen des Manuskripts.

Vor der praktischen Untersuchung des Beispiels ist es allerdings notwendig noch einmal die entscheidenden inhaltlichen Punkten des Manuskripts und dem theoretischen Fundament der Untersuchung zu betrachten.

Die Erste wichtige These des wiedergegebenen Manuskripts lautet, dass die Politik soweit in der Lage ist die wissenschaftliche Forschung innerhalb ihres Staates zu regulieren, dass sie vom allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt abgeschnitten sein würden. Dabei bleibt zumindest auf den ersten Blick ein Zweifel daran, dass eine gesetzliche Regelung im Stande sein soll den Fortschritt eines Staates mit all seinen Forschungsinstitutionen und den Wissenschaftlern von der weltweiten Entwicklung abzugrenzen. Es wirkt gerade in Zeiten zunehmender Globalisierung, forcierter wirtschaftlicher Interdependenz und beherrschenden internationalen Krisen und dadurch notwendigen internationalen Lösungsstrategien befremdlich von einer solchen Entziehung der wissenschaftlichen Arbeit und Forschung eines Landes zu sprechen. Allerdings bietet sich gerade diese Aussage, trotz oberflächlicher Unstimmigkeiten, als These für einen empirischen Vergleich der Ergebnisse eines durch liberale und eines eher durch konservative Forschungspolitik geprägten Staates an. Durch diese Gegenüberstellung soll in erster Linie die Ursache und Wirkungsreichweite von politischen Regulierungen, das heißt die Frage welche Ursachen es für die Regulierungen gibt und welche Wirkung sie bei der realen Umsetzung erzielen, untersucht werden. Die beiden von mir ausgewählten Vergleichsstaaten sollen an dieser Stelle als Großbritannien und Deutschland ebenso nur genannt sein, wie das spezifische Vergleichsfeld der Gentechnologie als Untersuchungsgegenstand. Die Gründe und weitere Erläuterungen für die Auswahl werde ich an dieser Stelle jedoch vorerst zurückstellen, um mich vorher der zweiten wichtigen Behauptung Schröders zu widmen.

Er unterstellt in seinem Manuskript der Politik die Anpassungsfähigkeit an neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Zwar hängt dieser Punkt direkt mit der Untersuchung der Ursachen und der Motivation politischer Regulierung zusammen und wird daher teilweise schon durch den genannten Vergleich beantwortet, er geht allerdings noch weit darüber hinaus. Während bei dem Vergleich der beiden Staaten eher die realen Ursachen und Wirkungen im Vordergrund der Betrachtung stehen, soll mit der Frage nach der Fähigkeit zur Anpassung der Politik eher geklärt werden, ob Forschungserkenntnisse überhaupt potentielle Ursache für politische Entscheidungen sein können. Dazu gehört auch die Frage inwieweit die Politik beziehungsweise die politischen Vertreter überhaupt in der Lage sein können Forschungsergebnisse rechtzeitig genug wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und die Ergebnisse als konkrete Entscheidungen umzusetzen.

Zwar lassen sich gerade Fragen, wie die nach den Motivationsgründen oder nach der Fähigkeit zur Anpassung wohl nur auf einer theoretischen Basis mit einem gewissen Grad an Spekulation beantworten, ermöglichen aber doch einen entscheidenden Erkenntnisgewinn über die Grenzen und Möglichkeiten politischer Regulierung, der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit der politischen Vertreter und die Einschätzung der Position der Politik gegenüber Wissenschaft und Forschung. Ist die Politik überhaupt (noch) in der Lage mit der zunehmend schnelleren Geschwindigkeit der wissenschaftlichen Forschung mitzuhalten? Wird die Politik aufgrund der Notwendigkeit immer stärkerer fachlicher Spezialisierung und zunehmender Entwicklungsgeschwindigkeit zum „situativen Reagieren“ verdammt?[2]

In diesen zwei Fragen deutet sich bereits das Problem der Variable „Zeit“ für politische Regulierung an, welche im Verlauf der Arbeit eine wichtige Rolle einnimmt. Man kann eine Richtung nur ändern wenn man zuvor auf Augenhöhe ist, daher muss die grundlegende Frage geklärt werden, ob sich die Politik und die Wissenschaft im Gleichschritt bewegen oder die Wissenschaft, wie der Igel bereits „ich bin schon da“ sagt, wenn die Politik noch den langen Weg des politischen Entscheidungsprozesses läuft?

