Fallstudien zu Fehlentscheidungen / Fehlentwicklungen in der Unternehmenspraxis: Der Fall Kirch


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2002

51 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1. Das Unternehmen: TaurusHolding GmbH & Co. KG
1.1 Die Unternehmensstruktur in der Übersicht
1.2 KirchMedia GmbH & Co. KGaA
1.3 KirchPayTV GmbH & Co. KGaA
1.4 KirchBeteiligungs GmbH & Co. KG

2. Chronologie der Entwicklung
2.1 Gründungszeit: Die Anfänge
2.2 Expansionsphase
2.3 Die 90er Jahre bis Insolvenz (2002)

3. Problemfelder der Praxis und resultierende Fehlentscheidungen
3.1 Leo Kirch
3.2 Expansion und Investition
3.3 Free-TV und Pay-TV
3.4 Die Rolle der Kreditinstitute und Investoren
3.5 Die Rolle der Politik
3.6 Abhängigkeit vom Werbemarkt (Free-TV)

4. Theoretische Erklärungsansätze im Fall Kirch
4.1 Überblick
4.2 Verlust-Eskalation
4.2.1 Einführung
4.2.2 Escalation of Commitment
4.2.3 Sunk Cost- Effekt
4.2.4 Zusammenführung: Verlust-Eskalation
4.3 Groupthink
4.4 Hypothesentheorie der Wahrnehmung („Wir sehen was wir sehen wollen“)
4.5 Theorie der kognitiven Dissonanz („Die Selbstbestätigungsfalle“)
4.6 Modell der gelernten Sorglosigkeit („Es wird schon alles gut gehen“)

5. Zusammenfassung

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung A1: Organigramm der TaurusHolding GmbH & Co. KG

Abbildung A2: Beteiligungsstruktur bei der ProSiebenSat.1 Media AG

Abbildung A3: Zeittafel 1956 bis 1989 im Fall Kirch

Abbildung A4: Zeittafel 1990 bis Insolvenz im Fall Kirch

Abbildung A5: Der integrierte Medienkonzern

Abbildung A6: Preisentwicklung der Bundesligarechte

Abbildung A7: Einkaufsstruktur von ProSiebenSat.1 Media

Abbildung A8: Umsatzverteilung der Kirch-Gruppe

Abbildung A9: Brutto-Marktanteile am TV-Werbegeschäft in Deutschland 1995 – 2002

Abbildung A10: Ergänztes Groupthink-Modell

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Beteiligungsstruktur der TaurusHolding GmbH & Co. KG

Tabelle 2: DKWR – Schätzung der finanziellen Verpflichtungen der Kirch-Gruppe

Tabelle 3: Brutto-Marktanteile am TV-Werbegeschäft in Deutschland 1995 & 2001

Tabelle 4: Notwendige Bedingungen für Verlust-Eskalation im Fall Kirch

Tabelle A1: Geschätzte Verschuldung der Kirch-Gruppe (Stand: 1. Quartal 2002)

1. Das Unternehmen: TaurusHolding GmbH & Co. KG

1.1 Die Unternehmensstruktur in der Übersicht

„Die TaurusHolding, gegründet im Juli 2000 als KirchHolding, ist die zentrale Holding aller Gruppenaktivitäten der Kirch-Gruppe. Sie führt die Unternehmensgruppe und verantwortet die operativen und strategischen Bereiche mit ihren drei Dachgesellschaften KirchMedia, KirchPayTV und KirchBeteiligung.“[1]

Der vollständig integrierte Medienkonzern mit Fokus auf den deutschen Markt hält Beteiligungen in folgender Höhe (s. auch Tab. 1) an seinen drei Dachgesellschaften[2]: 72,62% an der KirchMedia GmbH & Co. KGaA, 69,75% an der KirchPayTV GmbH & Co. KGaA sowie 100% an der KirchBeteiligungs GmbH & Co. KG.[3]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: In Anlehnung an Goldman Sachs Global Equity Research, 2001, S. 6

