From Hell - Vom Comic zum Film

Analyse des Antihelden Abberline und intermediale Faktoren


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2006

40 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Analyse und Interpretation der Graphic Novel From Hell
2.1 Produktion
2.1.1 Formale Besonderheiten
2.2 Inhalt
2.3 Motive des Antihelden
2.3.1 Der Abwesende
2.3.2 Unglück – der Antiheld muss sein Reise beginnen
2.3.3 Widerwillig und ängstlich im Kampf
2.3.4 Abberline siegt zu spät
2.3.5 Die Erinnerung verfolgt und quält

3 Transformationsanalyse und Interpretation der Verfilmung From Hell
3.1 Mediale „Jack the Ripper“-Faszination und Produktion From Hell
3.2 Rezeption und Kritik
3.3 Inhalt
3.4 Inhaltliche, intermediale Besonderheiten und Kennzeichen der Transformation
3.5 Formale, intermediale Besonderheiten und Kennzeichen der Transformation
3.6 Motive des Antihelden und ihre Transformation
3.6.1 Der visionäre Abwesende – sein Hilfsmittel
3.6.2 Helfer Godley
3.6.3 Bewegender Antiheld in seiner Aufgabe
3.6.4 Abberline resigniert
3.6.5 Flucht in den Tod
3.7 Resümee der Transformation des Antihelden

1 Einleitung

Der Antiheld – ein Heldentypus, der sich im Umfeld von Comic(-verfilmungen)[1] bewusst von Superhelden absetzt und ein Image an den Tag legt, das sich kaum auf einen Punkt bringen lässt.[2] Antihelden-Figuren sind in der Regel die Protagonisten von Graphic Novels – eine anspruchsvollere Form von Comics der Independent-Szene mit ernsthaften Thematiken, besonderer Grafik und großteils von großem Umfang, wie die Graphic Novel From Hell, die über 400 Seiten umfasst – und sie lassen sich schwer auf bestimmte Charaktereigenschaften klassifizieren, was sie just erforschenswert machen. Interessant ist weiters, dass die Antihelden infolge einer filmischen Umsetzung „Vom Comic zum Film“ jene verschieden adaptiert bzw. interpretiert werden, was auch als Ausgangspunkt dieses anschließenden Textes gilt.

Inspektor Abberline aus From Hell ist ein typischer Antiheldentypus mit der Affinität eines Problemcharakters. Es sind die Probleme mit dem Alltag, mit dem gesellschaftlichen System und der verlorenen Liebe etc. die beiden Figuren – Comic und Film – mächtig zu Last liegen, sodass sie daran brechen. Beide sind gequält von den Problemen der Vergangenheit, beide leiden unter dem Ballast des Wissens um den wahren Mörder und das unmenschliche Vorgehen des Scotland Yard, das niemand erfahren darf, beiden Figuren ist eine negative Grundstimmung von melancholisch bis mürrisch zu eigen und beide sind Randfiguren, die an den Gesellschaftsstrukturen anecken und dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen beiden, die nun herausgearbeitet werden sollen.

Bei diesem Text „From Hell – Vom Comic zum Film“ handelt es sich um einen Teil meiner Diplomarbeit mit dem Titel „Antihelden in Comicverfilmungen. Transformationsanalyse ausgewählter Graphic Novel und deren Verfilmungen“[3], die im März 2006 am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien verfasst wurde.

Im Folgenden wird die Graphic Novel From Hell von Alan Moore und Eddie Campbell hinsichtlich formaler und inhaltlicher Kennzeichen sowie insbesondere hinsichtlich der Motive des Antihelden Abberline untersucht. Im Anschluss daran findet ein Vergleich mit der gleichnamigen Verfilmung From Hell (USA, 2002, R: Albert Hughes, Allen Hughes) statt, der Unterschiede und Ähnlichkeiten der filmischen Version analysiert und dabei auch intermediale Aspekte mit einschließt. Zur Analyse der Motive des Antihelden wurde auf die Zaubermärchenanalyse nach Vladimir Propp angewendet.

