Zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus

Die Rezeption des 11. September 2001 in der sozialwissenschaftlichen Literatur


Thesis (M.A.), 2008

132 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Zur Definition von Terrorismus

3. Theoretische Ansätze zur Erklärung von Terrorismus
3.1 Analyseebenen
3.2 Variablenkategorien

4. Strukturelle Erklärungsmodelle
4.1 Die Ebene der Wirtschaft
4.1.1 Statische Faktoren
4.1.2 Dynamische Faktoren
4.1.3 Ermöglichungsfaktoren
4.2 Die Ebene der Kultur
4.2.1 Statische Faktoren
4.2.2 Dynamische Faktoren
4.2.3 Ermöglichungfaktoren
4.3 Die Ebene der Politik
4.3.1 Statische Faktoren
4.3.2 Dynamische Faktoren
4.3.3 Ermöglichungfaktoren
4.4 Die gesellschaftliche Ebene
4.5 Die transnationale Ebene

5. Akteurszentrierte Erklärungsmodelle
5.1 Psychologische Ansätze
5.1.1 Die Ebene des Individuums
5.1.2 Die Ebene der Gruppe
5.1.3 Die Ebene der Organisation
5.2 Der rationalistische Ansatz
5.2.1 Die Ebene des Individuums
5.2.2 Die Ebene der Gruppe
5.2.3 Die Ebene der Organisation

6. Synthetische Erklärungsmodelle

7. Die Rezeption des 11. September 2001 in der sozialwissenschaftlichen Literatur
7.1 Die gesellschaftliche Strukturebene
7.2 Die transnationale Strukturebene
7.3 Die Akteurseebene

8. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Tabelle 2.1: Häufigkeit von Definitionselementen nach Schmid und Jongman (1988)

Tabelle 2.2: Häufigkeit von Definitionselementen in ausgewählten Texten ab

Tabelle 3.1: Analyseebenen zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus

Tabelle 3.2: Variablenkategorien zur Systematisierung der strukturellen Ursachen von Terrorismus

Tabelle 4.1: Strukturelle Ursachen von Terrorismus: Wirtschaftliche Faktoren

Tabelle 4.2: Strukturelle Ursachen von Terrorismus: Kulturelle Faktoren

Tabelle 4.3: Strukturelle Ursachen von Terrorismus: Politische Faktoren

Tabelle 4.4: Strukturelle Ursachen von Terrorismus

Tabelle 7.1: Strukturelle Ursachen der Anschläge vom 11. September 2001: Literature Review

Abbildung 4.1: Politisch-strukturelle Ursachen von Terrorismus

Abbildung 5.1: Ursachen von Terrorismus auf der Akteursebene: Psychologische Faktoren

Abbildung 6.1: Interaktionsmodell der Entstehung von Terrorismus nach Moghadam

1. Einleitung

Seit dem 11. September 2001 hat das Thema ‚Terrorismus’ nicht nur in Politik und Medien, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Anfänge der analytischen Literatur zum Phänomen des Terrorismus reichen in die 1960er Jahre zurück, als die sozialwissenschaftliche Theoriebildung sich mit den anti-kolonialen Bewegungen der Nachkriegsära zu befassen begann. Allerdings konnten diese frühen Ansätze zumeist nur insofern als theoretisch gelten, als sie sich mit den jeweiligen „Theorien“ (aus heutiger Sicht müsste man eher sagen: Ideologien oder Strategien, vgl. Bell 1975:10-19; White 1991:8-14) auseinandersetzten, die jenen terroristischen Strömungen zugrunde lagen. In den 1970er Jahren bekam die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Terrorismus dann zunehmend Hochkonjunktur, besonders aufgrund des Auf-kommens eines internationalen Terrorismus sowie terroristischer Bewegungen in diversen Industriestaaten in den späten 1960er Jahren wie beispielsweise der deutschen Baader-Meinhof-Gruppe bzw. Roten Armee Fraktion (vgl. Cronin 2002/03:37; Dietl 2002; Kidder 1990:135-136). Diese Welle des wissenschaftlichen Interesses für das Phänomen des Terrorismus hielt während der 1980er Jahre an und flaute erst zu Beginn der 1990er Jahre allmählich wieder ab. Allerdings wurden in der analytischen Literatur – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bereits seit Mitte der 1980er Jahre mehrheitlich nur noch bestehende Argumente aufgegriffen und kaum neue Erkenntnisse zu Tage gefördert. Entsprechend konstatierte Martha Crenshaw, die ‚Grande Dame’ der Terrorismusforschung, bereits 1981, dass der Stand der Theoriebildung in der Terrorismusforschung nach wie vor viele Wünsche offen lasse: „In general, propositions about terrorism lack logical comparability, specification of the relationsh[i]p of variables to each other, and a rank-ordering of variables in terms of explanatory power“ (Crenshaw 1981:380). Auch Schmid und Jongman (1988:62) bemerkten in der ersten Auflage ihres drei Jahre später veröffentlichten Terrorismus-Readers: „It must be stressed from the beginning that the term ‚theory’ is taken more in the sense of current thinking and interpretations than in terms of formal propositions... Theories in the more rigorous sense of the term, with prognostic power, are nonexistent“. Dieser Mangel an Fortschritten im Bereich der Terrorismustheorie hielt sich bis vor wenigen Jahren ebenso hartnäckig wie die unter Terrorismusforschern weit verbreitete These, dass es „eine allgemein verbindliche weltweite Definition von Terrorismus nie geben“ könne (Hirschmann 2003:12; vgl. auch: Laqueur 1977:79). Ohne ein gewisses Maß an Generalisierung und analytischer Abstraktion kann es allerdings auch keine wissenschaftliche Theoriebildung geben (vgl. Ross 1999:171).

Um einen Beitrag zur Theoriebildung in der sozialwissenschaftlichen Terrorismus-forschung zu leisten, sollen in dieser Arbeit die bestehenden Ansätze zur Erklärung von Terrorismus schematisch geordnet, miteinander verglichen und kritisch diskutiert werden. Zwar existieren bereits mehrere Studien, die aus der Fülle der Literatur über die Entstehung von Terrorismus einen oder gar zwei Thoriestränge herausdestillieren und gegebenenfalls vergleichen (Beispiele hierfür sind Crenshaw 2001 und Victoroff 2005); noch nie wurde allerdings eine mehr oder weniger vollständige Bestandsaufnahme dieses Theoriefeldes im Sinne eines „Literature Review“ vorgenommen – eine Lücke, die mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll. Außerdem wird in dieser Arbeit der Versuch unternommen, die existierenden theoretischen Ansätze in einen übergreifenden theoretischen Rahmen einzubinden und auf diese Weise die in der Terrorismusliteratur diskutierten möglichen Ursachen von Terrorismus als Glieder einer Kausalkette von erklärenden Variablen zu erfassen. Auch dies stellt eine Neuerung gegenüber den bestehenden Ansätzen dar. Die für diese Arbeit rezipierten Texte vermögen selbstverständlich die Fülle der analytischen Literatur zur Entstehung von Terrorismus nicht komplett abzudecken. Es wurde aber versucht und sollte auch hinreichend gelungen sein, durch Datenbank-Recherchen und Literatur-Querverweise die wichtigsten und für die einzelnen Stränge in der Terrorismusforschung richtungsweisenden Arbeiten zu eruieren. Obwohl eine kaum zu überschauende Zahl terroristischer Fallstudien existiert, konzentriert sich die folgende Analyse nur auf solche Texte, die ihren Schwerpunkt auf die Formulierung allgemeingültiger Aussagen zur Entstehung von Terrorismus legen.

Eine sinnvolle Diskussion solcher Entstehungsmechanismen ist jedoch nur auf der Grundlage einer geeigneten Arbeitsdefinition von Terrorismus möglich, die daher in Kapitel 2 auf der Basis bereits bestehender Definitionen entwickelt werden soll. Kapitel 3 widmet sich dann der Identifkation geeigneter Analyseebenen und Variablenkategorien zur Systematisierung der in der Literatur diskutierten Ursachen von Terrorismus. Der Rest der Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Während sich das vierte Kapitel aus einer interdisziplinären Perspektive heraus der kritischen Sichtung und Ordnung der bestehenden analytischen Literatur zur Entstehung von Terrorismus zuwendet, wird im fünften Kapitel untersucht, wie die terroristischen Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 in der wissenschaftlichen Literatur verarbeitet wurden. Insbesondere wird dabei gezeigt, welche theoretischen Ansätze bei der sozialwissenschaftlichen Analyse des 11. September 2001 überwogen und welche Impulse daraus für die Weiter-entwicklung der Terrorismustheorie in Richtung eines integrierten Ansatzes entstehen könnten.