Tabelle 1: Beteiligungsstruktur der TaurusHolding GmbH & Co. KG

Jede der drei Dachgesellschaften bindet andere Vermögenswerte der Kirch-Gruppe. Zentraler Baustein ist KirchMedia, welche Rechtehandel, Sport, Free-TV (u. a. die ProSiebenSat.1 Media AG), Neue Medien, Produktion und Filmtechnologie umfasst.[4]

Als Gegenpart stellt KirchPayTV „die Holding für [das] Abonnementfernsehen der Kirch-Gruppe [dar]. Die Premiere Fernsehen GmbH & Co. KG veranstaltet als Tochterunternehmen der Holding das Programm. Mit über 25 Fernseh- und 21 Audiokanälen ist Premiere [nach eigenen Angaben] die führende digitale TV-Plattform in Deutschland.“[5]

„Die KirchBeteiligung bündelt Beteiligungen der Kirch-Gruppe an Unternehmen aus den Bereichen Print (Axel Springer Verlag AG), Kino, Musik sowie Entwicklung und Vermarktung digitaler Kommunikationstechnologien.“[6]

Im Zeitraum von April bis Juni 2002 haben KirchMedia, KirchPayTV (mit Ausnahme der Premiere Fernsehen GmbH) sowie TaurusHolding (und dementsprechend auch KirchBeteiligung) Insolvenz angemeldet.

1.2 KirchMedia GmbH & Co. KGaA

„Die KirchMedia ist in allen Bereichen der Film- und Fernsehunterhaltung aktiv und besetzt mit ihren Tochtergesellschaften und Beteiligungen zentrale Positionen in den Geschäftsfeldern Film- und Sportrechtehandel, Free-TV, Neue Medien, Produktion und Technische Dienstleistungen.“[7]

Im Bereich Rechtehandel erwirtschaftete KirchMedia im Bilanzjahr 2000 einen Gesamtumsatz von 2.340 Mio. DM. Mit 15.000 Stunden Programm im internationalen Vertrieb in über 160 Länder gehörte KirchMedia zu den leistungsfähigsten Programmanbietern Europas. Als Marktführer im deutschsprachigen Raum erreichten Spielfilmausstrahlungen z. T. Marktanteile von über 43% im Free-TV. Der Filmstock des Tochterunternehmens TaurusLizenz belief sich auf 63.243 kommerzielle Programmstunden.[8]

Im Free-TV- Bereich hält KirchMedia eine 52,52% starke Beteiligung (Stimmrechtsanteil von 88,5%; s. auch Anh. Abb. A2) an der im Juni 2000 zusammengeführten ProSiebenSat.1 Media AG (PSM). Diese integriert die Sender Sat.1, ProSieben, Kabel 1, das Sportfernsehen DSF sowie den 24-Stunden-Nachrichtensender N24. Durch die Fusion von Sat.1 und ProSieben hat sich der deutsche Fernsehwerbemarkt zu einem Duopol gewandelt: ProSiebenSat.1 hielt 2000 im deutschen TV-Werbegeschäft einen Bruttomarktanteil von 45,0%, die vier Sender der RTL Group 39,3%.[9]

Die Zuschauermarktanteile der KirchMedia beliefen sich im gleichen Jahr wie folgt:

„The Merger has left the German commercial broadcasting market with two dominant players (PSM and RTL Group) leading to higher barriers to entry. ... In 2000 PSM had a 23.9% share of all viewers in Germany and 30.7% of the commercially important 14-49-year old viewers. This compares with 24.7% and 30.5% .. for the other key German broadcaster, RTL Group.“[10]

Im Geschäftsfeld Neue Medien führt die Kirch Intermedia GmbH alle Multimedia-Aktivitäten, u. a. die Online-Marken der TV-Sender (Sat.1 online und ProSieben online) sowie das Joint Venture Sport1.de (größter deutscher Sportanbieter im Internet).[11]

Weitere Bereiche von KirchMedia sind Produktion (inter-/nationale TV- und Kinoproduktionen, non-fiktionale Unterhaltungsprogramme, Entwicklung neuer Konzepte etc.), Sport (Fußball, Motorsport, Boxen etc.) und technische Dienstleistungen.[12]