1.1 Zaubermärchenanalyse nach Propp

Bei der Zaubermärchenanalyse nach Propp handelt es sich um eine strukturalistische Erzähltheorie, mit der Propp das Märchen in seine unveränderlichen Bestandteile zerlegt. Er kann dabei „(…) 31 Funktionen nachweisen, auf deren Basis sich die Handlung sämtlicher hier analysierter Märchen entwickelt.“[4] Jede Funktion der handelnden Personen zeichnet sich durch ein Symbol (Buchstabe und Ziffer) aus, fügt sich schließlich der Gesamterzählung und ergibt damit eine, den Bau des Märchens charakterisierende Formel.[5] Die schematischen Grundelemente, auf die Propp die Zaubermärchen reduziert, setzen sich folgendermaßen zusammen:

Hier soll das Märchengenre untersucht werden, an dessen Anfang die Zufügung irgendeines Verlustes, eines Schadens (…) oder der Wunsch eine Sache zu besitzen (…) steht und das sich über die Stationen der Abreise des Helden und der Begegnung mit dem Schenker, der ihm ein Zaubermittel schenkt, mit dessen Hilfe der gesuchte Gegenstand gefunden wird, entwickelt. Im weiteren Verlauf bietet das Märchen den Zweikampf mit dem Gegner (…), die Rückkehr und die Verfolgung. Oft ergeben sich in dieser Komposition zusätzliche Verwicklungen. Der Held ist schon im Begriff, nach Hause zurückzukehren, da wird er von seinen Brüdern in einen Abgrund geworfen. Er trifft dann erneut ein, muss sich einer Prüfung unterziehen, die in schwierigen Aufgaben besteht, besteigt den Thron und verheiratet sich (…).[6]

Dieser vereinfacht geschilderte kompositionelle Kern des Zaubermärchens kann verschiedene Variationen einnehmen. Ein Märchen kann auch aus mehreren Sequenzen bestehen, „(…) d. h. [aus] solchen, in denen z. B. mehrere Schädigungen vorkommen, von denen jede ihre eigene Entwicklung nimmt.“[7] Grundsätzlich geht Propp allerdings von der Abreise des Helden, dem ein Verbot bzw. ein Unglück vorausgeht, der Zweikampf mit dem Sieg über den Gegner, die Rückkehr und Verfolgung bzw. Prüfung und Lösung, aus. Dieses Schema findet sich z. B. auch auf schamanischen Reisen wieder: „(...) und vergleicht man sie [Schamanengeschichten] mit der Wanderung oder den Flug des Märchenhelden, so zeigt sich eine Übereinstimmung .[8] Die Verbindung zwischen Comic-Held und Märchen bzw. Mythos[9] im Allgemeinen, scheint vielleicht etwas weit hergeholt, weist dennoch Zusammenhänge auf. Eine sehr enge Verknüpfung zwischen Comic und Mythos besteht beim Superhelden, für dessen Geschichte oftmals Mythen-, Sagen- und Märchenfiguren wie Herkules oder der fliegende Ikarus als Vorläufer ihrer Entwicklung konstatiert werden.[10] Wesentliche Verbindungen zwischen Comic/ Graphic Novel-Verfilmungen und Märchen zeigen sich auch auf der erzählstrukturellen Ebene bzw. bei den handlungstragenden Figuren. Die Möglichkeiten der Anwendbarkeit der Märchenanalyse auf Bildergeschichten verdeutlicht beispielsweise die Analyse von Legendenfenster.[11] Aber auch im filmischen Bereich bewährte sich bereits eine ähnliche Methodik. Die Tatsache, dass sich Film (Drehbuch) oder bildliche Erzählungen und Mythos bzw. Märchen wiederum vereinen lassen, liegt darin, dass beide, zumindest inhaltlich betrachtet, aus gemeinsamen strukturellen Aufbau-Elementen bestehen. Katharina Roland[12] zeigt eingehend den Vergleich von Joseph Campbells „Monomythos“ mit dem Drehbuchparadigma nach dem Amerikaner Syd Field, wobei sich hier zahlreiche Parallelen zwischen Mythen- und Filmstruktur zeigen und auch eine passende Anwendung mittels einem aus beiden kombiniertes Modell fand. Im Grunde genommen offerieren die meisten Erzählstoffe eine gemeinsame Grundstruktur einer „Reise des Helden“, die jeweils analoge Stationen aufweisen,[13] in der der Held sein bekanntes Umfeld verlässt, sich auf ein Abenteuer begibt, wo er Aufgaben erfüllen oder sich Konflikten, Prüfungen meist gegen den Antagonisten stellen muss und am Ende gewandelt zurückkehrt und es zur Lösung des anfänglichen Konflikts kommt. Die Formel des „Monomythos“, aus der sich natürlich unzählige Variationen ableiten lassen, lautet vereinfacht: Trennung – Initiation – Rückkehr. „Der Heros verlässt die Welt des gemeinen Tages und sucht ein Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann kehrt er mit Kraft, seinen Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimnisvollen Fahrt zurück.“[14] Die 3-er Sprung-Formel entspricht der Märchenanalyse nach Propp, natürlich mit Abweichungen und Differenzen. Aufgrund der breiten Anwendbarkeit der Methode, scheint eine Übertragung der Analyse auf Graphic Novel(-Verfilmungen) zutreffend, auch wenn es sich bei der Märchenanalyse nach Propp um ein „(…) für die Textliteratur entwickeltes Instrumentarium (…)[15] handelt, denn im Mittelpunkt steht die Analyse der Figuren und deren Handlungen.