Kapitel 3 widmet sich dann der Identifkation geeigneter Analyseebenen und Variablenkategorien zur Systematisierung der in der Literatur diskutierten Ursachen von Terrorismus zu. Der Rest der Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Während sich das vierte Kapitel aus einer interdisziplinären Perspektive heraus der kritischen Sichtung und Ordnung der bestehenden analytischen Literatur zur Entstehung von Terrorismus zuwendet, wird im fünften Kapitel untersucht, wie die terroristischen Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 in der wissenschaftlichen Literatur verarbeitet wurden. Insbesondere wird dabei gezeigt, welche theoretischen Ansätze bei der sozialwissenschaftlichen Analyse des 11. September 2001 überwogen und welche Impulse daraus für die Weiter-entwicklung der Terrorismustheorie in Richtung eines integrierten Ansatzes entstehen könnten.

2. Zur Definition von Terrorismus

Dass die Theoriebildung in der Terrorismusforschung noch sehr in den Anfängen begriffen ist, mag unter anderem daran liegen, dass viele Autoren sich nach wie vor scheuen, Terrorismus als eine spezifische und analytisch abgrenzbare Form des politischen Widerstands zu begreifen (vgl. Ross 1999:170-171; Wieviorka 1995:605). So argumentiert zum Beispiel Tilly: „Terrorism is not a single causally coherent phenomenon. No social scientist can speak responsibly as though it were” (2004:12). Dementsprechend häufig findet sich in der Literatur zur Entstehung von Terrorismus nach wie vor der Hinweis, dass eine allgemeingültige Definition dieses Phänomens nicht möglich und überdies auch nicht notwendig sei: „we should perhaps think in terms of ‚terrorisms’ and free ourselves from the tyranny of the search for an all-ambracing and universally acceptable definition“ (Gearson 2002:22). Umso mehr erstaunt es deshalb, dass trotz dieses allgemein vorherrschenden Tenors die überwiegende Mehrheit der in der analytischen Literatur vorgeschlagenen Definitionen von Terrorismus im Kern übereinstimmen – „the common ground is evident but there are differences of emphasis“ (Whittaker 2001:4). Beispielsweise untersuchten Schmid und Jongman 109 wissenschaftliche und juristische Definitionen von Terrorismus und kamen zu dem Ergebnis, dass drei Merkmale in mehr als der Hälfte der vorgeschlagenen Definitionen vorkamen (vgl. Schmid und Jongman 1988:5-6). Dabei handelte es sich um die Anwendung von Gewalt (83,5%), die Zuschreibung einer politischen Dimension (65%) sowie die Verbreitung von Furcht und Schrecken (51%) als Ziel oder Folge des Terrorismus. Viele Autoren verwiesen außerdem auf die bloße Androhung von Gewalt (47%), ein psychologisches Kalkül (41,5%), die Unterscheidung von Opfern und Zielpopulation (37,5%) sowie die rationale Organisation terroristischer Aktivitäten (32%) als weitere Kennzeichen von Terrorismus. Tabelle 2.1 gibt die Gesamtheit der von Schmid und Jongman eruierten Definitionselemente wieder.

Tabelle 2.1: Häufigkeit von Definitionselementen nach Schmid und Jongman (1988)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Element Frequency

1. Violence, force 83.5 %
2. Political 65 %
3. Fear, terror emphasized 51 %
4. Threat 47 %
5. (Psych.) effects and (anticipated) reactions 41.5 %
6. Victim-target differentiation 37.5 %
7. Purposive, planned, systematic, organized action 32 %
8. Method of combat, strategy, tactic 30.5 %
9. Extranormality, in breach of accepted rules, without humanitarian constraints 30 %
10. Coercion, extortion, induction of compliance 28 %
11. Publicity aspect 21.5 %
12. Arbitrariness; impersonal, random character; indiscrimination 21 %
13. Civilians, noncombatants, neutrals, outsiders as victims 17.5 %
14. Intimidation 17 %
15. Innocence of victims emphasized 15.5 %
16. Group, movement, organization as perpetrator 14 %
17. Symbolic aspect, demonstration to others 13.5 %
18. Incalculability, unpredictability, unexpectedness
of occurrence of violence 9 %
19. Clandestine, covert nature 9 %
20. Repetitiveness; serial or campaign character of violence 7 %
21. Criminal 6 %
22. Demands made on third parties 4 %

Um zu einer für die vorliegende Arbeit angemessenen Arbeitsdefinition von Terrorismus zu gelangen, wurde Schmid und Jongmans Schema weitgehend übernommen und auf alle Definitionen übertragen, die in für diese Arbeit rezipierten und ab 1988 (d.h. im Anschluss an Schmid und Jongmans Analyse) erschienenen Texten vorkommen. Juristische Definitionen, wie beispielsweise die des amerika-nischen Verteidigungs- bzw. Außenministeriums oder der britischen Regierung, wurden bei dieser Analyse außen vorgelassen, da solche Definitionen oft eher an strafrechtlichen Anforderungen als an einer wissenschaftlichen Verwertbarkeit ausgerichtet sind.[1] Insgesamt enthielt die so gesichtete Literatur 32 originäre Definitionen von Terrorismus.[2] Der Großteil der Definitionen entstammt politik-wissenschaftlichen Texten (69%), gefolgt von soziologischen (13%), psychologi-schen (9%) sowie wirtschaftswissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen und rechts-wissenschaftlichen Texten (je 3%). In die Analyse aufgenommen wurden ebenfalls nur solche Definitionselemente, die in den 32 analysierten Definitionen mehr als einmal vorkamen. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchung, die in Tabelle 2.2 dargestellt sind, lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ableiten.

Zunächst zeigt sich, dass drei Definitionselemente mit einer Auftrittshäufigkeit von über 50% mit den Ergebnissen Schmid und Jongmans übereinstimmen – nämlich die Kategorien Gewalt, politisch und Betonung von Angst und Schrecken. Nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Autoren handelt es sich beim Terrorismus also zunächst schlicht um eine politisch motivierte Form der Gewalt und Angstver-breitung (vgl. Crenshaw 1992:1), womit allerdings noch nichts darüber ausgesagt wäre, ob sich Terrorismus darin von anderen Formen des politischen Konflikt-austrags wie beispielsweise Revolutionen, Bürgerkriegen oder Guerillakriegen unterscheidet bzw. ob eine solche Unterscheidung analytisch überhaupt möglich ist.

Tabelle 2.2: Häufigkeit von Definitionselementen in ausgewählten Texten ab 1988

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Element Häufigkeit

1. Gewalt 90,5 % 83,5 %
2. Politisch 59,5 % 65 %
3. Angst, Schrecken betont 56,5 % 51 %
4. Differenzierung von Opfern und Zielen 50 % 37,5 %
5. Organisiert, vorsätzlich 44 % 32 %
6. Zivile Opfer 34,5 % 17,5 %
7. Androhung von Gewalt 34,5 % 47 %
8. Nichtstaatliche Akteure als Ausführende 31,5 % 14 %
9. Aus dem Untergrund 22 % 9 %
10. Strategie der Schwächeren 22 % n.a.
11. Andauernd, wiederholt 9,5 % 7 %
12. Willkürlichkeit 9,5 % 21 %
13. Kommunikationsaspekt 9,5 % 13,5 %

Ein Blick auf die in den untersuchten Terrorismusdefinitionen gemeinsam mit dem Begriff des Politischen aufgeführten Attribute vermag hier einen ersten Aufschluss zu geben, denn während die meisten Autoren den Begriff „politisch“ weitgehend unkommentiert verwenden, präzisiert beispielsweise die von Waldmann (1998:10) vertretene Definition das spezifisch Politische am Terrorismus dahingehend, dass dieser „gegen eine politische Ordnung“ gerichtet sei. Anders als andere Formen der politischen Gewaltanwendung zielt Terrorismus also – nach Waldmann – nicht primär auf die Ablösung der Herrschenden ab, sondern geht einen Schritt tiefer und nimmt sich die Destabilisierung der politischen Herrschaftsordnung zum Ziel, um so Raum für deren Neuordnung zu schaffen. Andere Autoren wie Bueno de Mesquita (2000:339) fassen die politische Dimension des Terrorismus enger und beschränken sie auf die versuchte Einflussnahme auf die Politik oder Handlungsweise einer Regierung, wie zum Beispiel durch die Sabotage von Friedensverhandlungen. Beiden Auslegungen ist jedoch gemein, dass terroristische Anschläge gerade nicht auf jene Entscheidungsträger verübt werden, deren Macht bzw. Politik sie beeinträchtigen sollen. Deshalb enthält eine steigende Anzahl von Terrorismusdefinitionen auch das zentrale Element der Differenzierung von Opfern und Zielen, d.h. Terroristen wählen ihre (menschlichen oder materiellen) Ziele vorrangig nach dem Kriterium aus, ob durch deren Tod bzw. Zerstörung eine möglichst große Anzahl anonymer Zuschauer in Angst und Schrecken versetzt werden kann, wodurch in der medialen Öffentlichkeit ein Resonanzraum für die Anliegen der Terroristen entsteht. Auf ebendiesen Sachverhalt beziehen sich auch die von 9,5% der Autoren verwendeten Kategorien der Willkürlichkeit und des Kommunikationsaspekts von Terrorismus. Bisher kann der Großteil der hier rezipierten wissenschaftlichen Terrorismus-definitionen daher auf den gemeinsamen Nenner gebracht werden, dass Terrorismus eine politisch motivierte Form der Gewaltanwendung mit dem Ziel der Veränderung einer Herrschaftsordnung oder Politikrichtung mittels der Verbreitung von Angst und Schrecken unter einer Zielpopulation ist.

