Kindeswohl und Elternrecht - Zwei Begriffe des Kinder- und Jugendhilferechts im Wandel der Zeit


Diplomarbeit, 2008

109 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Die Begriffe Kindeswohl und Elternrecht in ihrem historischen Kontext
1.1. Kindeswohl und Elternrecht in der Antike (3000 v.Chr. bis 600 n.Chr.)
1.2. Kindeswohl und Elternrecht im Mittelalter (600 n.Chr. bis 1500 n.Chr.)
1.3. Kindeswohl und Elternrecht in der vorindustriellen Zeit (ab 1500 n.Chr.)
1.4. Kindeswohl und Elternrecht im 19.Jahrhundert
1.5. Kindeswohl und Elternrecht in der Weimarer Republik
1.6. Kindeswohl und Elternrecht im Nationalsozialismus
1.7. Kindeswohl und Elternrecht nach 1945 (West)
1.8. Kindeswohl und Elternrecht nach 1945 (Ost)
1.9. Fazit aus der Geschichte

2. Kindeswohl und Elternrecht heute
2.1. Theoretische Grundannahmen für die Definition und Ausgestaltung von Kindeswohl und Elternrecht
2.1.1. Universalien der Kindheit nach Bronfenbrenner
2.1.2. Entwicklungsaufgaben nach Havighurst
2.1.3. Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth
2.2. Definition Kindeswohl
2.3. Definition Elternrecht
2.4. Bedingungen für Familien
2.4.1. Wandel der Familienstruktur
2.4.2. Die „Verinselung“ von Kindheit
2.4.3. Familie und Arbeitslosigkeit

3. Perspektiven für Familie
3.1. Die Praxis Berliner Jugendämter
3.2. Was gibt es schon?
3.3. Was Familien brauchen
3.3.1. Familienentlastende Angebote
3.3.2. Flexibel gestaltbare Lebenszeit
3.3.3. Familienfreundliche Umwelt
3.3.4. Wirtschaftliche Absicherung
3.4. Kinderschutz

4. Perspektive familienfreundliches Deutschland zugunsten von Kindern und Eltern

5. Anhang
5.1. Erläuterungen und Gesetzestexte
5.2. Interviews
5.2.1. Interview mit Frau R. (Jugendamt Pankow)
5.2.2. Interview mit Frau W. (Jugendamt Lichtenberg)
5.2.3. Interview mit Frau B. (Jugendamt Hellersdorf-Marzahn)
5.4. Literaturverzeichnis

Vorwort

Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu skandalösen Vorfällen von getöteten und misshandelten, vernachlässigten und missbrauchten Kindern. Nicht nur für die Boulevardpresse war die Tatsache, dass die Kinder und Eltern dem Jugendamt häufig bekannt waren, ein gefundenes Fressen. Am 1.11.2006 titelte die Berliner Zeitung: „Kevin – auf dem Amtsweg verstorben“. Der zweijährige Kevin wurde am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank der Wohnung seines Stiefvaters in Bremen aufgefunden. Nach umfangreichen Untersuchungen, heisst es im Artikel, sei der größte Fehler den Behörden zu attestieren. Die Entscheidung, „Kevin zunächst bei der Mutter und Bernd K. zu lassen, obwohl deren familiäre, psychische und soziale Vorgeschichte ausreichend bekannt gewesen sei“ (Otto; 2006; S.2), sei falsch gewesen. „Beide waren drogen- und alkoholabhängig, beide hatten wegen diverser Straftaten mehrjährige Haftstrafen hinter sich. Laut Bericht war die Polizei mehrfach in die Wohnung gerufen worden, weil die betrunkene Mutter unfähig war, sich um das Kind zu kümmern.“(ebd.) Nicht aus Kostengründen habe man sich gegen Kevins Unterbringung im Heim entschieden. „Maßstab aller Dinge waren die Wünsche und Interessen der Eltern“ (ebd.), heisst es weiter. Besonders fatal scheint dies, angesichts der Tatsache, dass gegen Bernd K. im Zusammenhang mit dem ungeklärten Tod der Mutter ermittelt wurde. Auch als Kevin nach dem Tod der Mutter einen Vormund erhielt, da ihm Ärzte einen „sehr erbärmlichen“ (ebd.) Zustand bescheinigten, gab es nie weitreichendere Konsequenzen.

Ein weiterer Fall ging durch die Presse. Im Juni 2004 wurde die Leiche des kleinen Dennis in einer Tiefkühltruhe der elterlichen Wohnung in Cottbus gefunden. Obwohl der 1995 geborene Junge zu diesem Zeitpunkt bereits zweieinhalb Jahre tot war, hatte niemand ihn vermisst. Seit seiner Einschulung im Jahr 2002 galt er als krank. Dass er da bereits tot war, ahnte niemand, aber es fragte auch keiner nach. „Niemand forderte von der Mutter ein Attest, als der angeblich kranke Dennis vom Unterricht fernblieb.“ (Bischoff; 2006; S.2) Der Junge war ohne schulärztliche Untersuchung und obwohl er längst tot war, eingeschult worden.