1.1.1 Methodenadaption für die Analyse

Da die Märchenanalyse nach Propp speziell auf das russische Zaubermärchen zugeschnitten ist, folgt diese einem bestimmten Abfolge- und Handlungs-Schema. Propp und seine Schüler beharren darauf, dass die narrative Struktur, die Reihenfolge der einzelnen Motive in eben dieser geschilderten Reihenfolge auftreten, auch wenn nicht immer alle Episoden vorhanden sein müssen. Nachdem dies zusammen für die Analyse von Comics bzw. Graphic Novels und deren Verfilmungen etwas einschränkend wirkt und auch teilweise nicht umsetzbar ist, weil z. B. nicht immer am Beginn ein „Verbot“ vorkommt oder die Funktionen (z. B. Helfer) nicht nur einmal sondern im Laufe der Geschichte ständig auftauchen, wird daher die Grundidee der Analyse nach Propp übernommen, nämlich die funktionale Strukturalisierung der Story in die den Antihelden definierende, verschiedene Handlungs-Motive, die allerdings in ihrer Funktion durch die jeweiligen Sujets und beschreibende Formulierungen bzw. Elemente benannt und ergänzt werden. Dies ermöglicht schließlich eine Differenzierung und den Vergleich der Antihelden-Charaktere.

Die Graphic Novels und die jeweiligen Verfilmungen werden in einer zum Teil chronologischen, vereinfacht dargestellten Erzähl-Dramaturgie untersucht, die einzelnen Funktionen bzw. Motive herausgesucht und bearbeitet. Die Symbolbezeichnung soll dabei unterbleiben, da sie im Erzählfluss mehr störend ist, als zum Verständnis beiträgt. Die nicht zwingend, aber dennoch häufig zusammenhängenden Motive dienen grundsätzlich dazu, den Antihelden, sein Umfeld und seine Handlungen zu beschreiben, und deren Ausformulierung soll die Vergleichbarkeit mit den Antihelden der Verfilmung ermöglichen. Es soll nicht vordergründig Aufgabe dieser Arbeit sein, den Märchen- oder Mythoshelden und seine Abenteuer mit den (Anti-)Helden aus den Graphic Novels und Verfilmungen miteinander zu vergleichen, wobei man natürlich, wenn man sich solch einer Methode bedient, an manchen Stellen Verweise setzen muss, und es in Bezug auf die Antiheldenproblematik sinnvoll erscheint, Vergleiche zum charakteristischen „Reiseverlauf“ eines wahren Helden zu ziehen. Die Übernahme bzw. Adaption der Methode nach Propp richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Analyse der (Haupt-)Figuren im Handlungsverlauf und zwar in Form einer Motivgliederung. Zusätzlich zum Propp’schen Untersuchungsvorgang soll bei der Abfolge der „Reise des Helden“ vereinzelt auf Begrifflichkeiten der Formel von Joseph Campbell zurückgegriffen werden, die sich nicht auf ein spezifisches Genre, wie bei Propp die Zaubermärchen, spezialisieren, sondern eher allgemein formuliert sind und wie Katharina Roland gezeigt hat, der Filmdramaturgie an vielen Stellen entsprechen.