Interessanterweise hat sich der Anteil jener Definitionen, die die Ausführung terroristischer Aktivitäten auf nicht-staatliche Akteure beschränken, seit 1988 mehr als verdoppelt. Da nicht-staatliche Akteure für gewöhnlich in einem negativ-asymmetrischen Machtverhältnis zu den Repräsentanten des Staatsapparats stehen, ist das Auftreten des seit 1988 neu hinzugekommenen Definitionselements Strategie der Schwächeren als mit der ersten Kategorie verknüpft anzusehen. Gleiches gilt für das Definitionselement aus dem Untergrund, welches allerdings analytisch unschärfer und daher für eine theoriegeleitete Analyse terroristischer Bewegungen weniger geeignet ist. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass sich in der Terrorismusliteratur – wie bereits von Crozier (1974) vorgeschlagen – mehr und mehr die Ansicht zu etablieren scheint, dass Terrorismus idealtypischerweise ein reines bottom-up Phänomen sei. Für alle Formen staatlicher Gewalt, auf die in Abschnitt 4.3.2 ebenfalls näher einzugehen sein wird, sollte nach Crozier der alternative Begriff des ‚Staatsterrors’ bzw. der Repression als „the converse of terrorism“ verwendet werden (zitiert in: Schmid und Jongman 1988:35; vgl. auch: Crelinsten 1987:15). Wir ergänzen somit unsere vorläufige Arbeitsdefinition von Terrorismus um das Element der Gewaltanwendung durch dezidiert nicht-staatliche Akteure.

Abschließend verweisen 44% der für diese Arbeit untersuchten Definitionen von Terrorismus darauf, dass nur solche Anschläge als terroristisch gelten könnten, die vorsätzlich geplant wurden. Manche Autoren gehen sogar noch einen Schritt weiter und postulieren, dass Terrorismus definitionsgemäß nur von organisierten Gruppen durchgeführt werden könne. Gemäß letzterer Definition würde allerdings beispiels-weise der von Timothy McVeigh 1995 verübte Anschlag auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City, der 168 Leben forderte, nicht als terroristischer Akt gelten (obwohl dem Anschlag eine politische Rationalität zugrunde lag), da McVeigh nach bisherigen Erkenntnissen alleine handelte (vgl. Borger 2001). Deshalb soll in der vorliegenden Arbeit das Definitionselement der Organisiertheit von Terrorismus lediglich im Sinne der vorsätzlichen Planung und Durchführung verstanden werden. Diese wird ihrerseits jedoch bereits durch das Element der Gewaltanwendung zu einem festgelegten politischen Zweck impliziert, weshalb die hier erarbeitete Arbeitsdefinition von Terrorismus keinen expliziten Verweis auf das Element der Vorsätzlichkeit bzw. Organisiertheit enthalten soll.

Schließlich finden sich in der Literatur noch einige Definitionselemente, die für die hier entwickelte Arbeitsdefinition von Terrorismus nicht weiter in Betracht gezogen werden sollen. Dabei handelt es sich um die Definitionselemente der Wiederholung und Dauer sowie der zivilen Ziele, welche für die Konzeptionalisierung von Terrorismus nicht zwingend erforderlich oder sogar hinderlich sind. Schließlich würde es sich bei den Anschlägen auf das World Trade Center und das (non-zivile) US-Verteidigungsministerium am 11. September 2001 auch dann um terroristische Anschläge handeln, wenn sie von einer Gruppe durchgeführt worden wären, die sich nur für dieses eine Selbstmordattentat zusammengefunden hätte. Auch das Definitionselement der reinen Androhung terroristischer Gewalt soll hier als Definitionselement außen vorgelassen werden, da es eher für den strafrechtlichen Gebrauch als für die wissenschaftliche Analyse der Ursachen von Terrorismus Bedeutung hat. Als Quintessenz lässt sich nun aus dem oben Gesagten folgende Arbeitsdefinition von Terrorismus ableiten:

Terrorismus ist eine politisch motivierte Form der Gewaltanwendung durch nicht-staatliche Akteure mit dem Ziel der Veränderung einer Herrschaftsordnung oder Politikrichtung mittels der Verbreitung von Angst und Schrecken unter einer Zielpopulation.

3. Theoretische Ansätze zur Erklärung von Terrorismus

Obwohl inzwischen eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten zu den Ursachen von Terrorismus existiert, hat es bis dato erstaunlich wenige Versuche gegeben, die vohandenen Ansätze schematisch zu ordnen und in einen übergreifenden Theorierahmen zu integrieren: „A number of scholars have stressed the need for a multi-level approach at the etiology of terrorism..., but few have attempted to conceptualize such an approach in more or less formal models“ (Moghadam 2006:83-84). Einige der (wenigen, aber äußerst hilfreichen) Literaturübersichten zu diesem Thema suchten einen Lösungsansatz darin, die bestehenden Ansätze zu Meta-Theorien zusammenzufassen, womit sich das analytische Dickicht der terroristischen Ursachenforschung allerdings noch verdichtete, da aus den dort verwendeten Theoriebezeichnungen keine Hierarchie von Analyseebenen ersichtlich wird. So stehen Ansätze wie die „World System Theory“ und die „Blowback Theory“ (Bergesen und Lizardo 2004) bislang unkommentiert neben einer „Marxist Theory“, der „Theory of the Unbalance of the Social System“ (Ferracuti 1982), der „Psychopathological Theory“, der „Rational Choice Theory“ und soziologischen Theorien wie der „Social Learning Theory“ oder der „Opression Theory“ (Victoroff 2005). In dieser Arbeit soll eine Schematisierung der existierenden Erklärungsansätze daher nicht entlang der von den einschlägigen Autoren zugeordneten Bezeichnungen unternommen werden, sondern anhand der Unterscheidung von Analyseebenen und Variablenkategorien, die den genannten Theorien zugrundeliegen. Wie zu zeigen sein wird, ergibt sich aus dieser Vorgehensweise ein recht überschaubarer analytischer Bezugsrahmen zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus.

3.1 Analyseebenen

In der Literatur wird generell auf zwei grundlegende Dichotomien von Analyseebenen Bezug genommen. Zum einen handelt es sich dabei um die Unterscheidung zwischen strukturellen Faktoren und „more dynamic system processes“ (Bergesen und Lizardo 2003:21; vgl. auch: Krumwiede 2005:35-40), d.h. um die Dichotomie von Struktur und Prozess bzw. statisch und dynamisch. Zum anderen beziehen sich nahezu alle analytischen Autoren auf die grundlegende Unterscheidung von Struktur und Akteur, auch wenn diese Unterscheidung kaum je explizit gemacht wird. Während beispielsweise Crenshaw, die in ihrem richtungsweisenden Artikel The Causes of Terrorism (1981) als erste einen theoretischen Rahmen zur Analyse von Terrorismus vorschlug, die drei Analyse-ebenen der „situational variables“ (strukturelle Ebene), der „strategy of the terrorist organization“ (Akteursebene) sowie der „individual participation“ (Akteursebene) verwendet (Crenshaw 1981:380), unterteilt Victoroff (2005:11) die von ihm untersuchten Ansätze einerseits in „top-down approaches that seek the seeds of terrorism in political, social, [or] economic ... circumstances“ (strukturelle Ebene) und andererseits in „bottom-up approaches that explore the characteristics of individuals and groups that turn to terrorism“ (Akteursebene). Eine Verquickung beider Dichotomien kommt in der Konzeption Posts, Rubys und Shaws (2002:75) zur Anwendung, welche die Ursachen von Terrorismus in vier Kategorien einteilt: erstens „historical, cultural and contextual features...“ (Struktur), zweitens „key actors affecting the group“ (Akteur), drittens „the group itself, including the characteristics, processes and structures that define it“ (Akteur; statisch und dynamisch) sowie viertens „the immediate situation confronting the group that can trigger a change in tactics to increasing levels of violence or terrorism” (Struktur und Akteur; dynamisch). Um analytisch eindeutige Kategorien zu verwenden, sollen also in dieser Arbeit die Analyseebenen von Struktur und Akteur beibehalten und die Struktur-Prozess-Dichotomie in statische und dynamische Faktoren aufgelöst werden, die sowohl auf der Ebene der Struktur als auch auf der Ebene der Akteure ihre Wirksamkeit entfalten. Somit bleibt im Hinblick auf die Analyseebenen des in dieser Arbeit verwendeten theoretischen Bezugsrahmens nur noch zu klären, auf welchen Sub-Ebenen der Kategorien ‚Akteur’ und ‚Struktur’ die verschiedenen Ursachen von Terrorismus angesiedelt sein können.