Neben TaurusHolding gibt es bedeutende Minderheitsgesellschafter: Thomas Kirch, Rewe-Beteiligungs-Holding, der Medienkonzern Mediaset (Geschäftsführer: Silvio Berlusconi), Kingdom Holdings (Prinz Al Waleed) und weitere (s. Anh. Abb. A1).[13]

1.3 KirchPayTV GmbH & Co. KGaA

„KirchPayTV controls all the Kirch Gruppe’s activities in the area of digital pay-TV. Included in this entity is German pay-TV platform Premiere .. and the digitalbroadcasting centre BetaDigital. ... Acting as a control centre, KirchPayTV is responsible for it’s companies’ commercial affairs and for the service functions of subscriber management, IT management and human resources.“[14]

Als wichtigster Bestandteil von KirchPayTV wurde Premiere 1990 von Bertelsmann, Canal Plus und der Kirch-Gruppe gegründet. 1991 geht Premiere nach der Übernahme der 100.000 Abonnenten des Pay-TV- Vorreiters Teleclub auf Sendung. 1999 erhöht die Kirch-Gruppe ihren Anteil von 25% auf 95% (Kosten: 2,4 Mrd. DM) und bündelt Premiere mit dem verlustreichen digitalen Fernsehsender DF1 zu Premiere World.[15]

Trotz der hohen Investitionen bleibt der Erfolg für die einzige deutsche digitale Pay-TV-Plattform aus. Premiere verursacht 2001 Verluste von rund 1 Mrd. Euro. Auch die Abonnentenzahl von lediglich 2,4 Mio. im darauffolgenden Jahr „ist im Vergleich zu den insgesamt 33 Mio. deutschen Fernsehhaushalten entmutigend niedrig.“[16]

Am 08. Mai 2002 hat KirchPayTV und eine Reihe ihrer Untergesellschaften Insolvenz angemeldet. Ausgenommen hiervon ist die Premiere Fernsehen GmbH & Co. KG, die seit dem 1. Quartal 2002 eine Unternehmenssanierung (Kostensenkung, Mitarbeiter- und Standortrationalisierung, Forderungsverzichte von Gläubigern, Gewährung einer Übergangskreditlinie) durchgeführt hat.[17] Dennoch gilt die bisher „hochdefizitäre Bezahlfernsehsparte ... als Hauptgrund für den Zusammenbruch der Kirch-Gruppe.“[18]

Bedeutende Beteiligungen an KirchPayTV hat u. a. der von dem Medienunternehmer Rupert Murdoch kontrollierte Sender British Sky Broadcasting (BSkyB) mit einem Anteil von 22,03%.[19]

Weitere Ausführungen zu den Gesellschaftern finden sich in Abb. A1 im Anhang.

1.4 KirchBeteiligungs GmbH & Co. KG

„Kirch Beteiligung [gegründet 1999] is the holding company for Kirch Holding’s investments. Kirch Beteiligung has investments in a number of companies active in print. … Beteiligung also holds stakes in distribution and cinema film production, music rights and music production, software development and decoder technology as well as activities in local television.”[20]

Am 12. Juni 2002 beantragte die KirchBeteiligungs GmbH & Co. KG die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Auslöser dafür war die Stellung des Insolvenzantrags durch die Dachgesellschaft TaurusHolding GmbH & Co. KG. Das breit gefächerte Spektrum der Beteiligungen reicht von der Speed Investment Ltd., die mit 75% an der SLEC Holding Ltd. (Formel Eins) beteiligt ist[21], über den Axel Springer Verlag im Bereich Print bis zur BetaResearch GmbH, die Software für den Digitalreceiver d-Box entwickelt. Die Constantin Film AG ist im Bereich des Filmgeschäfts als Produzent und Verleiher tätig, außerdem werden bei der Unitel GmbH & Co. KG Musikproduktionen (zumeist klassische Musik) durchgeführt.