Das Ziel dieser Arbeit ist es, auf der Basis einer Theorieuntersuchung und dem Praxisvergleich Aussagen über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft treffen zu können. Wer agiert und reagiert bei dieser Verbindung? Ist eine Korrelation überhaupt erkennbar oder bleibt die „Einflussnahme“ der beiden Seiten aufeinander wirkungslos? Wie zielgerichtet ist die mögliche Wirkung einer politischen Maßnahme auf die Wissenschaft?

Ist die Politik Steuermann oder Beifahrer des wissenschaftlichen Fortschritts?

2. Warum die Politik der Wissenschaft „theoretisch“ hinterhinkt

Die Fähigkeit etwas zu Steuern beruht auf der Fähigkeit durch Aktion eine Reaktion zu erzwingen. Das Wesen der Regulierung ist jedoch ein reagierendes, wobei das entscheidende Merkmal der Regulierung als Form der politischen Steuerung, die zielgerichtete und zweckorientierte Gestaltung der bestimmten Rahmenbedingungen durch Gesetze und Verordnungen sein soll.[3] Die Zweckorientierung in dieser Definition deutet auf die Notwendigkeit eines bestimmten Grundes hin, der wiederum das regulierte selbst ist.

Von daher trifft das von mir angebrachte Gleichnis vom Rennen zwischen Hase und Igel nicht ganz den Kern des Verhältnisses. Vielmehr ist die wissenschaftliche Forschung als Ursache der Regulierung der Politik schon am Start einen Schritt voraus.

Durch diesen Vorsprung, der abhängig von der Geschwindigkeit der Wahrnehmung bereits enorm sein kann, befindet sich die Politik bereits unmittelbar nach der Problemdefinition unter Zeitdruck bei der Entscheidungsfindung und Implementierung. Das heißt, dass die Politik bei den einzelnen politischen Prozessen eine höhere Geschwindigkeit einnehmen müsste als die sich stetig weiterentwickelnde wissenschaftliche Forschung, um nicht stetig hinterherzulaufen oder gar den Rückstand noch zu vergrößern. Gegen die Fähigkeit der Politik eine solche Eigenbeschleunigung zu erreichen, sprechen vor allem zwei Punkte. Zum Ersten die zunehmende funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft, da die Spezialisierung vor allem der Naturwissenschaften eine Wahrnehmungsüberforderung der anderen Gesellschaftsschichten zur Folge hat. Diese Überförderung aufgrund stark ausdifferenzierter Gesellschaften wird vor allem bei staatlichen Akteuren, die sich ohne eine solche Spezialisierung mit diesen Themen auseinandersetzen müssen, zu einem zunehmenden Informationsverarbeitungsdefizit.[4] Zum Zweiten muss die Arbeits- und Funktionsweise der Politik in demokratischen Staaten selbst auch als verlangsamend angesehen werden.

Andererseits wird aber gerade durch die immer stärkere Differenzierung der Arbeitswelt ebenso wie „die wachsende gesellschaftliche Komplexität und die Länge der Interdependenzketten“ eine verstärkte Regulierung und Ordnung notwendig.[5] Man müsste demnach davon ausgehen, dass es eine zunehmende Kluft zwischen dem Bedürfnis nach Regulierung und der Fähigkeit zu regulieren gibt. Diese Paradoxie kann sich bei einer starken Zunahme des Bedürfnisses, wie im aktuellen Fall der Finanzkrise, bis zu einer potentiell gefährlichen Situation ausweiten. Die Finanzkrise führte durch den Verlust des Vertrauens in selbstregulierende Kapitalmärkte zu solch einer Steigerung des staatlichen Regulierungsbedarfs. Die Entwicklung neuer Rahmenbedingungen von Seiten der Politik blieb jedoch bisher aus. Diese Zuspitzung der Differenz zwischen Bedarf und Möglichkeit der Regulierung soll jedoch nur als ein extremes Beispiel genannt sein, in dem die Politik mit den herkömmlichen Mittel nicht in der Lage ist ein globales Problem zu lösen.

Das Politikfeld der Biotechnologie und die Thematik der Gentechnologie befinden sich zugegebenermaßen trotz stark kontroverser Diskussionen noch nicht an diesem Punkt der gesamtgesellschaftlichen Zunahme des Regulierungsbedürfnisses. Die Gruppe der Regulierungs- oder auch Deregulierungsfordernden nahm jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich zu und zwingt die Politik zum Handeln.