Autoren, die sich mit akteurstheoretischen Ansätzen zur Erklärung von Terrorismus auseinandersetzen, nähern sich diesem Thema meist entweder von einem bestimmten theoretischen Ausgangspunkt her, wie beispielsweise psychologischen oder rationalistischen Prämissen, oder beginnen mit einer Aufzählung der von ihnen favorisierten Analyseebenen. In beiden Fällen werden die drei Ebenen des Individuums, der einzelnen ‚Terrorzelle’ und gegebenenfalls der übergeordneten terroristischen Organisation verwendet, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (vgl. Crenshaw 1990b:249). Während die meisten Texte mit psychologischer Ausrichtung die Ursachen von Terrorismus lediglich auf der individuellen Ebene verorten, verweisen Autoren wie Crenshaw (1981), Post (1979) und Victoroff (2005) darauf, dass auch gruppenpsychologische Mechanismen für die Entstehung von Terrorismus relevant sein können, und Post (1979) wendet als einziger Autor das Instrumentarium der Organisationspsychologie auf die Analyse des Terrorismus an. Artikel mit einem rational-choice-theoretischen Ansatz legen ihren Fokus meist eher auf die Ebene der terroristischen Organisation, wenden die Prämissen der Theorie aber auch auf die individuelle Ebene an, wie beispielsweise Ross (1999:185): „Ultimately, the choice to engage in a terrorist action is a conscious or unconscious cost-benefit decision ... where expected utility is calculated by individual terrorists and collectively by terrorist groups“. Autoren, die keinen bestimmten Ansatz verfolgen, sondern eher auf die Kategorisierung und Schematisierung einzelner Ursachen abzielen, haben sich in Bezug auf die Akteursebene bislang vor allem auf die Sub-Ebenen des Individuums und der terroristischen Organisation konzentriert; vereinzelt wurde aber auch hier die Sub-Ebene der einzelnen Terrorgruppe thematisiert (vgl. Bergesen und Lizardo 2004; Crenshaw 1988; Post et al. 2002; Schweitzer 2006). Der Unterteilung der Akteursebene in die Sub-Ebenen des Individuums, der terroristischen Gruppe und der terroristischen Gesamtorganisation soll daher auch in dieser Arbeit gefolgt werden.

Mit dem Begriff ‚strukturell’ in Abgrenzung von der Ebene der Akteure sollen hier solche – natürliche oder durch menschliche Interaktion konstituierte – Rahmen-bedingungen oder Prozesse bezeichnet werden, denen insoweit eine vom Menschen losgelöste Existenz zukommt, als sie das menschliche Leben zwar nachhaltig beeinflussen, vom Menschen selbst aber erst durch großen Aufwand erkennbar, und nur durch noch größeren Aufwand veränderbar sind. In der Terrorismusliteratur werden die strukturellen Entstehungsbedingungen von Terrorismus, die von manchen Autoren auch als „situational“ (Crenshaw 1981) oder „environmental factors“ (Moghadam 2006) bezeichnet werden, meist auf bis zu sechs unterschiedlichen Sub-Ebenen angesiedelt und in politische, gesellschaftliche bzw. soziale, wirtschaftliche, kulturelle, religiöse und/oder historische Faktoren unterteilt (Beispiele hierfür finden sich bei: Club de Madrid 2005; Crenshaw 1988:12; Moghadam 2006:86-87; Post et al. 2002:78-81; Schweitzer 2006:133). Da Religion jedoch als ein Bestandteil, wenn nicht gar als der ursprüngliche Kern einer jeden Kultur betrachtet werden kann (vgl. Howell 2003:181; Rapoport 1984:674; Tenbruck 1989:53), soll die Kategorie der Religion hier unter die Ebene der Kultur subsumiert werden. Gleiches gilt für geschichtliche Faktoren, da historische Begebenheiten und Erinnerungen nur insofern für die Entstehung von Terrorismus relevant sein können, als sie durch kulturelle Autoritäten und Institutionen (wie zum Beispiel Schulen) in der kollektiven Erinnerung wachgehalten oder gar mit neuen Interpretationen versehen werden (vgl. Ross 2002:308).

Wie bereits Max Weber in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft dargelegt hat, ist „die Vergesellschaftung durch Tausch auf dem Markt“ (und, so würde Karl Marx [1932:91] hinzugefügt haben, die Vergesellschaftung durch das herrschende „gesellschaftliche[i] Produktionsverhältnis“) der „(Arche-)Typos alles rationalen Gesellschaftshandelns“ (Weber 1972:382). Diese enge Verknüpfung der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Sphäre schlägt sich auch in der Terrorismusliteratur dergestalt nieder, dass die als ‚sozial’ oder ‚gesellschaftlich’ bezeichneten strukturellen Ursachen des Terrorismus meist entweder auf die vorherrschende Produktionsstruktur zurückgeführt werden können, wie es beispielsweise bei Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen der Fall ist, oder im Kern kulturelle Phänomene darstellen, wie zum Beispiel die ethnische Fragmentierung einer Gesellschaft. Die von vielen Autoren als ‚gesellschaftlich’ oder ‚sozial’ bezeichnete Analyseebene soll daher in dieser Arbeit primär durch die wirtschaftliche und zum Teil auch durch die kulturelle Analyseebene ersetzt werden. Der Begriff der Gesellschaft soll hier dagegen als reiner Oberbegriff für eine Gemeinschaft verwendet werden, deren wirtschaftliche Ordnung (Volkswirtschaft), politische Ordnung ((National-)Staat) und kulturelle Ordnung ((National-)Kultur) sich weitgehend überschneiden. Insofern steht die (gesamt-)gesellschaftliche Analyseebene also nicht den Ebenen von Wirtschaft, Kultur und Politik gegenüber, sondern umfasst diese. Eine Gegenüberstellung der gesellschaftlichen Ebene erfolgt vielmehr mit der transnationalen Ebene – eine analytische Differenzierung, die auf Crenshaw (1981:381) zurückgeht: „no factor is neatly compartmentalized in a single nation-state; each has a transnational dimension that complicates the analysis“. In dieser Arbeit soll indes davon ausgegangen werden, dass auf der transnationalen Ebene wirksame Variablen vor allem im Hinblick auf die Entstehung von transnationalem Terrorismus relevant sind.

Neben der kulturellen und der wirtschaftlichen Ebene bleibt damit nur noch die politische Sphäre als dritte gesellschaftliche Analyseebene. Nach Huntington hebt sich die politische Sphäre dadurch von den Ebenen der Wirtschaft und Kultur ab, dass politische Strukturen dazu dienen, unter einer Vielzahl von kulturellen Kollektiven („kinship, racial, and religious groupings“) und wirtschaftlichen Gruppierungen („occupational, class, and skill groupings“) ein funktionierendes Gemeinschaftsleben herzustellen (vgl. Huntington 1968:8). Eine Trias von analytischen Sub-Ebenen (Wirtschaft, Kultur und Politik) ist auch deshalb sinnvoll, weil sie im Gegensatz zu einem vier- bis sechsgliedrigen Raster in eindeutigerer Form die elementaren Grundbedürfnisse des Menschen nach materieller Sicherheit (wirtschaftliche Sphäre), nach dem Eingebundensein in eine sinnhafte meta-physische Ordnung (Sphäre der Kultur) und nach der Schaffung einer realen Gesellschaftsordnung, die diesen Bedürfnissen in einem möglichst hohem Maße gerecht wird (politische Sphäre) widerspiegelt (vgl. Johnson 1982:25). Eine Übersicht über die Gesamtheit der hier verwendeten Analyseebenen findet sich in Tabelle 3.1.

Nachdem nun also anhand der Dichotomie von Akteur und Struktur mit den jeweiligen Sub-Ebenen des Individuums, der terroristischen Zelle und der terroristischen Organisation bzw. der wirtschaftlichen, der kultuellen und der politischen Sphäre ein erstes Raster von Analyseebenen zur Untersuchung der Ursachen von Terrorismus erstellt wurde, das sowohl auf der gesellschaftlichen bzw. nationalen als auch auf der transnationalen Ebene angewandt werden kann, soll sich der folgende Abschnitt einer kritischen Darstellung der in der Terrorismusliteratur verwendeten Variablenkategorien zuwenden.

Tabelle 3.1: Analyseebenen zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2 Variablenkategorien

Wie oben bereits angedeutet wurde, hat sich in der analytischen Literatur zur Entstehung von Terrorismus bislang keine einheitliche Kategorisierung der für dieses Phänomen relevanten erklärenden Variablen durchgesetzt. Überhaupt beschränken sich die meisten Autoren darauf, unterschiedliche Erklärungen für Terrorismus auf unterschiedlichen Analyseebenen anzusiedeln, ohne dabei auch in Bezug auf die verwendeten Variablen zwischen verschiedenen Kategorien zu differenzieren. Gerade im Hinblick auf strukturelle Mechanismen wäre eine solche Unterscheidung aber unbedingt von Nöten, auch wenn, wie Waldmann (2005a:11) anmerkt, im Falle des Terrorismus nicht von „Determinanten“, sondern höchstens von „Faktoren“ gesprochen werden kann, „welche das Aufkommen und Fortbestehen terroristischer Organisationen bzw. Gruppen tendenziell eher fördern oder verhindern“. Die wenigen Autoren, die sich auf dieses Feld vorwagen, lehnen sich in ihren Begrifflichkeiten in der Regel eng an Crenshaw (1981) an (beispielhaft seien hier Krumwiede 2005, Moghadam 2006, Newman 2006 und Post et al. 2002 angeführt). Crenshaw unterteilt die strukturellen Ursachen von Terrorismus zunächst in „preconditions, factors that set the stage for terrorism over the long run“ und „precipitants, specific events that immediately precede the occurrence of terrorism” (381, Hervorhebung im Original). ‘Preconditions’ sollen in dieser Arbeit als ‘Rahmenbedingungen’, ‘precipitants’ mit dem etwas weiter gefassten Begriff der ‘Katalysatoren’ übersetzt werden. Damit spiegelt Crenshaws Kategorisierung auch die von anderen Autoren vorgenommene und oben diskutierte Differenzierung zwischen statischen und dynamischen Faktoren, d.h. zwischen den Kategorien von Struktur und Prozess wieder.