Es lässt sich erkennen, dass die Beteiligungen dem Ziel der Kirchgruppe helfen sollen, einen Konzern zu schaffen, der alles aus einer Hand an die Kunden liefern kann. Beispiele hierfür sind die eigens entwickelte d-Box mit der von BetaResearch programmierten Software oder die Senderechte der Formel 1 für den eigenen Fernsehsender Premiere. Die Art des Erwerbs und das beabsichtigte Ziel der Beteiligungen sind dabei kritisch zu hinterfragen. Beispielsweise kaufte sich Kirch heimlich gegen den Willen des Springervorstands in das Unternehmen ein (s. 2.2).[22] Die fremdfinanzierte Beteiligung an der SLEC wurde trotz der (weiterhin bestehenden) Pläne der Automobilhersteller eingegangen, ab 2008 eine eigene Rennserie zu starten. Dies hat eine erhebliche Wertkorrektur der Beteiligung zur Folge. Eine Analyse über die reinen Beteiligungsstrukturen hinaus ist kaum möglich, da die Kirch-Gruppe „no publicity available picture of the entire group’s profits, cashflow or debts [veröffentlicht]. ... KirchMedia [is] the only one of the three sub-groups to publish any financial information.“[23] Eine Darstellung der Beteiligungen findet sich in Abb. A1 im Anhang.

2. Die Chronologie der Entwicklung

2.1 Gründungszeit: Die Anfänge

In der Zeit von 1954 bis 1965 machen Leo Kirch und Hans Andresen ihre ersten Schritte. Sie können in Italien die deutschsprachigen Rechte an dem Film „La Strada“ kaufen und schaffen es, ihn in die Kinos Österreichs und Deutschlands zu bringen. Sie gründen die Sirius Film GmbH zur Verwertung von Filmrechten. Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf und die weitere Ausrichtung der Geschäfte ist das aufkommende Fernsehen. Kirch erkennt im Gegensatz zu den Filmverleihern (welche sich weigern, mit den Rundfunkanstalten Geschäfte zu machen) das Potential des Fernsehens und etabliert sich als Lieferant der ARD, der damals einzigen Fernsehanstalt. Die Entwicklung der Kinobesucher[24] und die steigende Verbreitung des Fernsehens gaben ihm Recht. „Die deutschen Filmemacher haben sich darauf verständigt, das neue Medium, das für den drastischen Besucherschwund an den Kinokassen verantwortlich ist, zu boykottieren.“[25] Der berühmte Filmstock „baut sich, mehr aus einer Notlage heraus,“ auf. Kirch sieht sich unter Zugzwang ein Filmpaket über 400 Filme zu kaufen, um seine Stellung als Intermediär zwischen den Filmstudios in Amerika und der ARD zu rechtfertigen. Die ARD macht eine Kaufzusage für 70 Filme zu 2 Mio. DM. Die Kosten aller 400 Filme belaufen sich auf 6 Mio. DM. Die Finanzierung steht auf wackeligen Beinen und kann nur durch ein Schreiben des Intendanten des Süddeutschen Rundfunks an die Banken gesichert werden.[26] „Fearful that Hollywood might bypass him and go straight to the broadcasters, Kirch obtained a loan and bought the whole package. … Kirch set the pattern that was to rule most of his business life, a big bet with borrowed money that delivered huge profits.”[27] „Erst durch diesen Großeinkauf kann sich Kirch als Zwischenhändler von Filmen ernsthaft und langfristig etablieren.“[28] Zur Jahreswende 1959/1960 wird die Betafilm für die internationale Vermarktung von Filmen und TV-Serien gegründet. Anfang der 60er Jahre sind schon 700 Filme Verhandlungsgrundlage zwischen Kirch und ARD.[29] Die ARD wird zum wichtigsten Abnehmer von Fernsehrechten.[30] Neben den guten Kontakten zu der ARD verfolgt Leo Kirch auch die Absichten von Bundeskanzler Konrad Adenauer sehr genau, in Deutschland ein zweites Fernsehprogramm zu etablieren. Die Formel in den Augen von Leo Kirch: „Mehr Sender, mehr potentielle Abnehmer, also höhere Preise pro Spielfilm und Serie, höhere Bewertung des Filmvermögens, höhere Kreditwürdigkeit.“[31] Das Programm für den Sendestart vom ZDF hält Kirch schon bereit. Im April 1963 nimmt das ZDF den Sendebetrieb auf und kauft Spielfilme von Leo Kirch. Das wenig erfahrene Management bedient sich Kirchs als externen Programmbeschaffer. Da das Budget noch enger als das der ARD bemessen ist, kann das ZDF nicht so viele Programmstunden teuer selbst produzieren. Kirch macht dem ZDF das Angebot, ein Filmpaket mit einigen Spitzenfilmen und etlichen alten bzw. mittelmäßigen Filmen zu schnüren. Dann „könne er ihnen einen guten Preis machen.“[32] Das Management willigt ein, was für Kirch ein Glücksfall ist. Er hat mehr Erfahrung als ARD und ZDF „und zweitens die Flexibilität des Alleinunternehmers. Die Folge waren [jahrelange] Abhängigkeiten.“[33] 1963 wird die TaurusFilm als Anbieter für Film und Fernsehen gegründet. 1964 gründet Leo Kirch mit Herbert von Karajan Cosmotel, eine Produktionsfirma für klassisches Musikprogramm.