Ein ganz anderer Fall: Eines Morgens stehen drei Jugendamtsmitarbeiter mit Polizisten, dem Gerichtsvollzieher und Schlüsseldienst vor einer Hellersdorfer Wohnung. Der kleine Dan wurde von einer Polizistin aus dem Bett gezerrt. Dünn bekleidet und ohne dass er sich Kleidung oder ein Kuscheltier einpacken konnte, wurde er mitgenommen. Eine Erklärung erhielt die Mutter auch drei Wochen später nicht. Man habe sich einen Gerichtsbeschluss besorgt, weil der Junge bald acht Jahre werden sollte und noch nicht zur Schule gegangen war. Der Tag, bevor er abgeholt wurde, war jedoch sein erster Schultag gewesen. Bei der Schuleingangsuntersuchung war der Mutter bescheinigt worden, dass mit Dan alles in Ordnung ist. Da der kleine Junge von seinem Vater lange bedroht und verfolgt worden ist, war er traumatisiert gewesen. Er wurde von der Schule zurückgestellt und hatte eine Therapie begonnen. In diesem Jahr wollte die Mutter ihn dann in eine sichere Schule einschulen lassen. Die Kindsmutter hatte das Jugendamt mehrfach um Hilfe gebeten. Geholfen hat man ihr nicht. Nun wird ihr vorgeworfen, das Kind nur in Erwartung einer Intervention des Jugendamtes eingeschult zu haben. (vgl. Schmid; 2006; S.19) Vier Wochen später darf Heidi S. ihren Sohn dann einmal die Woche für eine Stunde sehen, zweimal die Woche mit ihm telefonieren. Sowohl der Anwalt der Familie als auch Bernd Siggelkow, Betreiber der Kinderhilfe-Einrichtung Arche, halten das Vorgehen des Jugendamtes für unmenschlich und unverhältnismäßig. Beim Gutachten, das über den Jungen erstellt werden sollte, wurden die Familie und das Lebensumfeld des Jungen nicht betrachtet, heisst es weiter. (ebd. sowie eds.; 2006; S.22)

Berücksichtigt man eine gewisse Dramatisierung der Geschehnisse, die beim Leser Wirkung erzeugen soll, ist dennoch allen diesen Fällen eins gemein: Entscheidungen scheinen oft zu Ungunsten der Kinder gefällt worden zu sein, es fand anscheinend eine nur mangelhafte Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Behörden und Institutionen statt und es wurden offenbar nur unzureichend Informationen über die betreffenden Familien eingeholt.

Dass dies nicht die gängige Praxis sein darf, steht außer Zweifel. Doch was wurde seither getan, um solche eklatanten Fehlentscheidungen zu verhindern?

Im Oktober 2006 war in der Berliner Zeitung zu lesen: „Verbesserungen bisher nur auf dem Papier – Von wegen schnelle Hilfe: Als vor einem Jahr mehrere schwere Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung bekannt wurden, forderte das Abgeordnetenhaus den Senat auf, ein Konzept für ein Frühwarnsystem vorzulegen. Doch seitdem ist nicht viel passiert. [...] Geplant ist, dass die Arbeit verschiedener Einrichtungen wie die von Jugend- und Sozialamt, Schule, aber auch des Gesundheitsdienstes, der Kinderärzte und der Hebammen besser vernetzt wird. Betreuung soll es früher geben als bisher, nämlich bereits dann, wenn eine Frau schwanger ist und absehbar ist, dass die Familie soziale Probleme hat. Zudem soll eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet werden [Diese gibt es mittlerweile in mehreren Bundesländern.].“(Schmid; 2006; S.24) Hierzu äußerte die Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Elke Nowotny, ihre Bedenken: „Da wurden kluge Ideen formuliert, aber meine Sorge ist, dass diese durch die Einsparungen nicht sofort umgesetzt werden.“ (ebd.) Und in der Tat wurden den Jugendämtern in den letzten Jahren drastisch die Mittel gekürzt. Wurden den Bezirken im Jahr 2002 noch 451 Millionen Euro überwiesen, waren es 2007 nur noch 290 Millionen Euro. Ein weiterer Stellenabbau in den Behörden ist vorgesehen, obwohl Kinderschutz-Zentrum und Berliner Kinderschutzbund sowohl Ausstattung als auch Überalterung des Personals in den Jugendämtern bemängeln. (vgl. Schmid; 2006; S.24) Auch Manuel Arnegger, der Koordinator des Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V., kritisierte: „Es gibt in manchen Ämtern interne Vorgaben, dass etwa eine Familienhelferin generell pro Woche nur sechs Stunden zur Unterstützung eingesetzt wird. Wenn aber der tatsächliche Bedarf höher ist, muss der Sachbearbeiter das extra begründen. Da steht oft nicht die fachliche Entscheidung im Vordergrund, sondern die ökonomischen Zwänge.“ (Treichel; 2006; S.24)

In Brandenburg hat es nach den Versäumnissen im Fall Dennis einige Neuerungen gegeben. So wurde beispielsweise das Einschulungsverfahren reformiert. Bei der Anmeldung zur Schule müssen Kinder nun vorgestellt werden. Zudem wurde ein unmittelbarer Schulzwang festgeschrieben, das heißt, dass die Polizei eingeschaltet werden kann, wenn ein Kind der Schule ohne Grund und Attest fernbleibt. Außerdem können Behörden, die sich mit Kindern befassen, vereinfacht Daten austauschen. Dies wäre im Fall Dennis entscheidend gewesen. (vgl. Bischoff; 2006; S.2)