Rahmenbedingungen sind bei Crenshaw strukturelle Faktoren, die den Boden für das Auftreten von Terrorismus bereiten, per se aber keineswegs zwangläufig zur Entstehung von Terrorismus führen. Damit bilden strukturelle Voraussetzungen quasi eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für terroristische Aktivitäten. Gleiches gilt für Katalysatoren, ohne die Terrorismus ebenfalls nicht entstehen kann, die für sich genommen aber ebensowenig zwingend terroristische Anschläge nach sich ziehen. Erst die bewusste Entscheidung politischer Akteure für eine terroristische Handlungsstrategie kann nach Crenshaw als eine hinreichende Bedingung gelten: „[the] analysis of the background conditions for terrorism indicates that we must look at the terrorist organization’s perception and interpretation of the situation. Terrorists view the context as permissive, making terrorism a viable option“ (385, eigene Hervorhebung).

Die für die Entstehung von Terrorismus erforderlichen strukturellen Rahmen-bedingungen unterteilt Crenshaw des Weiteren in “enabling or permissive factors, which provide opportunities for terrorism to happen“ und „situations that directly inspire and motivate terrorist campaigns“ (381). Als Beispiele für ermöglichende Faktoren nennt sie sowohl strukturelle Prozesse wie die Modernisierung als auch kulturelle Normen und Werte, die Terrorismus begünstigen sowie statische politische Faktoren wie das Vorhandensein einer schwachen Regierung. Als direkte Ursachen von Terrorismus sieht sie soziale Missstände und Diskriminierung, fehlende Möglichkeiten der politischen Partizipation sowie eine non-responsive Haltung der herrschenden Eliten an. Demgegenüber ist der einzige von Crenshaw genannte katalytische Faktor die verstärkte Anwendung von Gewalt durch ein Regime oder eine Regierung (vgl. Crenshaw 1981:381-385). Im Gegensatz zu Crenshaws grundlegendem Schema der Unterteilung der strukturellen Ursachen von Terrorismus in Rahmenbedingungen und Katalysatoren, das eine klare Zuordnung der zu berücksichtigen Faktoren ermöglicht, fällt die konzeptionelle Abgrenzung der Kategorien der ‚permissive factors’, der ‚direct causes’ und der ‚precipitant factors’ schwer. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Crenshaw mit der Dichotomie von Rahmenbedingungen und Katalysatoren eine klare Linie zwischen statischen und dynamischen Faktoren zieht, die sie dann im Folgenden wieder aufbricht, indem unter dem Begriff der ermöglichenen Rahmenbedingungen sowohl statische als auch dynamische Faktoren (wie beispielsweise Regierungsstrukturen und Moderni-sierungsprozesse) subsumiert werden. Ich möchte daher vorschlagen, Crenshaws Kategorien der Rahmenbedingungen und Katalysatoren beizubehalten, sie inhaltlich jedoch neu zu belegen. Anstatt von einer Unterteilung der strukturellen Rahmen-bedingungen von Terrorismus in ermöglichende und direkte Ursachen auszugehen, könnte man die statisch-strukturellen Entstehungsgründe als latente bzw. manifeste strukturelle Asymmetrien auf den Ebenen von Politik, Wirtschaft und Kultur begreifen. Auf der wirtschaftlichen Ebene könnte zum Beispiel die Fragmentierung der Gesellschaft in wirtschaftliche Klassen oder Schichten als latente Asymmetrie, und die daraus unter gewissen Umständen resultierende Aufsplitterug der Gesellschaft in Arm versus Reich, produzierendes Gewerbe versus Empfänger von Transferleistungen etc. als manifeste Asymmetrie gesehen werden. Wie Targ (1988) gezeigt hat und wie unten noch auszuführen sein wird, ist neben strukturellen Asymmetrien außerdem strukturelle Rigidität (verursacht beispielsweise durch ein elitäres Bildungssystem) eine Bedingung dafür, dass Terrorismus auftritt. Als wahrhaft auslösende, katalytische Faktoren für die Entstehung von Terrorismus könnten dann sowohl singuläre Ereignisse als auch tieferliegende strukturelle Prozesse wie gesellschaftliche Modernisierungsprozesse gelten. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, eignet sich eine solche Konzeption hervorragend zur Systematisierung der in der analytischen Literatur diskutierten Ursachen von Terrorismus.

Eine letzte Variablenkategorie, die in dieser Arbeit zur Anwendung kommen soll, wurde nicht von Crenshaw, sondern von Krumwiede (2005) eingeführt. Es handelt sich dabei um sogenannte Ermöglichungsfaktoren – statische Variablen, die im Gegensatz zu den für das Aufkommen von Terrorismus notwendigen, inhärent spannungsgeladenen strukturellen Rahmenbedingungen keinerlei Konfliktpotential in sich bergen. Aus analytischer Sicht werden Ermöglichungsfaktoren erst relevant, wenn die Hinwendung der jeweiligen Akteure zu einer terroristischen Handlungs-strategie bereits erfolgt ist; dann allerdings muss eine unbestimmte Anzahl von Ermöglichungsfaktoren gegeben sein, damit die terroristische Stategie in eine organisierte terroristische Tätigkeit umgesetzt werden kann. Beispiele für strukturelle Ermöglichungsfaktoren sind geographische Gegebenheiten, die als „Schutz-, Sammlungs-, Rückzugs-, Ruhe- und Aufmarschräume“ genutzt werden können (Krumwiede 2005:38) oder auch demografische Merkmale wie ein Überschuss an jungen Männern (vgl. Lock 2001:35). Die in dieser Arbeit zur Systematisierung der strukturellen Ursachen von Terrorismus verwendeten Variablenkategorien lassen sich demnach wie in Tabelle 3.2 gezeigt zusammenfassen.

Tabelle 3.2: Variablenkategorien zur Systematisierung der strukturellen Ursachen von

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei der Systematisierung der in der wissenschaftlichen Literatur diskutierten Ursachen von Terrorismus wird in dieser Arbeit also von folgendem Kausalschema ausgegangen: Als notwendige Bedingung für das Auftreten von Terrorismus müssen drei Typen von erklärenden Variablen identifizierbar sein. Zunächst sind auf der wirtschaftlichen, kulturellen und/oder politischen Ebene statische Rahmen-bedingungen von Nöten, deren latentes Spannungspotential sich in einer realen, mit Machtdifferenzen einhergehenden Ungleichheit manifestiert (Asymmetrien), ohne dass diese Ungleichheit durch gesellschaftliche Aufstiegschancen oder politische Partizipation zu nivellieren wäre (Rigidität). Zum zweiten tritt Terrorismus nur dann auf, wenn eine bestehende Herrschafts- oder Werteordnung durch einen strukturellen Wandlungsprozess bzw. (nach Crenshaw) singuläre Ereignisse zumindest soweit ins Wanken gerät, dass eine nachhaltige Veränderung der Verhältnisse in den Bereich des Möglichen rückt. Dies gilt für nationale Verhältnisse ebenso wie für Veränderungen in der internationalen Arena. Und schließlich erfordert die Entstehung von Terrorismus das Vorhandensein einer unbestimmten Anzahl von Ermöglichungsfaktoren, die zwar aus sich heraus in keinerlei Verbindung mit gesellschaftlichen Spannungen stehen, die aber die Ausführung terroristischer Tätigkeiten erst möglich machen bzw. erleichtern.

Dass das hier vorgestellte Analysekonzept für die Systematisierung der Entstehungs-bedingungen von Terrorismus durchaus mit den theoretischen Prämissen in Einklang steht, die in der wissenschaftlichen Literatur oft implizit vorausgesetzt, jedoch nicht schematisch explizit gemacht werden, zeigt das Beispiel von Edward Newman (2006:754), der zusammenfasst:

An underlying grievance [manifeste Asymmetrie], in the context of a permissive enabling environment [Rigidität], gives rise to the emergence of a terrorist organization and terrorist activity as a result of precipitant factors [Ereignisse] and catalytic forces [Prozesse]. The structural factors and underlying grievances [Rahmenbedingungen] provide a source of terrorist recruits, an ideology, and operational base. The precipitant factors [Katalysatoren] provide a political agenda, opportunity, leadership, and organization.