2.2 Expansionsphase

1965 bis 1990 findet Leo Kirch immer mehr Felder, auf denen er expandiert. Bereits in dieser Zeit durchlebt er Höhen und Tiefen. In den 70er Jahren etwa „gerät Kirchs Konglomerat in eine schwere Krise. Die Hamburger Magazine „Spiegel“ und „stern“ lösen mit ihren Artikeln umfangreiche interne Überprüfungen beim ZDF aus. Die bestätigen Kirchs Übermacht in etlichen Bereichen.“[34] Dieses „Film-Liefermonopol“ wollen die Verantwortlichen bei ARD und ZDF mit Quoten regeln, die die Programmzukäufe bei einem Anbieter beschränken sollen. Bei der ARD liegt diese Quote bei 33%, beim ZDF bei 40%. Diese Quoten hat Kirch jedoch mit Firmenneugründungen umgangen, bei denen er selbst nicht in Erscheinung getreten ist, sondern immer nur Freunde, die seine Anteile treuhänderisch verwalteten.[35] Der Filmrechtehandel boomte und die Abnehmer waren gezwungen, neben den wenigen Top-Titeln auch minderwertige Ware in den Paketen zu akzeptieren. Auch in dieser Zeit blieb das ZDF einer der größten Abnehmer von Kirch. Erst am 10. Februar 1984 gelingt es der ARD nach zähen Verhandlungen zum ersten Mal die Monopolstellung Kirchs zu durchbrechen und direkt von einem Hollywoodstudio (MGM/UA) Lizenzen zu erwerben.[36] Kirch gründet unter anderem 1968 die IdunaFilm, welche Kino- und Fernsehfilme produziert. 1971 die Merchandising München, welche die Verwertung von Urheberrechten betreibt. Die 1975 gegründete BetaTechnik ist das technische Servicezentrum der Kirchgruppe. Hieraus wird später die Synchronisationsarbeit (die klassische Ergänzung zum Filmrechtehandel) ausgegliedert. Gleichzeitig wird das deutsche Synchronzentrum Berlin so häufig mit Aufträgen von Kirch eingedeckt, dass eine Abhängigkeit entsteht.[37] 1983 folgt die TaurusVideo. Gemäß dem letzten Willen des Verlegers Axel Springer erhält Kirch 1984 eine 10%ige Beteiligung am Axel Springer Verlag nach langem Hin und Her zugebilligt. Mehr Anteile darf Leo Kirch nicht an dem Verlag besitzen. Obwohl es sich bei den Aktien des Verlages um vinkulierte Namensaktien handelt, schafft es Kirch, sich nach und nach weiter in den Verlag einzukaufen und hält Anfang der 90er Jahre ca. 40% der Aktien. Dieses Aktienpaket kostet Kirch geschätzte 500 Mio. DM.[38] Im gleichen Jahr sendet die PKS (Vorgängerin von Sat.1) zum ersten Mal. Damit war die Verwertungskette zwischen der Produktion, dem Lizenzhandel und Ausstrahlung im eigenen Fernsehsender geschlossen. Die Eigentümer von PKS bzw. Sat.1 (unter ihnen Kirch) mussten gemeinsam die Verluste des Senders ausgleichen. Gleichzeitig schaffte es Leo Kirch immer größere Mengen des Programms von Sat.1 aus seiner eigenen Programmbibliothek zu liefern. Den Defiziten aus dem Sendebetrieb standen Erlöse aus dem Verkauf der Lizenzen gegenüber, eine Position, die die anderen Gesellschafter nicht hatten. 1988 sendet der in der Schweiz gegründete Pay-TV-Sender Teleclub nun auch in Deutschland. Im Jahre 1989 geht der -heute rentable- Sender ProSieben auf Sendung. Dieser entstand aus dem maroden Kleinst-Sender Eureka, dessen Lizenz dann für den neuen Fernsehsender ProSieben genutzt wird. Auf Grund seiner Beteiligung an Sat.1 muss sich Kirch auch hier eines Treuhänders bedienen. Es ist sein eigener Sohn Thomas, bis dahin ohne jegliche Erfahrung in „betriebswirtschaftliche[n] Belange[n]“[39], der von Leo Kirch in diese Rolle eingesetzt wird (s. auch 3.3).[40]