Bundeseinheitlich trat am 1.10.2005 mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) u.a. auch der § 8a des SGB VIII in Kraft. Durch diesen Paragraphen werden das staatliche Wächteramt durch die Kinder- und Jugendhilfe und die Verantwortung des Jugendamtes in seiner Zuständigkeit bei Kindeswohlgefährdung verstärkt betont. (Arbeitsgemeinschaft der Jugendhilfe; 2005; S. 5 und S. 129)

Die vorliegende Arbeit will nun untersuchen, inwieweit Jugendämter und andere Institutionen für tragische Fälle von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und deren Folgen verantwortlich zu machen sind. Anhand von Interviews, durchgeführt in ausgewählten Berliner Jugendämtern, soll die Arbeit der Ämter, Vorgehensweise und Methodik insbesondere in Kinderschutzfällen, analysiert werden. Um zum Thema hinzuführen, sollen die Begrifflichkeiten Kindeswohl und Elternrecht geschichtlich aufgearbeitet werden, um die heutige Rechtslage verstehen und nachvollziehen zu können, aber auch um Erkenntnisse für eine Verbesserung der Lage von Kindern heute ableiten zu können. Gleichzeitig wird an der geschichtlichen Aufarbeitung deutlich, wie fragil die Kinderrechte und das Kindeswohl sind und wie bedeutsam daher ein umfassendes Kinderschutzkonzept ist. Zudem sollen hier Inhalte der Begriffe Elternrecht und Kindeswohl bereits angedeutet werden, um auf das Thema einzustimmen. Nach der Darstellung der heutigen Rechtslage und den Theorien, auf denen diese beruht, sowie der ausführlichen Darlegung der Inhalte der Begriffe Kindeswohl und Elternrecht, sollen die Bedingungen nachgezeichnet werden, denen sich Familien heute gegenüber sehen, um anhand dessen Empfehlungen für Maßnahmen zur Verbesserung des Kinderschutzes ableiten zu können. Aufhänger bleibt dabei stets die Frage nach dem Schutz der Kinder, wobei die Arbeit ihren Blick von zwei unterschiedlichen Perspektiven (Kindern und Eltern) letztendlich nahezu vollständig aufgibt und zu der Erkenntnis gelangt, dass Kinderschutz nur dann gelingen kann, wenn Kindeswohl und Elternrecht zum Teil neu betrachtet aber vor allem als untrennbar miteinander verbunden angesehen werden. Ziel der Arbeit soll es sein, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzudecken. Um ein lebensnahes Abbild der Gesellschaft darstellen zu können, wurde seitens des Autors häufig auf Populärliteratur wie Tageszeitungen zurückgegriffen. Derart war es möglich auch aktuellste Entwicklungen in die Arbeit einfließen lassen zu können und eine Sammlung innovativer Ideen zu liefern.

Kursiv geschriebenes wird im Anhang größtenteils durch Gesetzestexte erläutert. Im Anhang befindet sich darüber hinaus ein Literaturverzeichnis, das nicht nur Quellenangaben sondern auch weiterführende und vertiefende Literatur enthält. Auch die Interviews, deren Lektüre ich empfehlen möchte, da sie weitere interessante Informationen liefern, die nicht alle Gegenstand der vorliegenden Arbeit wurden, finden sich ausführlich im Anhang wieder. Zur Veranschaulichung des Dargestellten sind dem Anhang zudem Formulare, Richtlinien u.ä. beigefügt. Die hier angefügten Materialien stellen jedoch nur Auszüge dar und sind vollständig beim Autor einsehbar.

1. Die Begriffe Kindeswohl und Elternrecht in ihrem historischen Kontext

Dass Kinder Rechte haben, die in vielfältiger Form – sei es im Grundgesetz, im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII), aber auch in der expliziten Formulierung von Kinderrechten – festgeschrieben sind, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Lange wurden Kinder als unfertige Erwachsene gehandelt, die noch nicht vollwertig sind und die es zu formen galt. Der Kindheit wurde kein eigener Wert beigemessen. Sie war notwendiges Übel auf dem Weg zum vollkommenen Erwachsenen. Und so hatten auch die Kinder lange nicht den Stellenwert, den sie heute vor Allem in den Gesellschaften der Industrieländer haben. Es bedurfte vieler gesellschaftlicher Umbrüche und zahlloser Vordenker, ehe sich das Bild von der Kindheit und dem Kind wandelte und ehe man einsah, dass Kindern die gleichen Rechte gebühren wie Erwachsenen. Bis zur Festschreibung der Rechte von Kindern war es allerdings noch ein langer Weg.

Aber auch vom Recht der Eltern war nicht immer die Rede. Zwar war seit jeher unumstritten, dass es wohl Aufgabe der Eltern sei, ihre Kinder zu erziehen. Dass dieses als Recht verstanden und auch so niedergelegt wurde, hat seinen Ursprung wiederum in der Historie.

Beide Wege sollen zum besseren Verständnis der heutigen Rechtslage in folgenden Kapiteln nachgezeichnet werden.