2 Analyse und Interpretation der Graphic Novel From Hell

2.1 Produktion

Die Graphic Novel From Hell[16] verkörpert u. a. die Emanzipation vom „heiteren“ Comic-Genre. „Eine der ambitioniertesten und formal innovativsten historischen Erzählungen der letzten Jahre. Es ist genau die Art Buch, die sofort in den Bestsellerlisten auftauchen sollte.“[17] Der Anspruch der Graphic Novel als „Buch“ liegt einerseits in der großen Seitenanzahl des Bandes, andererseits im 56-seitigen Anhang, in dem die einzelnen Panels und Szenen auf ihre Dokumentation, den Wahrheitsgehalt oder der Fiktion ausführlich belegt werden. Dadurch steht nicht nur das Lesevergnügen im Mittelpunkt, sondern die Information und die Interpretation rund um die Mythologie von „Jack the Ripper“. Es geht weniger um den Mörder als viel mehr um die Besessenheit dieses Themas, so Moore.[18] Die Graphic Novel From Hell ist das Werk von den Comic-Künstlern Alan Moore und Eddie Campbell, die als Basis der historisch, bis heute spekulativen Thematik, die Überlegungen des Journalisten Stephen Knight gewählt und eigene Annahmen daraus erstellt haben. Der Prolog und die Kapitel 1-6 von From Hell wurden zwischen 1989 und 1992 in der amerikanischen Comic-Anthologie-Reihe Taboo veröffentlicht. Bis 1998 wurden diese Kapitel nachgedruckt und weitere Kapitel entstanden. 1999 erschien eine Gesamtausgabe in Eddie Campbells eigenem Verlag, nach der die deutsche Ausgabe folgt, die für diese Arbeit vorliegt.

2.1.1 Formale Besonderheiten

From Hell zeichnet sich durch den Umfang von über 400 Seiten aus, der in 14 Kapitel unterteilt ist. Pro Seite befinden sich im Durchschnitt neun Panels, wobei je nach Inhalt und Aussage auch größere Panels verwendet werden. Neben den gerahmten Panels gibt es offene, das heißt, Zeichnungen, die keine Rahmen haben. Sonstige von der Norm abweichende Panels oder auch Onomatopöien kommen selten bis gar nicht vor. Die fast stets gleich bleibende Panelform offeriert wesentliche, stilistische Vorteile für die Verfilmung. Die Dialoge sind trotz der Komplexität der Graphic Novel sehr kurz gehalten, oder beschränken sich oftmals auch auf Pantomime-Panels, sind dennoch sehr philosophisch und erfordern einen gewissen Intellekt, bzw. ein Wissen um bestimmte Dinge, wie z. B. die Freimaurerei und ihre Symbolik. From Hell bietet einerseits viel Freiraum für Interpretationen, andererseits kann der Anhang für ein besseres Verständnis genutzt werden. Der holzschnittartige Schwarz-Weiß-Stil der Zeichnungen erlaubt einen umfangreichen Einsatz von Schatten.