Die wesentliche Neuerung des hier vertretenen Ansatzes gegenüber Crenshaw und Newman ist also die klare Trennung zwischen statischen und dynamischen Faktoren, die Aufteilung der für das Auftreten von Terrorismus förderlichen Rahmen-bedingungen in latente Asymmetrien, manifeste Asymmetrien und strukturelle Rigiditäten, die Berücksichtigung von neutralen Ermöglichungsfaktoren sowie – im Hinblick auf die Analyseebenen – die Reduktion der relevanten Ebenen auf die wirtschaftliche, die kulturelle und die politische Ebene. Ansonsten baut das hier verwendete Schema maßgeblich auf Crenshaw auf.

Noch ein Wort in Bezug auf die Akteursebene, bevor im vierten Kapitel auf strukturelle Erklärungsmodelle für das Phänomen des Terrorismus eingegangen wird. Während die in der Literatur vorherrschende Vorgehensweise der Kategorisierung der Ursachen von Terrorismus nach Theoriesträngen (statt Variablenkategorien) hier für strukturelle Faktoren verworfen wurde, ist ein solches Vorgehen auf der Akteursebene durchaus sinnvoll, da es zwei klar abgrenzbare akteurs-theoretische Paradigmen zur Erklärung von Terrorismus gibt: den psychologischen und den rationalistischen Ansatz. Deshalb sollen die Ursachen von Terrorismus auf der Akteursebene in dieser Arbeit lediglich in psychologische Faktoren und strategische Interessen unterteilt werden.

Paradigmen zur Erklärung von Terrorismus gibt: den psychologischen und den rationalistischen Ansatz. Deshalb sollen die Ursachen von Terrorismus auf der Akteursebene in dieser Arbeit lediglich in psychologische Faktoren und strategische Interessen unterteilt werden.

4. Strukturelle Erklärungsmodelle

Die in der Psychologie, Philosophie, Soziologie und Moraltheologie seit Jahrhunderten und neuerdings auch in den Neurowissenschaften vehement geführte Debatte, inwiefern der Mensch einen autonomen Willen besitze oder vielmehr das Produkt der gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit sei, findet auch in der Terrorismusliteratur ihren Niederschlag. Am strukturalistischen Ende des Spektrums argumentiert zum Beispiel Esther Madriz, dass alle interpersonellen Gewaltakte in institutioneller und struktureller Gewalt gründen (vgl. Madriz 2001:45), und Donald Black (2004:15) behauptet: „Structures kill and maim, not individuals or collectivities“. Auch wenn in dieser Arbeit davon ausgegangen wird, dass nicht nur strukturelle, sondern auch personelle Faktoren für das Aufkommen von Terrorismus bedeutsam sind, belegen die obigen Zitate doch, dass die meisten Terrorismus-forscher strukturellen Variablen eine große Erklärungskraft für das Phänomen des Terrorismus beimessen. Im Folgenden sollen daher die in der Literatur präsentierten strukturellen Erklärungsmechanismen für Terrorismus den einzelnen Sub-Ebenen der Wirtschaft, Kultur und Politik zugeordnet, miteinander in Beziehung gesetzt und kritisch diskutiert werden.

4.1 Die Ebene der Wirtschaft

Auf der wirtschaftlichen Ebene lassen sich, wie oben dargelegt, sowohl statische als auch dynamische Faktoren identifizieren, die nach Meinung der einschlägigen Autoren zur Entstehung von Terrorismus beitragen oder gar führen. Auf der Ebene der Rahmenbedingungen handelt es sich hierbei vor allem um Armut bzw. Arbeitslosigkeit und starke Einkommensunterschiede einerseits sowie mangelnde Bildungs- bzw. Aufstiegschancen andererseits. Auf der Ebene der Katalysatoren werden vor allem Prozesse wie Modernisierung, eine Rezession oder ein anhaltender wirtschaftlicher Aufschwung genannt. Hinzu kommen Ermöglichungs-faktoren wie Transport-, Waffen- und Kommunikationstechnologien, die lediglich eine praktische Dimension für die Durchführbarkeit und mediale Wirkung terroristischer Anschläge besitzen. Wie zu zeigen sein wird, tragen wirtschaftliche Faktoren gemäß den in der wissenschaftlichen Literatur vorgebrachten Thesen vor allem über das Zusammenspiel von wirtschafts-strukturellen Asymmetrien und Rigiditäten mit Prozessen des wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Wandels zur Entstehung von Terrorismus bei.

4.1.1 Statische Faktoren

Ähnlich wie in der Bürgerkriegsliteratur wird auch in der Terrorismusliteratur immer wieder die These vertreten, dass kollektive Gewalt auf wirtschaftliche Missstände bzw. „grievances“ zurückzuführen sei. So postulieren beispielsweise Post et al. (2002:80), dass Armut, Arbeitslosigkeit und drastische Einkommensunterschiede einen Nährboden für Terrorismus bilden, ohne diese These jedoch näher zu belegen. Auch Kydd und Walter (2006:80) sowie Ehrlich und Liu gehen selbstverständlich davon aus, dass Armut Terrorismus generiere: „Poverty ... is obviously one of the most important“ conditions „conducive to creating terrorists” (Ehrlich und Liu 2002:185). Nicht zuletzt stellen Politiker und Praktiker aus der Entwicklungs-zusammenarbeit gerne – und seit dem 11. September 2001 besonders häufig – die These auf, dass Terrorismus durch wirtschaftliche Not hervorgerufen werde, die folglich durch staatliche Entwicklungsprogramme gelindert werden müsse (vgl. Piazza 2006:159-160). Diese vorschnelle Schlussfolgerung dürfte allerdings nicht zuletzt auf das Interesse des Selbsterhalts der Entwicklungsbürokratie zurückzu-führen sein, da Regierungen möglicherweise eher bereit sind, die globale Armuts-bekämpfung nachhaltig zu finanzieren, wenn ein Zusammenhang zwischen globaler Armut und nationalen Sicherheitsrisiken hergestellt werden kann.

Differenziertere Analysen kommen meist zu dem Schluss, dass wirtschaftliche Not nicht per se für das Auftreten von Terrorismus verantwortlich gemacht werden kann. Laqueur stellt zum Beispiel fest, dass die ärmsten Länder der Welt selten von Terrorismus heimgesucht werden: „...in the forty-nine countries currently designated by the United Nations as the least developed hardly any terrorist activity occurs” (Laqueur 2003:15). James Piazza, der auf der Basis von Daten des amerikanischen Innenministeriums den Einfluss einer Reihe ökonomischer, demografischer und politischer Variablen auf das Auftreten von Terrorismus in den Jahren 1986 – 2002 überprüft, kommt zu dem Schluss:

The statistical models above demonstrate that there is no empirical evidence to support the crux of the ‚rooted-in-poverty’ thesis – popularized by world leaders, the media, and some scholars – that poor economic development, measured as low levels of per capita income, literacy, life expectancy, more equal distribution of wealth, growth of GDP, stable prices, employment opportunities, and food security, is related to increased levels of terrorism. (Piazza 2006:170)

Ähnlich argumentiert Newman, der den gleichen Datensatz zum Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen in Beziehung setzt (vgl. Newman 2006:757), sowie Abadie, der den Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt, HDI und Terrorismusrisiko in 186 Ländern für den Zeitraum 2003 bis 2004 untersucht (vgl. Abadie 2004:3,9).

Die am häufigsten zitierte Studie über den (nicht nachweisbaren) Kausalzusammenhang zwischen wirtschaftlichen Missständen und Terrorismus ist Alan B. Kruegers und Jitka Malečkovás Untersuchung Education, Poverty and Terrorism: Is There a Causal Connection? (2003). Inspiriert durch die politische Hochkonjunktur der ‚rooted-in-poverty’-These nach dem 11. September 2001 versuchen Krueger und Malečková, sich der Frage nach möglichen Determinanten des Terrorismus aus mehreren Richtungen anzunähern. Dabei rezipieren sie nicht nur Forschungsergebnisse aus dem Bereich religiös oder rassistisch motivierter Gewalttaten, die nach Krueger und Malečková eng mit dem Phänomen des Terrorismus in Verbindung stehen (Krueger und Malečková 2003:123), sondern analysieren auch Meinungsumfragen aus den besetzten palästinensischen Gebieten sowie biografische Angaben über libanesische Hizbollah-Kämpfer, palästinensische Selbstmord-Attentäter und zionistische Extremisten. Obwohl sich diese Daten erstens auf einen geografisch und kulturell eng limitierten Raum beschränken und zweitens die Repräsentativität der Daten nicht in allen Fällen gewährleistet ist, kommt Krueger und Malečková immerhin der Verdienst zu, mit ihrer explorativen Studie den Anstoß für differenziertere Untersuchungen über den Zusammenhang von Armut bzw. wirtschaftlicher Not und Terrorismus gegeben zu haben, von denen einige oben zitiert wurden. Außerdem kommen alle von Krueger und Malečková durchgeführten Teiluntersuchungen ebenso wie die am Ende ihres Artikels präsentierte statistische Analyse zu dem Ergebnis, dass zwischen Armut und Terrorismus weder auf der Akteursebene noch strukturell ein direkter Zusammenhang bestehe – eine Aussage, die sich mit anderen Studien deckt (vgl. Krueger und Malečková 2003:139,141).