1.1. Kindeswohl und Elternrecht in der Antike (3000 v. Chr. bis 600 n. Chr.)

Bei Lloyd de Mause heißt es in „Hört ihr die Kinder weinen“: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden. (...) Bei antiken Autoren (gibt es) hunderte von eindeutigen Hinweisen darauf, dass das Umbringen von Kindern eine allgemein akzeptierte alltägliche Erscheinung war. Kinder wurden in Flüsse geworfen, in Misthaufen und Jauchegräben geschleudert, in Gefäßen eingemacht, um sie darin verhungern zu lassen, auf Bergen und an Wegrändern ausgesetzt als Beute für Vögel, Futter für wilde Tiere, die sie zerreißen würden.“ (Maywald; 2002) Natürlich waren auch in der Antike Eltern zu Mitgefühl ihren Kindern gegenüber fähig und begegneten ihnen nicht ausschließlich mit Gleichgültigkeit. Dass das griechische und lateinische Wort für Kind („pais“ bzw. „puer“) zugleich auch „Sklave“ und „Diener“ bedeutet, belegt jedoch, dass schon in der Antike Kinder nicht als vollwertige Menschen betrachtet wurden. Aus dem antiken Rom wird überliefert, dass Kinder nicht mit Namen, sondern mit Zahlen benannt wurden. (vgl. Kreß; 2006) Kindermord galt bis zum 4. Jahrhundert n.Chr. weder vor dem Gesetz noch in der öffentlichen Meinung als Unrecht. So lag es im patriarchalischen römischen Recht in der Hand des Vaters, ein neugeborenes Kind anzunehmen oder dem Tode auszusetzen.(vgl. Maywald; 2002)

Auch in früheren Gesellschaften half man zwar den Schwachen, Witwen und Kindern. Diese Hilfe ging jedoch zumeist nicht über den Sippenverband hinaus und galt eben auch nur dem Erhalt desselben. Auch finden sich in Sammlungen von Rechtssprüchen des Alten Ägypten oder dem Babylonischen Reich Ansätze öffentlicher Armenversorgung, die u.a. auch vorsahen, Witwen und Waisen mit Nahrung und Kleidung zu versorgen. Das Ziel „Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, den Bösen und Schlimmen zu vernichten, den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen“ (Prolog König Hammurapis, 1728-1686 v. Chr.) war nicht aus karitativen oder humanitären Beweggründen heraus entstanden, sondern diente einzig und allein dem Erhalt politischer Macht.

Noch ca. 1400 Jahre später spricht Aristoteles (384-322 v. Chr.) zwar von der Gerechtigkeit als eine der zentralen Tugenden. Dass diese Gerechtigkeit allen Menschen widerfahre, sei Aufgabe des Staates. Nur inkludierte der Begriff Mensch lediglich freie, gebildete, griechische Bürger, also Männer. Von Menschenrechten geschweige denn von Kinderrechten konnte keine Rede sein. So wurden im Antiken Athen zwar Kriegswaisen auf Staatskosten erzogen. Dies geschah allerdings, um den allgemeinen Wohlstand der Bürger zu heben und um Macht und Ansehen des Staates zu fördern. Keinesfalls geschah es um der Kinder und ihrer selbst willen.

Ab ca. 300 v. Chr. entwickelten sich im Zuge der Stoa (Philosophenschule) Gerechtigkeit und Achtung vor dem Mitmenschen als höchste Ansprüche. Es entsteht eine Ethik der allgemeinen Menschenliebe. In Rom werden Stiftungen für arme Kinder und Findelhäuser errichtet. Dennoch bleiben Kinder ohne Rechte.

Auch im Judentum gab es eine soziale Verpflichtung gegenüber den Armen wie Witwen, Waisen und Fremden. Aus dem Gebot der Nächstenliebe heraus entstand ein Armenrecht sowie eine Armenfürsorge. Explizit werden Kinder jedoch nicht erwähnt.

Unterstützung erhielten auch Witwen, Waisen, Kranke, Alte und Gefangene in frühchristlichen Gemeinden. Die Armenpflege und soziale Fürsorge in Form von Kleider- und Nahrungsspenden wurde durch Gemeindeälteste organisiert, die für die Armenkasse sammelten und die Almosen verteilten. Aber auch hier finden Kinder kein hinreichendes Augenmerk. Arm, hilfsbedürftig und damit schützenswert ist, wer hungrig, durstig, fremd, obdachlos, nackt, krank oder im Gefängnis ist.

Mit dem Entstehen einer Ethik der allgemeinen Menschen- und Nächstenliebe ist noch lange nicht davon auszugehen, dass diese auch Kinder unmissverständlich inkludiert. Das Menschenbild scheint noch weit davon entfernt, der Kindheit einen eigenen Wert beizumessen. Hinzu kommt, dass ausschließlich körperliche Mangelerscheinungen verursacht durch Hunger, Durst und Kälte versorgt werden. Die Idee eines seelischen Wohlbefindens im Allgemeinen und damit natürlich auch für Kinder reift erst sehr viel später. (vgl. Lienkamp; 2004)

1.2. Elternrecht und Kindeswohl im Mittelalter (600 n. Chr. bis 1500 n. Chr.)

Auch im Mittelalter trugen Kinder bisweilen keinen eigenen persönlichen Namen und das Datum ihres Geburtstags wurde nicht im Gedächtnis bewahrt. Ebenso

war es nicht unüblich, allen Geschwistern denselben Namen zu geben und sie nur durch

Beinamen nach der Reihenfolge ihrer Geburt zu unterscheiden. (vgl. Kreß; 2006) Welche Rolle und welche Wertschätzung den Kindern zuteil wird, belegt dies unmissverständlich. Kinder haben keinen eigenen Wert.