2.2 Inhalt

From Hell beginnt damit, dass Mr. Lees und Fred Abberline gemeinsam am Strand spazieren gehen und dabei über Politik und ihre Vergangenheit, die in der Folge gezeigt wird, reden. Die ersten fünf Kapitel sind ganz Sir William Gull, dem „Jack the Ripper“, gewidmet. Sie erzählen den erfolgreichen Lebensweg von William Gull, von seiner Sezierliebe als Kind bis zum Leibarzt der Königin Viktoria. Weiters wird die „unerlaubte“ Beziehung von der Hure Annie Crook und Prinz Albert bis zur Entführung beider geschildert. Annie wird das Opfer von Gull, indem er ihre Erinnerung raubt und sie zu einer Verrückten macht. Das dritte Kapitel zeigt das Elendsviertel Whitechapel und das ausweglose Leben der Prostituierten, die mit einem Erpressungsschreiben über das Wissen um die Beziehung von Annie und Albert Geld fordern, um zu überleben. Die vermeintliche Überlebensstrategie der Huren wird zum Todesurteil, da das Schreiben die Königin erreicht und diese Gull beauftragt die Prostituierten zu beiseitigen, um das Königshaus nicht in schlechten Ruf zu bringen. Gull und sein Kutscher Netley fahren durch London und Gull unterrichtet Netley in den historischen, architektonischen Bauwerken und Symbolen der Freimaurer-Gesellschaft, der Gull beiwohnt. In Kapitel fünf tötet Gull sein erstes Opfer, Polly. Abberline wird als Untersuchungsleiter beauftragt. Es folgt das zweite, grausam hingerichtete Opfer, Annie Chapman. Am 30. September 1888 ermordet Gull zwei weitere Huren: Elisabeth Stride und die von Gull in korrekter medizinischer Art ausgeweidete Kate Eddowes. Gull hinterlässt bei seinem vierten Opfer eine rätselhafte Inschrift, deren Echtheit umstritten ist. Im November 1888 fand das letzte Opfer Mary Jane Kelley ihren Tod, deren Körper fast bis zu Unkenntlichkeit zerstört wird. Abberline, noch immer mit der Aufklärung der seltsamen Morde beschäftigt, hängt sich widerwillig der Spur eines vermeintlichen Hellsehers an, der Visionen der Morde hat und ihn zum Haus von Gull führt. Gull gesteht schließlich seine Taten und wird daraufhin von der Bruderschaft der Freimaurer bis an sein Lebensende eingesperrt. Im Kapitel 14 wird der Tod, aber auch das Weiterleben von Gull geschildert. Abberline findet die Wahrheit über die Vertuschung seitens des Königshauses heraus und wird deswegen mit Geld zum Schweigen gebracht. Der Epilog ist bestückt von einer philosophischen Diskussion zwischen Mr. Lees und Abberline, die sich mit ihrem Leben und dem Leben nach dem Tod auseinandersetzen.

2.3 Motive des Antihelden

„(…) From Hell, which was not about superheroes.“[19] Der Antihelden-Charakter des Inspektors Frederick (Fred) Abberline zeigt keinerlei Konnotationen zum Superheldengenre, was u. a. mit der engen Orientierung der Graphic Novel From Hell an den historischen Tatsachen zusammenhängen mag. Was Abberline in die Kategorie des Antihelden verweist, ist sein problembehafteter Charakter. Abberline wurde von seinem Leben enttäuscht. Seine Vorgesetzten nutzten ihn aus, genauso wie seine neu entflammte Liebe zu einer Prostituierten. Das alles kulminiert in einem sehr grimmigen, depressiven Charakter, der seine Vergangenheit abgründig hasst und voller Angst und Zweifel den Kampf gegen den Mörder am Beginn seiner Reise aufnimmt. Sowohl Campbell als auch Propp sprechen von einer Reise des Helden. Die Reise entspricht der Geschichtsstruktur des Helden, die nach Campbell einem Kreis gleicht. Der Held reist ab, erfüllt seine Aufgaben und kommt zurück – es schließt sich der Kreis. Diese Zirkulation ist bei der Figur des Antihelden, Inspektor Abberline, nicht wirklich vorfindbar, was bereits strukturell auf seine Anti-Heldenhaftigkeit verweist. Abberline kehrt zwar zurück, doch es mangelt am vorhergehenden Sieg des Helden, was möglicherweise daran liegt, dass Sir William Gull als eine sehr dominante Figur präsentiert wird und daher die Kreisentwicklung auf diesem Charakter basiert. Betrachtet man die narrative Struktur von From Hell, so könnte der Prolog, der inhaltlich und situationsbedingt mit dem Epilog korrespondiert und einer Flucht gleicht, auch am Ende der Geschichte stehen. In dieser Konstellation entspricht die Geschichte hinsichtlich der einzelnen Funktionen der Figur Abberlines nahezu identisch der Struktur eines Zaubermärchens. Die Reise führt vom Traum zum Albtraum – ausgelöst durch den ersten Mord und die Versetzung von Abberline – der bis zum Schluss nicht wirklich seine retournierende Auflösung findet, sondern eine unendliche Reise in Verzweiflung und Vertuschung. Abberline nimmt den Kampf gegen den Mörder auf, doch sein Sieg und die Aufhebung des Unglücks bleiben wenig erfolgreich, er kehrt zurück stellt sich einer weiteren Prüfung, in deren Lösung er wiederum versagt.