Auf die Frage, weshalb die Frustration über persönliche Armut offenbar nicht ausreicht, um terroristische Handlungen auszulösen, finden sich in der Literatur gemeinhin zwei Antworten. Zum einen wird vorausgesetzt, dass die Ärmsten der Armen täglich um ihr Überleben kämpfen und weder die Zeit noch das Human-kapital oder die physischen Ressourcen besitzen, um sich dem Kampf gegen aus ihrer Sicht ausbeuterische Strukturen zu widmen (vgl. Callaway und Harrelson-Stephens 2006:779; Ehrlich und Liu 2002:189; Krueger und Malečková 2003:142; Wilkinson 1979:58; Wolfensohn 2002:42). Zum anderen wird plausibel argumentiert, dass terroristische Organisationen an möglichst hoch qualifizierten Rekruten interessiert sind („because higher ability, better educated people are more likely to succeed at the demanding tasks required of a terrorist operative”; Bueno de Mesquita 2005:515) und deshalb ärmere Bewerber nach Möglichkeit ablehnen werden, obwohl diese am ehesten geneigt sein dürften, eine terroristische Karriere in Erwägung zu ziehen (vgl. auch: Krueger und Malečková 2003:142).

Während also die meisten Autoren darin übereinstimmen, dass Armut an sich keinen Terrorismus generiere, wird in der Literatur immer wieder darauf verwiesen, dass wirtschaftliche Missstände im Zusammenspiel mit anderen Faktoren durchaus eine indirekte Rolle bei der Entstehung von Terrorismus spielen können. Beispielsweise kann Armut nach Weinberg und Eubank dann einen Nährboden für Terrorismus bereiten, wenn sie mit ethnischer, linguistischer oder religiöser Diskriminierung einhergeht: „…in the economic sphere, the presence of terrorist groups is associated with higher levels of ‚Economic Discrimination’. The latter is a measure of the extent to which ethnic, linguistic, religious and regionally defined groups are ‘systematically restricted in their access to some economic values relative to other groups in their society’” (1994b:431). Außerdem kann strukturelle Armut zur Schwächung oder zum Scheitern von Staaten beitragen (vgl. Fearon und Laitin 2003:88; Newman 2006:751) und auf diese Weise das Ausbrechen von internen Konflikten bis hin zu Bürgerkriegen begünstigen, im Zuge derer Terrorismus immer wieder als Strategie der Zielerreichung eingesetzt wird (vgl. Krueger und Malečková 2003:141; Laqueur 2003:15; Stern 2003:284; Wolfensohn 2002:42). Da wir uns an dieser Stelle allerdings bereits weg von strukturellen Mechanismen und hin zur Ebene der Interessen und Strategien von Akteuren bewegen, mit der sich erst das fünfte Kapitel auseinandersetzen wird, soll dieser Argumentationsstrang hier vorerst nicht weiter verfolgt werden.

Schließlich finden sich in der Literatur noch drei weitere Thesen in Bezug auf die indirekte Verknüpfung von Terrorismus und Armut bzw. wirtschaftlicher Not. Erstens kann „Armut und vor allem sozialer [d.h. wirtschaftlicher] Ungleichheit“ insofern eine „indirekte Bedeutung“ für das Auftreten von Terrorismus zukommen, als „sie, von Mittelschichtsintellektuellen als entwürdigend und empörend empfunden, für diese ein Motiv bildet, eine terroristische Vereinigung mit sozialrevolutionären Zielen zu gründen oder ihr beizutreten“ (Waldmann 2005a:12; vgl. auch: Ehrlich und Liu 2002:186-187; Friedland 1992:84; Krumwiede 2005:36). Zweitens vertreten zahlreiche Autoren die Meinung, dass es weniger die mit der Armut einhergehende materielle Not bzw. gesellschaftliche Ungleichverteilung als die durch die Armut verursachte subjektive Verzweiflung und Perspektivenlosigkeit sei, welche zu einer indirekten Kausalrelation zwischen Armut bzw. Deprivation und Terrorismus führe: „Poverty can breed resentment and desperation and [thus] support for political extremism” (Newman 2006:751; vgl. auch: Berger und Weber 2006:75; Crenshaw 1981:383; Lock 2001:34-35). Ihren theoretischen Hintergrund hat diese These in dem ursprünglich aus der psychologischen ‚Frustrations-Aggressions-Hypothese’ heraus entwickelten Ansatz der ‚relativen Depivation’ (vgl. Schmid und Jongman 1988:63), der nachhaltig durch Ted Robert Gurrs Why Men Rebel (1979) geprägt wurde. Nach Gurr führen nicht asymmetrische gesellschaftliche Verhältnisse an sich, sondern führt erst die Wahrnehmung jener Verhältnisse als ungerecht-seiend zu Frustration und schließlich Aggression. Der Auslöser politischer Gewalt liegt daher nicht in materieller Armut bzw. absoluter Deprivation begründet, sondern vielmehr in der als unverhältnismäßig wahrgenommenen individuellen und kollektiven Deprivation im Verhältnis zu anderen Personen oder Gruppen. Das Konzept der relativen Deprivation ist somit definiert als „actors’ perception of discrepancy between their value expectations and their value capabilities“ (Gurr 1970:24). Ebenso wie Waldmanns These der Armut als Identifikationsfaktor für intellektuelle Mittelschichtsterroristen siedelt jedoch auch diese zweite These die Wirkungskette zwischen Armut und Terrorismus in erster Linie auf der Akteurs-ebene an.

Die dritte, von Harry R. Targ vorgebrachte These über eine indirekte Verknüpfung von Armut bzw. materieller Deprivation und Terrorismus lautet, dass Deprivation nur in solchen Gesellschaften Terrorismus nach sich ziehe, in denen strukturelle Wandlungsprozesse blockiert seien: „revolutionary terrorism is social, not individual, pathological behaviour in that it occurs in social structures and historical settings where the forces for social change are at their weakest“ (Targ 1988:128). Nach Targ trifft dieser Sachverhalt nicht auf industrielle Gesellschaften zu, in denen die Produktionsfaktoren relativ homogen auf einzelne Klassen verteilt sind und wo daher die Herausbildung eines revolutionären Klassenbewusstseins möglich ist, wohl aber auf prä-industrielle und post-industrielle Gesellschaften (vgl. Targ 1988:131), weshalb terroristische Anschläge in letzteren auch „permanent features of the social landscape“ werden (142). Außerdem sieht auch Targ die Verknüpfung von Armut mit anderen Schichtmerkmalen und Formen von Diskriminierung als Nährboden von Terrorismus an: „[in a] postindustrial society ... [t]he working class is generally affluent, and the poor are found primarily among ethnic and racial groups, migrant and seasonal workers, and chronically unemployed“ (137).

Targs Analyse ist deshalb für die Erforschung der strukturellen Ursachen von Terrorismus so bedeutungsvoll, weil sie als eine der wenigen Studien mehrere Variablenkategorien gleichzeitig berücksichtigt und kausal miteinander verknüpft. Zunächst ist nämlich nach Ansicht Targs eine durch Asymmetrie gekennzeichnete Klassen- oder Schichtstruktur für das Auftreten von Terrorismus Bedingung. Obwohl eine solche asymmetrische Sozialstruktur – die oft von Armut oder Arbeitslosigkeit begleitet wird, welche im Grunde nichts als Symptome jener strukturellen Asymmetrie darstellen – nicht ausreicht, um Terrorismus herbeizuführen, ist sie doch auf der wirtschaftlichen Ebene eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Terrorismus. Die zweite strukturelle Voraussetzung ist nach Targ die Rigidität der gesellschaftlichen Strukturen, durch die ein Strukturwandel und damit die Nivellierung der Asymmetrie unmöglich wird. Eine solche Rigidität wird zum Beispiel durch ein elitäres Bildungssystem oder mangelnde Wohlfahrtsstaatlichkeit verursacht, weshalb Wohlfahrtsstaaten – wie von Burgoon (2006) dargelegt – seltener Schauplätze terroristischer Anschläge werden als andere Staaten. Und drittens deutet Targ an, dass Terrorismus genau dann entsteht, wenn trotz der vorherrschenden Rigidität ein Prozess des Strukturwandels eintritt, der ähnlich einer tektonischen Plattenverschiebung das soziale Gefüge so nachhaltig unter Spannung setzt, dass letztere sich erst durch eine Eruption von Gewalt und/oder eine politische Neuordnung der Verhältnisse entladen kann.