Tief greifende Veränderungen setzten mit dem Aufkommen des Christentums ein. In Folge der sich allmählich durchsetzenden christlichen Fürsorgepflicht (Caritas) wurden Kindesaussetzungen verboten und erste Kinderschutzeinrichtungen gegründet. Allmählich änderte sich das Bild vom Kind nachhaltig und Kinder wurden als den Erwachsenen zumindest vor Gott gleich gestellte Menschen anerkannt. 787 n.Chr. öffnete in Mailand das erste Asyl für ausgesetzte Kinder. (vgl. Maywald; 2002)

Seit dem 13. Jahrhundert entstanden durch kirchliche Stiftungen immer mehr Findel- und Waisenhäuser auch in Deutschland, jedoch vornehmlich in den Städten. Wurden verwaiste Kinder zuvor in allgemeinen Armenfürsorgeeinrichtungen (Hospitälern) aufgenommen, entwickelten sich mit deren Spezialisierung bald erste Einrichtungen für verwaiste Kinder. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Ob dies geschah, um die Kinder vor schlechten Einflüssen wie Krankheiten, grobem Verhalten o.ä., die zum Alltag in den Hospitälern gehörten, zu schützen oder spezialisierte Häuser mit der Zunahme an Hospitälern lediglich leichter zu organisieren waren, ist fraglich. Immerhin wurde mit der Einrichtung spezieller Häuser für Kinder den besonderen Bedürfnissen von Kindern, ob bewusst oder unbewusst, Rechnung getragen. Aufgenommen wurden allerdings nur die Kinder, die verwaist und weder durch die Großfamilie noch die Zünfte versorgt und abgesichert waren. Beide waren im Falle des Todes eines Mitglieds sowohl für die Witwe als auch die hinterbliebenen Kinder des Verstorbenen fürsorgepflichtig. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) (Dies ist insofern interessant, als auch schon damals wie heute subsidiarisch zunächst die dem Kind nahestehenden Personen mit seiner Fürsorge betraut wurden, ehe man auf familienexterne Personen zurückgriff.) Durch die Mitarbeit bei einem Handwerksmeister konnte sich das verwaiste Kind seinen Lebensunterhalt in Form von Unterkunft und Nahrung verdienen. Da die Mitarbeit von Kindern nicht nur legitim sondern selbstverständlich war, ist diese Art der Versorgung auch für noch sehr junge Kinder sicher probates Mittel gewesen. Erst wenn weder die Versorgung durch die Familie noch durch die Zünfte möglich waren, wurde das Kind in eine ihm völlig fremde Obhut gegeben. Waren die Mitglieder der Großfamilie, aber auch die der Zünfte oder immerhin die Strukturen des Arbeitslebens in den Zünften dem Kind wahrscheinlich nicht gänzlich unbekannt, so musste es sich bei dieser dritten Option an eine ihm völlig neue Art des Zusammenlebens und fremde Menschen gewöhnen. Dieses Subsidiaritätsprinzip in der Versorgung verwaister Kinder gründet jedoch nicht auf dem Wissen um die Bedeutung familienähnlicher Strukturen für Kinder (vgl. spätere Kapitel zu Universalien der Kindheit und Bindungstheorien), sondern war eher pragmatischer Natur. Immerhin entstanden mit einer Unterbringung der Kinder im Heim erhebliche Kosten, die vermieden werden konnten, wenn die Versorgung der Kinder anderweitig gesichert werden konnte. So blieb die Pflege der Kinder in den Anstalten letzter Ausweg, zumal auch die Versorgung durch Familie und Zünfte im Selbstverständnis der Bürger verankert war.

Wie wenig es dennoch um die Bedürfnisse der Kinder ging, zeigt die Tatsache, dass Kinder erst im Alter von 5 bis 7 Jahren in die Anstalten aufgenommen und jüngere Kinder von Ammen aufgezogen wurden. Dies geschah ebenso wenig, um dem Bedürfnis von Kleinkindern nach Nähe und Geborgenheit zu genügen, sondern erklärt sich mit der damaligen hohen Säuglingssterblichkeit. Zudem wurden die Kinder erst dann in der Anstalt aufgenommen, wenn sie zu Haus- und Heimarbeiten herangezogen werden konnten und für das Hospital oder die Stiftung betteln gehen konnten. Waren die Kinder dann alt genug, um selbständig betteln gehen zu können, wurde sie aus dem Hospital und der Fürsorge entlassen. Die Kinder zum Betteln zu schicken war zwar aus damaliger Sicht nicht verwerflich. Das Betteln war sozial anerkannt, da Armut als gottgewollt galt und den Reichen Anlass zur Mildtätigkeit gab. Andererseits bestand die Arbeit der Waisen- und Findelhäuser in der bloßen Versorgung der Heranwachsenden. Es bestand weder die Intention die jungen Menschen zu erziehen, noch sie in irgendeiner Form zu lehren oder auszubilden.(vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Die geleistete Hilfe implizierte folglich weder Grundsätze der Nachhaltigkeit noch einen liebevollen Umgang mit den Kindern. Wie schon in früheren Zeitaltern ging es um die rein physische Versorgung der in den Anstalten lebenden. Um eine geistige oder seelische Gesundheit der Kinder kümmerte man sich nicht. Zu mangelhaft war das Verständnis aber auch das Wissen um mögliche Schädigungen. Vom Begriff des Kindeswohls kann noch lange keine Rede sein.