2.3.1 Der Abwesende

Bei Abberlines erstem Auftritt[20] in From Hell, der für seine Figurentwicklung des Antihelden von Bedeutung ist, befindet er sich in einem Traum. Er beobachtet seinen Vater bei der Arbeit als Sattler. In seiner geistigen Abwesenheit befindet sich Abberline in einer Welt, die von Kindheitsglück geprägt ist. Abberlines Gemüt gleicht zwar nicht ausdrücklicher Freude, aber seine Gesichtszüge sind im Vergleich zu all jenen, die in der gesamten Erzählung vorkommen, freundlich orientiert. Die träumerische Abwesenheit von Fred Abberline präsentiert einen Helden, der eigentlich nichts mit der realen Welt zu tun haben will, sondern sich davor flüchtet. Es handelt sich dabei um die Flucht vor Verantwortung und vor der Anteilnahme an den Intrigen des Lebens bzw. deren Bekämpfung, die grundsätzlich den Merkmalen eines Helden widersprechen. Abberline wählt bewusst das Mittel des Tagtraums, der Erinnerungen an gute, alte Zeiten birgt, wo Abberline in das Reich abtauchen kann, wo er noch ein Held war, oder zumindest so behandelt wurde. Abberlines Träumerei, die in vielen Graphic Novels von Bedeutung ist, wie z. B. in Cortos Odyssee, wo der Held stets auf der Suche nach einem Ort ist, wo er ungestört träumen kann, wird durchbrochen. Ein Mord im Londoner Viertel Whitechapel ist passiert. Abberlines Vorgesetzter Warren vom Scotland Yard beschließt seine Versetzung.

2.3.2 Unglück – der Antiheld muss sein Reise beginnen

Unglückliche Umstände häufen sich in Abberlines Gegenwart. Erstens der Mord einer Hure, namens Polly, zweitens das „Unglück“ bzw. die „Schädigung“[21] für Abberline persönlich, seitens seines Vorgesetzten Sir Charles Warren, der als Gegenspieler fungiert, und ihn an einen Ort beordert, wogegen Abberline größte Abneigung hegt. Diese Widerwilligkeit, die die Figur Abberline sichtlich belastet und gleichzeitig als Antiheld kommuniziert, wird sehr eindrucksvoll durch eine Reihe von Pantomime-Panels gezeigt. Sein Gesicht ist in dunkle Schatten gehüllt, als Sir Charles Warren ihm den Befehl über die Beaufsichtigung der Beamten zur Mordaufklärung in Whitechapel übergibt. Erst zuhause bei seiner Frau bricht Abberline das Schweigen über die seelische Verletzung, die ihm sein Vorgesetzter durch den Beschluss seiner Versetzung zugefügt hat: „Vierzehn Jahre in dem verdammten, stinkenden Loch. Schließlich, im letzten November Inspektor zweiter Klasse. Kam zu Scotland Yard. Dann, im Februar, noch eine Beförderung: Inspektor erster Klasse. Ich dachte „Fred, Junge, es läuft! 1888 wird dein Glücksjahr.“[22] Hier kommt deutlich zur Geltung, dass seine abneigende Haltung begründet ist. Die Hoffnung war kurz und wird sofort wieder von enttäuschenden Erinnerungen heimgesucht, die den Antihelden im Sinne seines Charakters und seiner Verbissenheit plakativ zur Geltung bringen. Abberlines Reise nimmt mit der Reihe an Unglücksfällen seinen Anfang, was der Märchenanalyse nach Propp entspricht, der auch vom Unglücks-Motiv als „Schürzung des Knotens“[23] spricht, bevor der Held seine Reise antritt.

[...]


[1] Mehr zum Thema Comicverfilmungen und Antihelden: Kainz, Barbara (Hrsg.): Comic.Film.Helden. Heldenkonzepte und medienwissenschaftliche Analysen, Wien, 2009 (erscheint in Kürze).

[2] Mehr zum Thema Antiheld vgl.: Kainz, Barbara: Der Antiheld hat viele Gesichter. Motive und Image einer Heldenspezies in Comicverfilmungen, Wien, 2008.

[3] Kainz, Barbara: Antihelden in Comicverfilmungen. Transformationsanalyse ausgewählter Graphic Novel und deren Verfilmungen, Wien, 2006.

[4] Propp, Vladimir Jacovlevic: Morphologie des Märchens, Frankfurt a. M., 1982, S. 65.