2.3 Die 90er Jahre bis Insolvenz (2002)

1990 gründen Bertelsmann, Canal Plus und die Kirch-Gruppe den Pay-TV-Sender Premiere. Mit dem Einstieg in das Bezahlfernsehen kam die Wende:

„In der Goldgräberstimmung der Anfangsjahre des deutschen Privatfernsehens hatte kaum jemand Zweifel, dass man auch ...[hier] Fernsehen gegen direktes Entgelt verkaufen könne. Das war Kirchs erste grobe Fehleinschätzung, wenngleich er sich in guter Gesellschaft befand.“[41]

1991 geht Premiere auf Sendung. Die zusammen mit dem Axel Springer Verlag gegründete Internationale Sportrechte-Verwertungsgesellschaft ISPR erwirbt die Rechte an der deutschen Fußball-Bundesliga. 1992 folgen diverse Übernahmen (s. Abb. A4 im Anhang), 1993 startet Deutschlands erster werbefinanzierter Sportspartensender DSF (Kirch-Gruppe ist zu 24,5% beteiligt). Nach der aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagten Media Service GmbH, einem Zusammenschluss von Bertelsmann, Deutsche Telekom und der Kirch-Gruppe zur Einführung des digitalen Fernsehens, präsentiert die Kirch-Gruppe 1995 im Alleingang den Entschlüsselungs-Decoder d-Box.[42]

Im darauffolgenden Jahr startet der digitale Fernsehsender DF1, weist zum Jahresende aber nur 30.000 statt der kalkulierten 200.000 Abonnenten auf. 1997 übernimmt die Kirch-Gruppe die Mehrheit an Sat.1, während ProSieben Media an die Börse geht. Bereits jetzt ist die Kirch-Gruppe mit über 3 Mrd. DM bei zehn deutschen Banken verschuldet (Zinsaufwand 1997: 200 Mio. DM).[43] 1998 hinterlegt Kirch als Sicherheit für einen Kredit der Deutschen Bank seinen 40-prozentigen Anteil am Springer-Verlag.

Es folgen die Neustrukturierung der Kirch-Gruppe (drei Dachgesellschaften: KirchMedia, KirchPayTV und KirchBeteiligung)[44], die Anteilserhöhung am Pay-TV-Sender Premiere auf 95 Prozent sowie die Zusammenfassung von Premiere und DF1 zu Premiere World im Oktober 1999.[45] Investoren sorgen in dieser Zeit für Liquidität:[46] „To raise cash, Kirch sells stakes in pay TV and other businesses to partners including BSkyB, Lehman Brothers, and Saudi Prince Alwaleed’s Kingdom Holding Co.“[47]