1.3. Kindeswohl und Elternrecht in der vorindustriellen Zeit (ab 1500 n. Chr.)

Im späten Mittelalter jedoch veränderte sich die Gesellschaftsordnung durch zunehmenden Fernhandel und aufkommende Geldwirtschaft. Verkehrsknotenpunkte und Marktplätze entstanden. Städte wurden zunehmend bedeutsamer und größer. In den Städten etablierten sich nun die Kaufleute als selbstbewusste Repräsentanten eines neuen Stadtbürgertums. Damit einher ging eine Befreiung von kirchlicher und weltlich-landesherrlicher Bevormundung. Diese wurde befördert durch den Humanismus, die Reformation und den Protestantismus. Alle diese Entwicklungen hatten die Entstehung eines neuen Menschenbildes zur Folge. Produktivität, Arbeit und Ertrag waren die neuen Schlagwörter und rückten ins Zentrum menschlichen Denkens und Handelns. Diese Begriffe und wie ein jeder sie in seinem Leben umzusetzen imstande war, wurden Parameter für Ansehen und ein gottgefälliges Leben. Armut galt fortan als „Ausdruck von Arbeitsscheu und persönlichem Versagen“. (Jordan; 2005; S.19) Durch Teuerungs- und Hungerkrisen und nicht zuletzt durch die Auswirkungen des 30jährigen Krieges waren die Waisenhäuser bald überfüllt. Auf dem Land schlossen sich immer mehr Bettler und Obdachlose sowie kriegsversehrte Soldaten zu Räuberbanden zusammen. Es wurden Bettelverbote verhängt und eine Armenpolizei machte Jagd auf solche, die sich nicht daran hielten. Da auch immer mehr Kinder unversorgt waren, versucht man die Geburtenrate mittels Heiratsverboten zu kontrollieren. Auch das Aussetzen von Kindern wurde unter Strafe gestellt. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Dass diese repressiven Maßnahmen die Lage der Kinder keinesfalls verbesserte, sondern vermutlich die Zahl der Kindstötungen enorm anwachsen ließ, liegt nahe. Die Lebensbedingungen der Kinder verschlechterten sich dadurch jedenfalls nur noch weiter. In den Städten, die bislang Zentren der Armenpflege gewesen waren, war eine Entwicklung organisierter Armenpflege und Kinderfürsorge unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich. Einzelne Ansätze, der Lage durch qualifizierte öffentliche Ersatzerziehung (z.B. Ypener Armenschulen) Herr zu werden, blieben wirkungslos.

Wie wenig die Heimerziehung in den einzelnen Häusern, die mit diesem Anspruch eröffneten, auch an die reale Notlage der Kinder geknüpft war, belegt die Anstaltsordnung eines Hamburger Heimes aus damaliger Zeit: „Nur Kinder zwischen 4 und 10 Jahren sollten aufgenommen werden, wenn sie ehelich geboren worden waren. Jüngere Kinder sollten zu zuverlässigen Familien in Pflege gegeben werden. Wurden die Plätze knapp, sollte einheimisch geborenen Kindern der Vorzug gegenüber Zugezogenen gegeben werden. Die Heimordnung nennt Vorschriften über Kleidung, Ernährung und Hygiene, über angeordnete Spaziergänge (die Zöglinge trugen ein sichtbares Abzeichen), über handwerkliche bzw. hauswirtschaftliche Ausbildung und eine minimale schulische Unterweisung in den Kulturtechniken.“ (Müller; 2004)

In der Folge etablierten sich im 17. Jahrhundert Zucht- und Arbeitshäuser als neues Mittel staatlicher Fürsorge. Untergebracht wurden hier „arbeitsscheue Bettler, gerichtlich abgeurteilte Verbrecher, aufsässige Kinder, gebrechliche Alte, verarmte Witwen, Waisenkinder und Prostituierte, venerisch Kranke und Wahnsinnige“. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff. mit einem Zitat von Sachße/Tennstedt; 1983; S. 115) Kurzum wurde jeder der im Verständnis des neuen Bürgertums der Gesellschaft keinen Nutzen zu erbringen schien, in die neu entstandenen Arbeitshäuser deportiert. Diese verbanden nicht nur kostensparend Armenfürsorge, medizinische Versorgung und Strafvollzug. Die Regierungen sahen hierin auch ein probates Mittel merkantiler Wirtschaftspolitik. Zucht- und Arbeitshäuser wurden rentable Produktionsstätten, insbesondere für Textilfabrikanten. Die kostengünstige Produktion in den Häusern, denen häufig eine Manufaktur angeschlossen war, förderte den Wohlstand des Landes und ihrer Regenten. Dies ging allerdings zu Lasten der Lebensbedingungen in den Werkstätten. Ein Arbeitstag begann nicht selten um fünf Uhr morgens und endete erst acht Uhr abends. Hinzu kamen karges Essen und eine mangelnde sanitäre wie medizinische Versorgung. Zwar gab es vereinzelt auch spezielle Häuser für Kinder und Jugendliche. Hier herrschten jedoch die gleichen katastrophalen Zustände wie in den Häusern für Erwachsene. Sowohl Kinder als auch Erwachsene sollten in den Einrichtungen zur Arbeit erzogen werden. Ziel war eine aus der Arbeit resultierende moralische Besserung. Gleichzeitig sollte der potentiell gefährdete Teil der Bevölkerung durch das Beispiel der in den Zuchthäusern lebenden abgeschreckt werden. Zudem waren die an die Arbeitshäuser gekoppelten Produktionsstätten Vorbild für die spätere Großproduktion in Manufakturen. Man zog sich sozusagen eine folgsame und genügsame Arbeiterschaft heran, die die harten und unmenschlichen Lebensbedingungen nicht in Frage stellte. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.)