[5] Ebd., S. 31.

[6] Propp, Vladimir Jacovlevic: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München, 1987, S. 14.

[7] Propp, Vladimir Jacovlevic: Morphologie des Märchens, Frankfurt a. M., 1982, S. 101.

[8] Propp, Vladimir Jacovlevic: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München, 1987, S. 461.

[9] Mythos und Märchen werden hier quasi synonym gebraucht, während der theoretische Ansatz von Bruno Bettelheim in Kinder brauchen Märchen (1957) die Unterscheidung von Märchen und Mythos auf sehr formalen Wege vornimmt; Siehe: Roland, Katharina: Unser Held hat tausend Gestalten. Ein strukturanalytischer Vergleich von Heldenmythos und Drehbuch, Dipl., Wien, 1998, S. 19; so sieht Vladimir Propp den Unterschied in der sozialen Funktion von Mythos. Propp nimmt dabei an, dass der Mythos den Märchen vorausgeht und er es für möglich hält, dass Märchen durch Mythen erklärt werden können. Siehe: Propp, Vladimir Jacovlevic: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München, 1987, S. 24-26.

[10] Benesch, Norbert: Superheldencomics. Ein Versuch der Erklärung ihrer psychologischen Funktionen und der verlagsmäßigen Maßnahmen zur Leser-Blatt-Bindung, Diss., Wien, 1984, S. 4.

[11] Karpf, Jutta: Strukturanalyse der mittelalterlichen Bildererzählung. Ein Beitrag zur kunsthistorischen Erzählforschung, Marburg, 1994, S. 25-28.

[12] Roland, Katharina: Unser Held hat tausend Gestalten. Ein strukturanalytischer Vergleich von Heldenmythos und Drehbuch, Dipl., Wien, 1998.

[13] Eine genaue Gegenüberstellung von „Das Paradigma von Syd Field und Der Monomythos von Joseph Campbell“, siehe: Ebd., S. 72.

[14] Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a. M., 1953, S. 35.

[15] Grünewald, Dietrich: Comics, Tübingen, 2000, S. 28.

[16] Moore, Alan/Campbell, Eddie: From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen, Bad Tölz, 2002. Der Titel „From Hell“, der in der Verfilmung übernommen wurde, stammt aus einem Brief, mit dem Absender „From Hell“, der zusammen mit einer Niere, am 16. Oktober 1888 beim Leiter der Bürgerwehr, George Lask, einging. Im Vergleich zu den anderen Briefen, ist die Echtheit dieses Briefes zwar umstritten, aber nicht ausgeschlossen.

[17] The Independent, zitiert nach: Moore, Alan/Campbell, Eddie: From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen, Bad Tölz, 2002, o. S.

[18] Moore, Alan (Interview): URL: http://www.welt.de/data/2000/10/14/586704.html?s=2, aufgerufen am: 15.07.05, 17:15 Uhr.

[19] Millidge, Gary Spencer (Hrsg.): Alan Moore. Protrait of an extraordinary gentleman, Abiogenesis Press, 2003, S. 171.

[20] Moore, Alan/ Campbell, Eddie: From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen, Bad Tölz, 2002, Kapitel 6, S. 1.

[21] Propp, Vladimir Jacovlevic: Morphologie des Märchens, Frankfurt a. M., 1982, S. 36.

[22] Moore, Alan/ Campbell, Eddie: From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen, Bad Tölz, 2002, Kapitel 6, S. 5.

[23] Propp, Vladimir Jacovlevic: Morphologie des Märchens, Frankfurt a. M., 1982, S. 43.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
From Hell - Vom Comic zum Film
Untertitel
Analyse des Antihelden Abberline und intermediale Faktoren
Hochschule
Universität Wien  (Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
keine - Teil von Diplomarbeit
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
40
Katalognummer
V126851
ISBN (eBook)
9783640335312
ISBN (Buch)
9783640335763
Dateigröße
569 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der wissenschaftliche Aufsatz ist aus meiner Diplomarbeit entnommen.
Schlagworte
From, Hell, Comic, Film, Analyse, Antihelden, Abberline, Faktoren, Sehr
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Mag Barbara Kainz (Autor:in), 2006, From Hell - Vom Comic zum Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126851

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