Targs Modell steht demnach mit den oben präsentierten Forschungsergebnissen in Einklang, welche postulieren, dass Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit oder drastische Einkommensunterschiede entgegen der populären Wahrnehmung nur eine indirekte Rolle bei der Entstehung von Terrorismus spielen. Ausschlaggebend für das Aufkommen von Terrorismus sind nämlich nicht wirtschaftliche Missstände an sich, sondern die gesellschaftlich-strukturellen Disparitäten, deren Ausdruck bzw. Symptome diese Missstände sind. Diese Disparitäten sind auf der wirtschaftlichen Ebene eng mit der in spezifischen Gesellschaftsformen vorherrschenden Verteilung von Produktionsfaktoren verknüpft. Deshalb sind prä- und post-industrielle Gesellschaften auch einem höheren Terrorismus-Risiko ausgesetzt als industrielle Gesellschaften: die „individuated“ organization „of work roles ... in peasant agriculture or post-industrial service employment“ führt in diesen Gesellschaftstypen zu einer höheren gesellschaftlichen Fragmentierung (Targ 1988:131). Gehen wirtschaftliche Disparitäten bzw. Armut zudem – wie von Weinberg und Eubank (1994b) dargelegt – mit ethnischen und religiösen Fragmentierungsmerkmalen bzw. mit Symptomen kultureller Disparitäten einher, wird Terrorismus noch wahrscheinlicher.

Der von Targ – neben der strukturellen Asymmetrie angedeutete – zweite Faktor der strukturellen Rigidität entspricht dem Postulat der ‚relativen Deprivations’-Schule, dass vor allem die mit wirtschaftlichen Missständen einhergehende Perspektiven-losigkeit für die Entstehung von Terrorismus ausschlaggebend sei, da in einer durch strukturelle Flexibilität und Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft eine solche Perspektivenlosigkeit weniger virulent sein dürfte. Und schließlich schafft Targs Berücksichtigung von dynamischen Faktoren eine Ausgangsbasis für die theoretische Integration jener Analysen, welche die Entstehung von Terrorismus nicht in erster Linie in strukturellen Rahmenbedingungen, sondern vielmehr in katalytischen Prozessen und gegebenenfalls singulären Ereignissen begründet sehen. Targs Ansatz, dem die vereinfachte Formel

strukturelle Asymmetrie + strukturelle Rigidität + Strukturwandel = Nährboden für Terrorismus

zugrunde liegt, soll daher in dieser Arbeit als Raster zur Strukturierung anderer Modelle bzw. Thesen herangezogen werden. Im Gegensatz zu Targ ist es den allermeisten Autoren in der Terrorismusforschung nämlich, wie in Kapitel 3 angesprochen, bislang nicht gelungen, ihre impliziten Annahmen über Kausal-verknüpfungen oder die besondere Relevanz bestimmter Analyseebenen durch formal-analytische Zuordnungen explizit zu machen. Autoren, die beispielsweise die These vertreten, dass Armut nur deshalb zu Terrorismus führe, weil sie eine Motivationsgrundlage für Mittelstandsintellektuelle bilde, behaupten damit implizit, dass die Gründe für Terrorismus eher auf der Akteursebene als auf der strukturellen Ebene zu suchen seien. Und Forscher, welche die Ursachen von Terrorismus eher in der durch materielle Not verursachten Perspektivenlosigkeit (welche strukturelle Rigidität voraussetzt) begründet sehen als in relativer materieller Deprivation an sich (die ihrerseits strukturelle Asymmetrie voraussetzt), machen nicht deutlich, dass es sich bei ihrer Argumentation im Grunde um die Aufsplitterung von wirtschaftlichen Missständen oder ‚grievances’ in zwei verschiedene konzeptionelle Kategorien mit unterschiedlicher Wirkung in Bezug auf die Entstehung von Terrorismus handelt. Diese formal-theoretischen Schwächen sollen in der vorliegenden Arbeit ein Stückweit durchbrochen und überwunden werden.

4.1.2 Dynamische Faktoren

Unter den in der Literatur diskutierten dynamischen Faktoren, die auf der wirtschaftlichen Ebene zur Entstehung von Terrorismus beitragen, sind Moderni-sierungsprozesse der am häufigsten genannte. Nach Weiß lassen sich in den Sozialwissenschaften zwei unterschiedliche Herangehenweisen an das Phänomen der Modernisierung identifizieren, die beide in der Terrorismusliteratur verarbeitet werden. Zum einen wird Modernisierung beschrieben als ein seit dem 18. Jahrhundert auf der geistesgeschichtlichen, ökonomischen und politischen Ebene sich entfaltender „Prozeß fortschreitender Entfaltung von modernitätsspezifischen Tendenzen“, der folgende Entwicklungen nach sich zog bzw. immer noch zieht: erstens Rationalisierung im Sinne von „Szientifizierung, Technisierung, Säkularisierung“ und der „funktionale[n] Ausdifferenzierung autonomer Sub-systeme“; zweitens Universalisierung als Ausbreitung von „für alle Menschen gleichermaßen gültige[n] Normen“ und „Menschenrechte[n]“; drittens Individuali-sierung im Sinne der freien „Verfügung jedes einzelnen über sein Denken und Handeln“; und viertens ein Aktivismus der „Welt- und menschlichen Selbst-veränderung“. Daneben zeichnet sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Modernisierung nach Weiß durch die Aufarbeitung der mit dem „Projekt“ der Modernisierung einhergehenden „Widersprüche“ bzw. mit dessen „Zerstörungs-potential“ aus (Weiß 2002:311). Theoretische Ansätze, die sich aus der zweiten Perspektive heraus dem Phänomen des Terrorismus annähern (wie zum Beispiel Amon 1983), sollen in dieser Arbeit in Abschnitt 4.2 („Die Ebene der Kultur“) behandelt werden, da unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nur jene Aspekte der Modernisierung relevant sind, die eine nachhaltige Veränderung der Produktions- und Arbeitsbedingungen nach sich ziehen.

Wie Hassel (1977:3) anmerkt, birgt der Prozess der Modernisierung deshalb so viel Konfliktstoff in sich, weil er entgegen früheren Wandlungsprozessen die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen nicht nur verändert oder gar auflöst, sondern diesen Wandel in einer Geschwindigkeit herbeiführt, die für viele Menschen eine unmittelbare Anpassung erschwert: „Society... has continually been changing throughout the entire history of humanity. However, the pace of such change has accelerated so drastically during the last decade and a half that people have been unsettled by it”. Neben der mit dieser erhöhten Geschwindigkeit des sozialen Wandels verbundenen Entwurzelung und Desorientiertheit vieler Menschen werden in der Terrorismusliteratur noch zwei weitere Faktorenkomplexe benannt, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Terrorismus als einem Ventil für systemische Spannungen herstellen. Bezugnehmend auf das oben genannte Universalisierungsmoment der Modernisierung argumentieren zum Beispiel Eriksen und Turk, dass Modernisierung zur Integration von zuvor in sich abgeschlossenen Lebenswelten führe, was einen direkten Vergleich kultureller, politischer und ökonomischer Standards möglich mache und potentiell zu kollektivem Unmut über die ungleiche Verteilung von Eigentum und Aufstiegschancen führe (vgl. Eriksen 2001:56-57; Turk 1982:127). Zusammengenommen lassen sich die Positionen Hassels und Eriksens bzw. Turks somit auf die vorläufige Formel bringen, dass individuelle Entwurzelung und Desorientierung in Kombination mit kollektivem Unmut über gesellschaftliche Verhältnisse – beide Folgen der Modernisierung – einen Nährboden für politische Gewalt und Terrorismus bilden.

[...]


[1] So versteht beispielsweise das US-Verteidigungsministerium unter Terrorismus den „gesetzes-widrigen – oder angedrohten – Gebrauch von Zwang oder Gewalt gegen Personen oder Eigentum, um Regierungen oder Gesellschaften zu nötigen oder einzuschüchtern, oftmals um politische, religiöse oder ideologische Ziele zu erreichen“ (zitiert in: Dietl 2002:25; vgl. auch: Gearson 2002:9).

[2] Es handelt sich dabei um die Definitionen folgender Autoren: Berger und Weber 2006; Bergesen und Lizardo 2004; Black 2004; Blomberg et al. 2004; Bueno de Mesquita 2000; Cooper 2001; Cronin 2002/03; Dietl et al. 2006; Drake 1998; Ehrlich und Liu 2002; Gearson 2002; Gibbs 1989; Hirschmann 2003; Hoffman 2001; Kydd und Walter 2006; Lange 2000; Li 2005; Malik 2000; Münkler 2001; Pape 2003; Rabbie 1991; Rajaee 2004; Rosendorff und Sandler 2005; Saper 1988; Schneckener 2006; Stern 1999; Targ 1988; Taylor 1988; Victoroff 2005; Waldmann 1998; Wardlaw 1989; Wieviorka 1995.

Excerpt out of 132 pages

Details

Title
Zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus
Subtitle
Die Rezeption des 11. September 2001 in der sozialwissenschaftlichen Literatur
College
University of Tubingen  (Institut für Politikwissenschaft)
Grade
1,0
Author
Year
2008
Pages
132
Catalog Number
V126229
ISBN (eBook)
9783640322725
ISBN (Book)
9783640320813
File size
1003 KB
Language
German
Keywords
Systematisierung, Ursachen, Terrorismus, Rezeption, September, Literatur
Quote paper
Deborah Rice (Author), 2008, Zur Systematisierung der Ursachen von Terrorismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126229

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