So hatte sich zwar zumindest innerhalb der geistlichen Welt im ausgehenden Mittelalter die Idee von der Unschuld des Kindes, die Vorstellung vom Menschen als Kind Gottes und damit die Idee der Würde und Schutzbedürftigkeit des Kindes profiliert.(vgl. Hornstein; 1995; S.72ff.) Diese Ansicht war jedoch offensichtlich, hervorgerufen durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wirtschaftspolitischen Interessen gewichen.

Zwar finden sich im 16. und 17. Jahrhundert in den Erziehungsschriften von Vertretern des Humanismus in Fortführung der christlichen Anschauungen zum Kindeswohl Gedanken, die die Wertschätzung des Kindes belegen. So sollen Kinder „im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung vor den Vergnügungen, den Liedern und Spielen der Erwachsenen geschützt werden“. (Hornstein; 1995) Dies implizierte jedoch noch lange nicht, dass Kindern ein eigener Raum für ihre Entwicklung und die Befreiung von den Ansprüchen und Pflichten des Erwachsenen-Daseins zuerkannt wurde.

Aus der Kritik an den bestehenden Waisenhäusern, deren vornehmliches Ziel letzten Endes die Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft gewesen war, entwickelte August Hermann Francke (1663-1727) ein neues Erziehungskonzept. Das Ziel Franckes Arbeit beschreibt Blankertz (1982) wie folgt:

„Erziehung [war] als die Vorbereitung des erbsündenbelasteten Kindes zu seiner Bekehrung aufzufassen (...). Der Weg zur Bekehrung war hart: Der böse Eigenwille des Kindes musste gebrochen werden, Beten und Arbeiten erschienen als die einzigen Verhaltensweisen, die der Bösartigkeit des Kindes entgegenzuwirken vermochten, während das Spiel als Müßiggang, der aller Laster Anfang ist, verboten war und harte Strafen (...) unerlässlich schienen.“ (Blankertz; 1982)

Das Wohl des Kindes orientierte sich offenbar nach wie vor nicht an seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen, sondern an dem, was von ihm als zukünftigen Erwachsenen erwartet wurde. Das Spiel wurde nicht als Möglichkeit zur Erprobung des eigenen Ich und zum Erlernen der Regeln der Erwachsenen verstanden. Unbekannt war, dass das Spielen geistige und soziale Fähigkeiten des Kindes fördert und damit unerlässlich für seine bio-psycho-soziale Entwicklung ist. Spielen galt demnach in höchstem Maße als unsittlich. Was zählte waren Fleiß, Disziplin und absoluter Ordnungssinn.

So entstanden nach dem Beispiel Franckes eine Vielzahl von Einrichtungen, in denen Kinder durch Gebet und Arbeit zu einem besseren Leben bekehrt werden sollten. Immerhin gab es in einigen Waisenhäusern , wie z.B. bei den Herrnhutern, täglich auch fünf Stunden Unterricht.(vgl. Jordan; 2005; S.18ff.)

Es mag jedoch bezweifelt werden, dass diese im Interesse des Kindes stattfand und seine spätere wirtschaftliche Selbständigkeit, seinen Intellekt oder seine geistige Reife fördern sollte. Vielmehr ist dieser Unterricht als weiterer Baustein in der Erziehung zu einem folgsamen und ordnungs- und arbeitsliebenden Menschen zu werten.

In der Zeit der Aufklärung kommt es dann schließlich zu einem Umbruch. War der propagierte Schutz des Kindes bis dato religiös begründet, verwiesen die Vertreter der Aufklärung nun auf die Natur des Kindes. Aufgabe der Erziehung sei, die Entfaltung der kindlichen Natur zu ermöglichen. Erstmals ergaben sich hieraus eigene Ansprüche des Kindes. Das Verständnis von der Kindheit wandelte sich. Es war nun nicht mehr die Gesellschaft, an der sich die Erziehung des Kindes ausrichtete und die Vorbild für dessen „Menschwerdung“ war. Vielmehr galt es nun, das Kind vor der Gesellschaft zu schützen, damit es keinen Schaden nehme und einen geschützten Raum für seine freie Entfaltung habe.(vgl. Hornstein; 1995)

So wurde dann auch bald erste Kritik an den Waisen- und Arbeitshäusern laut. Der Aufklärungspädagoge Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) konstatierte, dass die Kinder in den meisten dieser Anstalten unter widrigen Umständen lebten. Sie waren nur mangelhaft versorgt und ihr Alltag bestand aus Arbeit, körperlicher Züchtigung und Gebet. Die sogenannte Erziehung war geprägt von Ordnungssucht und Lieblosigkeit.(vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Schnell wird klar, dass die körperliche Misshandlung der Kinder in Form von Prügel keine Ausrutscher oder Kurzschlussreaktionen waren. Vielmehr war die physische Gewaltanwendung bei den Kindern wesentlicher Bestandteil der Erziehung und diente im Verständnis der Befürworter der Arbeitshäuser für Waisen dem Wohl des Kindes. Dieses Wohl bestand nun aber eben darin, zu einem folgsamen, genügsamen, ordnungsliebenden und disziplinierten, aber keinesfalls selbstdenkenden Menschen heranzuwachsen.