Unter dem Dach der im März 2000 gegründeten KirchHolding (später TaurusHolding) erhält die Kirch-Gruppe die Übertragungsrechte an der Fußball-Bundesliga für weitere vier Jahre. Bis Ende 2000 erfolgen u. a. die Gründung der PSM sowie die Mehrheitsübernahme an der ISPR.[48] Nachdem Premiere das Ziel für das Jahr 2000, 2,9 Mio. Abonnenten zu gewinnen, deutlich verfehlt, erfolgt ein Wechsel in der Geschäftsführung sowie der Einstieg in die Formel 1: „Desperate for content to draw pay-TV viewers, Kirch pays $ 1.5 billion for Formula One rights.“[49] Die Gläubigerbanken werden zunehmend unruhig, da Premiere trotz weiterer Investitionen nicht vorankommt. Die schlechte Stimmung wird durch Spekulationen über eine feindliche Übernahme der Kirch-Gruppe durch Rupert Murdoch (BSkyB), welche dieser dementiert, noch verschlechtert. Zudem kann ein im Dezember 2001 fälliger Kredit der Dresdner Bank über 460 Mio. Euro nicht zurückgezahlt werden.[50] Die akute Finanzkrise wird im Januar 2002 durch das Ziehen einer Verkaufsoption des Springer- Verlags für seine Beteiligung an der PSM im Wert von rund 770 Mio. Euro noch verstärkt: Der Verlag hatte zwei Jahre zuvor diese Option ausgehandelt, als er seine Anteile an dem Fernsehsender Sat.1 (41%) in die neue PSM einbrachte und dafür einen Anteil von 11,5% erhielt. Äußerungen von Deutsche Bank- Chef Breuer bzgl. der fragwürdigen Kreditwürdigkeit der Kirch-Gruppe sowie Murdochs Ankündigung, im Oktober eine 1,76 Mrd. Euro Put-Option auszuüben, folgen.[51] Nachdem im Februar 2002 erneut die Premiere-Geschäftsführung wechselt und am 20. März die geplante Fusion von KirchMedia und PSM abgesagt wird, erklärt sich Leo Kirch am 25. März bereit, aus dem Kerngeschäft auszusteigen. Dies ist der Beginn für Verhandlungen zwischen interessierten Investoren (u. a. Murdoch und Berlusconi), Banken und Kirch-Gruppe. Während die Banken nur dann einem Überbrückungskredit zustimmen, wenn sich Investoren beteiligen, äußert Bundeskanzler Gerhard Schröder „Bedenken gegen einen Einstieg von Berlusconi auf dem deutschen Medienmarkt“. Am 03. April stecken die Verhandlungen fest.[52] Am 08. April meldet KirchMedia Insolvenz an, gefolgt von KirchPayTV am 08. Mai (ohne Premiere) sowie von TaurusHolding und Kirch Beteiligung am 12. Juni 2002.[53]

[...]


[1] Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002c)

[2] In Anh. Abb. A1 findet sich ein Gesamt-Organigramm, welches die komplexen Beteiligungsverhältnisse des Unternehmens verdeutlicht. Allein zu KirchMedia gehören lt. des Geschäftsführers im Insolvenzverfahren Wolfgang van Betteray inkl. inaktiver Gesellschaften „mehr als 100 Unternehmen“. - o.V. (2002e), S. 18.

[3] Vgl. Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002b)

[4] Vgl. von Hammerstein/Hornig/Rosenbach (2002), S. 115.

[5] KirchPayTV GmbH & Co. KGaA Web site (2002)

[6] KirchBeteiligungs GmbH & Co. KG Web site (2002)

[7] KirchMedia GmbH & Co. KGaA Web site (2002)

[8] Vgl. KirchMedia GmbH & Co. KGaA Web site (2001a): Bilanz-Pressekonferenz KirchMedia am 24. Juli 2001, S. 15 ff.

[9] Vgl. Dresdner Kleinwort Wasserstein Research (2002), S. 7 ff.

[10] Dresdner Kleinwort Wasserstein Research (2001), S. 1 f.

[11] Vgl. KirchMedia GmbH & Co. KGaA Web site (2001c): Geschäftsbericht KirchMedia 2000, S. 28 f.

[12] Vgl. KirchMedia GmbH & Co. KGaA Web site (2001a): Bilanz-Pressekonferenz KirchMedia am 24. Juli 2001, S. 37 ff.

[13] Vgl. KirchMedia GmbH & Co. KGaA Web site (2001c): Geschäftsbericht KirchMedia 2000, S. 48.

[14] Goldman Sachs Global Equity Research (2001), S. 6.

[15] Vgl. Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002a); o.V. (2002b), S. 16.

[16] Theurer (2002), S. 13.