Bevor sich die Arbeit den konkreten Beispielen der Regulierung zuwendet, ist es meiner Meinung nach notwendig, die beiden „Kontrahenten“ genauer zu betrachten. Wie funktionieren Politik und Wissenschaft im Vergleich und wie nehmen sie einander wahr?

2.1 Die funktionale Differenzierung – Wie ausdifferenziert ist die Politik im Vergleich zur Wissenschaft

Wie bereits angedeutet ist gerade die funktionale Differenzierung für die Politik eines der hemmendsten Faktoren bei ihrer Arbeit, da sie dadurch auf die Mitarbeit derjenigen, die sie gegebenenfalls regulieren wollen, angewiesen sind. Besonders problematisch gestalten sich dabei die Problemwahrnehmung und die Folgeabschätzung der Politiker. Die politischen Vertreter als unspezialisierte Interessenvertreter ihrer Wähler sind allein kaum in der Lage Fehlentwicklungen zeitnah zu erfassen, geschweige den zukünftig drohende negative Folgen abzuschätzen. Dies spitzt sich in komplexen und stark ausdifferenzierten Bereichen wie der wissenschaftlichen Forschung noch weiter zu.

Verstärkt wird dieses „Problem“ der Politik neben der immer stärker zunehmenden Differenzierung der einzelnen Bereiche durch die begrenzte Rekrutierungsfähigkeit der Politik. Die politischen Ämter sind faktisch nicht zwangsläufig von der Befähigung abhängig, sondern von den Wahlergebnissen, dem Status der jeweiligen Person innerhalb der Partei und dem vorhandenen Personal innerhalb der Regierungsparteien. So haben im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages beispielsweise aktuell mit Ulla Burchardt und Cornelia Pieper eine Diplompädagogin und Diplomsprachmittlerin den Vorsitz.[6] Durch diese fehlende technische Spezialisierung ist der Ausschuss, wie die meisten anderen auch, in hohem Maß auf die Unterstützung externer Gruppen und Institutionen angewiesen. Die Politik ist demnach bei der Problemwahrnehmung, -formulierung und -lösungsfindung auf den unterstützenden Input der thematischen Experten aus der Gesellschaft, den Medien und sogar den der möglichen Regulierung betroffenen Wissenschaftlern angewiesen.

Dieser notwendige Input verschiedener Interessengruppen führt jedoch seinerseits, besonders in Forschungsgebieten ohne vorhandener Erfahrung, mit bestimmten Fragen zu einer Differenzierung der Problemwahrnehmung. Wie und auf welcher Ebene muss ein neues Problem betrachtet werden? Wie in meinem Beispiel der embryonalen Stammzellenforschung stehen sich wirtschaftliche, ethisch-moralisch und rechtliche Argumente gegenüber, die wiederum komplexe Fragen aufwerfen. Ist es ethisch verantwortbar Embryonen für die Forschung zu töten? Haben Embryonen Menschenwürde? Wann endet die verfassungsmäßige Forschungsfreiheit? Diese Fragen bestimmten die kontroverse Diskussion um die Nutzung embryonaler Stammzellen. Dabei engagierten sich von Kirchenvertretern, über Wirtschaftsvertretern und Politiker bis zu den betroffenen Wissenschaftlern viele verschiedene Gruppen in dieser Frage. Während die Wissenschaftler sich auf pragmatische Gründe stützen und betonen, dass sie im Wettstreit mit der internationalen Forschungskonkurrenz benachteiligt und abgehängt werden, verweist Kardinal Lehmann auf eine Aushöhlung des Rechts auf Leben durch die Verwendung von Embryonen.[7] Es wird somit auf sehr verschiedenen Ebenen argumentiert. Diese Unterschiedlichkeit lässt sich auch mit der Unerfahrenheit mit dem spezifischen Problem, wie der Einschätzung des Status von Embryonen erklären. Für die Politik hieß das in den letzten Jahrzehnten vor allem „Politisches Lernen“ für die Thematik der Gentechnik, also der Sammlung von Erfahrungen mit neuen Fragen und Problemen.[8] Jedoch muss theoretisch nicht nur die Wissenschaft sondern auch die Politik daran interessiert sein im Wettlauf um die Hochtechnologien nicht zurückzufallen. Denn die Forschung ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil der aktuellen und der zukünftigen Volkswirtschaft eines Staates sondern sichert auch seine Vorsorgefähigkeit in Umwelt, Medizin oder Sicherheitspolitik.[9]