[17] Vgl. Premiere Fernsehen GmbH & Co. KG Web site (2002): Das neue Premiere – Bericht über das erste Halbjahr 2002, Ausblick auf den weiteren Geschäftsverlauf, S. 11 ff.

[18] o.V. (2002d), S. 16.

[19] Vgl. Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002b)

[20] Goldman Sachs Global Equity Research (2001), S. 6.

[21] Vgl. Goldman Sachs Global Equity Research (2001), S. 31.

[22] Axel Springer gesteht Kirch 10 % am Grundkapital zu, 1988 sind es bereits über 25 %. - vgl. Radtke (1996), S. 179 und S. 213 ff.

[23] o.V. (2001), S. 77.

[24] Die Kinobesucher schwanden von 1956 bis 1963 von 817 Mio. auf 366 Mio

[25] Clark (2002), S. 76.

[26] Radtke (1996), S. 22 ff.

[27] Ewing/Fairlamb (2002), S. 30.

[28] Clark (2002), S. 75.

[29] Vgl. Radtke (1996), S. 24.

[30] „Der Preis pro Film steigt von 29500 Mark auf 50000 Mark.” – Clark (2002), S. 274.

[31] Radtke (1996), S. 25.

[32] Clark (2002), S. 77.

[33] Weber (2002), S. 18.

[34] Radtke (1996), S. 61.

[35] Clark (2002), S. 84.

[36] Vgl. Radtke (1996), S. 134 f.

[37] Vgl. Radtke (1996), S. 91.

[38] Vgl. Clark (2002), S. 85 f.

[39] Clark (2002), S. 85.

[40] Eine Zusammenstellung der Ereignisse findet sich in Abb. A3 im Anhang.

[41] Weber (2002), S. 18.

[42] Vgl. Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002a); Weber (2002), S. 18.

[43] Vgl. Boldt (2002), S. 14.

[44] „One important consequence of this reorganisation is the absence of long run historic financial data. While financials are not available for Kirch Holding, Kirch Media has traditionally published it’s annual income statement in the public domain. ... Trading records are only available for 1999 and 2000.“ - Goldman Sachs Global Equity Research (2001), S. 5.

[45] Vgl. von Hammerstein/Hornig/Rosenbach (2002), S. 116.

[46] Diese Investitionen beliefen sich auf ca. 4 Mrd. DM: R. Murdoch ca. 2,5-2,9 Mrd., Prinz Al Waleed 347 Mio., Capital Research 450 Mio., Lehman Brothers Merchant Banking 400 Mio. DM

[47] Ewing/Fairlamb (2002), S. 30.

[48] Vgl. Taurus Holding GmbH & Co. KG Web site (2002a)

[49] Ewing/Fairlamb (2002), S. 30.

[50] Vgl. Boldt (2002), S. 15; Wagner (2002), S. 30.

[51] Vgl. Schnorbus (2002), S. 3; Boldt/Schmitt (2002), S. 77.

[52] von Hammerstein/Hornig/Rosenbach (2002), S. 116 ff.; vgl. Boldt (2002), S. 15.

[53] Vgl. o.V. (2002d), S. 16; o.V. (2002f), S. 13.

Fin de l'extrait de 51 pages

Résumé des informations

Titre
Fallstudien zu Fehlentscheidungen / Fehlentwicklungen in der Unternehmenspraxis: Der Fall Kirch
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Organisation)
Cours
Fehlentscheidungen: Eine ökonomische Perspektive
Note
1,3
Auteurs
Année
2002
Pages
51
N° de catalogue
V12709
ISBN (ebook)
9783638185240
Taille d'un fichier
1554 KB
Langue
allemand
Mots clés
Leo Kirch, Kirchgruppe, Fehlentscheidungen, Taurus, Premiere, Sat1, Pro7, KirchMedia, KirchPayTV, KirchBeteiligung, Escalation of Commitment, Sunk Cost- Effekt, Verlust-Eskalation, Groupthink, kognit
Citation du texte
Tim Feuerstack (Auteur)Martin Bretschneider (Auteur), 2002, Fallstudien zu Fehlentscheidungen / Fehlentwicklungen in der Unternehmenspraxis: Der Fall Kirch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12709

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