Dadurch wird die Frage nach den Gründen für Regulierung noch interessanter, aber auch die Frage nach der allgemeinen Steuerungsfähigkeit der Politik in komplexen ausdifferenzierten Gesellschaften nimmt an Relevanz zu. Die Diskussion über die Regierungsfähigkeit wird bereits seit einigen Jahrzehnten innerhalb der Wissenschaft, wie beispielsweise durch Niklas Luhman, der den modernen Gesellschaften mit seiner Systemtheorie eine Unregierbarkeit bescheinigte, kontrovers diskutiert. Viele Maßnahmen der Politik in den letzten Jahrzehnten wurden von Kritikern als Politik des „Sich-Hindurchwurstelns“ abgekanzelt und die generelle politische Steuerung als Illusion charakterisiert.[10]

Es ist vor allem die Komplexität der Aufgaben und der Herausforderungen in modernen differenzierten Gesellschaften die zu einem Übergang von einem langfristig planenden Handeln der Politik zu einem situativen reagieren des „Sich-Durchwurstelns“ führt. In Folge dieser Komplexität und der immer schnelleren Entwicklung nimmt der Staat nicht länger die Position eines Schrittmachers des Fortschritts ein, sondern wird zur „feuerlöschenden“ und nachbessernden Institution.[11]

2.2 Das Zeitproblem der Politik – Zwischen Problemwahrnehmungsdauer und Reaktionsreichweite

Der größte Gegner der Politik ist die Zeit. Es scheint ein aussichtsloser Wettlauf zu sein zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und dem politischen reagieren, bei dem der Staat als „reaktiver Mitspieler“ bei jeder neuen Entwicklung eine gewisse Reaktionszeit braucht. Selbst wenn die Politik direkt betroffen ist, wie in der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Konstellation des fünf Parteiensystems scheint der Politik,[12] wie der Koalitionsbildungsversuch der SPD nach der Landtagswahl in Hessen 2008 deutlich gezeigt hat, die Anpassung schwer zufallen. Da ist es kaum verwunderlich, dass sich diese Reaktionszeit in Politikfremden Bereichen, wie in der Wissenschaft, noch einmal deutlich verlängert und die benötigte Zeit um Forschungsfortschritte zu reagieren deutlich zunimmt. In dieser Zeit stagniert die Forschung jedoch nicht und die Politik wird in eine endlose Aufholjagd gedrängt. Dabei hat gerade die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Bereich der Gentechnik Möglichkeiten eröffnet, die vor einigen Jahrzehnten noch als unvorstellbar und daher für die Politik als nicht relevant abgetan worden wären.

Der Beschleunigungsdruck der politischen Systeme, in einem geringen Zeitraum verbindliche Entscheidungen zu treffen, resultiert demnach in erster Linie aus der Beschleunigung des Entwicklungstempos anderer sozialer Systeme. Die Reichweite der getroffenen Entscheidungen nimmt demgegenüber immer mehr zu.[13] Exemplarisch dafür ist wiederum die Erforschung der Gentechnik. Die Fortschritte scheinen in immer kürzeren Abständen zu Erfolgen und die Entwicklung sich stetig zu beschleunigen.

Dadurch ist die Politik gezwungen rasche Entscheidungen zu treffen, um nicht längst wieder veraltete Verfahren und Forschungsstände zu untersuchen. Die Entscheidung über die Gentechnik jedoch ist für die Gesellschaft eine fundamentale zu Gunsten ethisch und christlich-religiöser Werte oder dem Forschungspragmatismus. Die Reichweite wäre demnach unermesslich groß, während die praktische Entscheidungszeit sich auf ein Minimum reduziert.

Es ist jedoch nicht nur die Politik, die unter dem Druck sich stetig schneller entwickelnder Systeme wie Wissenschaft und Wirtschaft steht, sondern jeder Bürger wird mit diesen Innovationen konfrontiert. Technische Entwicklungen wie das Internet und Handy führen zu einer Beschleunigung des gesellschaftlichen Lebens. Informationen werden im Alltag nur noch selten reflektiert und Nachrichten von neuen spektakulären Forschungserfolgen führen zu einer Bedrohungsempfindung. Die Menge der erhältlichen Informationen und der Druck des „sich immer auf dem Laufenden halten“ zu müssen führen zu einem Mangel der Reflektionsmöglichkeit und –fähigkeit. Man hat, wenn überhaupt, gerade noch Zeit sich innerhalb seiner funktionalen Spezialisierung den Luxus der Reflektion zu leisten. Die Gesellschaft ebenso wie die Politik in modernen funktional differenzierten Gesellschaften ist geprägt von einem „Überforderungssyndrom“.[14] Technische Fortschritte und ihre Funktionsweisen sind kaum noch nachvollziehbar und werden oftmals nur akzeptiert, ohne die Funktion oder den Nutzen zu hinterfragen. Diese Überforderung und das mangelnde Verständnis der Entwicklungen führen zu einem festklammern am Ist-Zustand und zu Verlustängsten. Der Ruf nach politischer Steuerung wird in diesen Zeiten der Überforderung, die sich schnell zu einer Krise zuspitzen, deutlich lauter. Wie die Finanzkrise aktuell verdeutlicht ist der erste Ansprechpartner der überforderten Bevölkerung der Staat. Die Ziele der finanziellen Sicherheit lassen sich mit dem Konzept der Zeitstrukturen auch in das Bedürfnis der Entschleunigung der Wirtschaft und dem verlangen nach Erklärbarkeit des Wirtschaftssystems übersetzen. Die Verlustängste der Bevölkerung gehen stets einher mit der mangelnden Erklärbarkeit komplexer Systeme oder technischer Neuerungen.[15]

[...]


[1] Gerhard Schröder, zitiert nach: <http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,360344,00.html>, 6.10.2008.

[2] Vgl. Kodalle, Klaus-M./Rosa, Hartmut, Einleitung. Der beschleunigte Wandel sozialer Wirklichkeit, in: Kodalle, Klaus-M./Rosa, Hartmut (Hrsg.), Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels: Konsequenzen und Grenzen, Würzburg 2008, S. VII.

[3] Vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina, Art. Politische Steuerung, in: Schubert, Klaus/Klein, Martina, Politiklexikon, Bonn 2007, S. 235.

[4] Vgl. Faust, Jörg/Lauth, Hans-Joachim, Politikfeldanalyse, in: Mols, Manfred/ Lauth, Hans-Joachim/Wagner, Christian, Politikwissenschaft. Eine Einführung, S. 304.

[5] Vgl. Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 27ff..

[6] Vgl. <http://www.bundestag.de/ausschuesse/a18/mitglieder.html>, 19.12.2008.

[7] Vgl. < http://www.focus.de/gesundheit/news/stammzellenforschung_aid_137360.html>, 10.12.2008.

[8] Vgl. Faust/Lauth, Politikfeldanalyse, in: Mols/ Lauth/Wagner, Politikwissenschaft, S. 305.

[9] Vgl. Krieger, Wolfgang, Forschung und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: APuZ (B24) 1995, S. 35.

[10] Vgl. Faust/Lauth, Politikfeldanalyse, in: Mols/ Lauth/Wagner, Politikwissenschaft, S. 307.

[11] Vgl. Kodalle, Klaus-M./Rosa, Hartmut, Einleitung., in: Kodalle/Rosa, Rasender Stillstand, S. VII.

[12] Vgl. Schmidt, Manfred G., Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, Bonn 2007, S. 97f..

[13] Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 407.

[14] Vgl. Frey, Dieter/Kodalle, Klaus-M., Beschleunigung, Innovation und die Angst vor Veränderung. Über die Erfordernis einer neuen Kommunikationskultur, in: Kodalle/Rosa (Hrsg.), Rasender Stillstand, S. 103.

[15] Vgl. Frey/Kodalle, Beschleunigung, Innovation, in: Kodalle/Rosa (Hrsg.), Rasender Stillstand, S. 106f..

Fin de l'extrait de 26 pages

Résumé des informations

Titre
Regulierter Fortschritt
Sous-titre
Die Politik am Gaspedal des wissenschaftlichen Fortschritts? Eine Untersuchung am Beispiel der Gentechnik in England und Deutschland
Université
http://www.uni-jena.de/  (Institut für Politikwissenschaft)
Cours
Hauptseminar "Politik und Innovation"
Note
1,7
Auteur
Année
2009
Pages
26
N° de catalogue
V126080
ISBN (ebook)
9783640314751
ISBN (Livre)
9783640318223
Taille d'un fichier
498 KB
Langue
allemand
Mots clés
Politik, funktionale Differenzierung, Beschleunigung, Gesellschaft, Gentechnologie, Stammzellenforschung, Regierung, moderne Gesellschaft, Staat, Embryo, Regulierung, Staatlichkeit
Citation du texte
Steffen Schröder (Auteur), 2009, Regulierter Fortschritt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126080

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