Die zunehmende Kritik an den Zuständen in den Waisen- und Arbeitshäuser, die überwiegend an Manufakturen gekoppelt waren (schon anhand dieser Tatsache erschließt sich der eigentliche Sinn der Häuser), gipfelte Ende des 18. Jahrhunderts im „Waisenhausstreit“. Mit dem Hinweis auf die hohe Sterblichkeit unter den Anstaltskinder erzielten die Gegner der Arbeitshäuser immerhin einige Erfolge in ihren Forderungen für einen Ausbau des Pflegekinderwesens und die Auflösung einiger Anstalten.(vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) So hatte der Waisenhausstreit zum Einen zur Folge, dass eine Ausdifferenzierung der Waisenhäuser begann. Man erkannte, dass bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen auf besondere Erziehungsbedingungen angewiesen waren. Am Beispiel Frankreichs entstanden auf die Art erste Sonderanstalten wie Blinden- und Taubstummenanstalten, „Idioten-, Krüppel- und Epileptikeranstalten“. Zudem forderten die Verfechter einer aufklärerischen Erziehung den Kindern die Kindheit als besondere Lebens-, Lern- und Entwicklungsphase zuzugestehen. In der Folge sollte sich für die Kinder ein besserer Lebensraum entwickeln. Kinderarbeit wurde reduziert. Es wurde vermehrt Schulunterricht angeboten. Für die zu diesem Zweck errichteten Neubauten wurden pädagogisch wertvolle Standorte ausgewählt. Gärten und Spielplätze für Kinder entstanden. Man bemühte sich Elemente der Familienerziehung mit denen der Anstaltserziehung zu verbinden. So ging man auch dazu über, Heimen konzeptionell so zu gestalten, dass mehrere kleine Gruppen in getrennten Häusern mit jeweils einem „Hauselternpaar“ lebten, um eine möglichst familienähnliche Struktur zu gewährleisten. (Werner; 2008) Dies ist insofern interessant, als auch im modernen Entscheidungsverfahren über Erziehungsformen für Kinder angestrebt wird, ein möglichst familiennahes bzw. –ähnliches Setting zu erreichen. Obwohl damals kaum empirisch belegt gewesen sein dürfte, dass insbesondere für jüngere Kinder ein solches Setting wichtig ist, um den nötigen Halt, Geborgenheit, Nähe und Struktur zu vermitteln, gab es scheinbar eine Idee davon, was für die gesunde Entwicklung des Kindes von Nöten ist.

Mit der Verbesserung der Zustände in den Erziehungshäusern begann auch der Aufbau eines Schulwesens. Dieser Umstand wirkte sich wiederum positiv verstärkend auf die Novellierungen in der Fürsorge verwaister und bedürftiger Kinder aus. Ziel der Schule sollte es sein, insbesondere die Kinder der unteren sozialen Schicht zu erziehen und zu bilden, da deren Eltern hierzu – nach Auffassung der Meinungsführer der Oberschicht – nicht ausreichend in der Lage waren. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Dass man den Kindern jedoch wenig wohlwollend zugetan war und in ihrer Erziehung mehr notwendiges Übel als eine ethische Verpflichtung sah, belegt nachfolgendes Zitat. Zudem wird deutlich, dass sich auch die Mittel, mit denen man eine „Besserung“ der Kinder zu erreichen hoffte, nicht unbedingt mit dem Übereinstimmen, was wir heute als menschenwürdig verstehen.

Anweisung für die Eltern, deren Kinder in die Industrie-Schule aufgenommen werden.

Das große Armen-Collegium, dem die bessere Einrichtung der Volksschulen aufgetragen ist, hat mit Leidwesen gesehen, dass die Kinder der Armen so wenig in den christlichen Tugenden der Arbeitsamkeit, Reinlichkeit und Ordnung geübt worden, und ihnen so selten Mittel, ihr Brod zu verdienen, in ihrer frühen Jugend gelehrt worden sind, dass die meisten unter ihnen ihren armen Eltern lange zur Last liegen, statt ihnen durch ihren Verdienst zur Hilfe zu kommen, ja sogar einige in das schändliche, Leib und Seele verderbliche Laster der Bettelei schon in ihrer frühen Jugend verfallen sind. (...)

Wer nicht vor dem Schlage da ist (um 5 Uhr im Sommer und um 6 Uhr im Winter), wer während des Gebets, der Ermahnung und der Katechisation[1] nicht aufmerksam und andächtig, während der Arbeit nicht stille, fleißig und folgsam gegen die Aufseher und die Unterweiser ist, wer nicht gekämmt und gewaschen in die Schule kommt, wer nicht mit seinen Hemden sich reinlich und ordentlich hält, wird zuerst durch eine schimpfliche Stelle im Angesicht der ganzen Schule, dann durch Entbehrung des Frühstücks und Vesper-Brodts, dann durch Einziehung des Verdienstes eines Tages, durch Anzeige an die Eltern und die Pfleger, noch körperlich und endlich durch Zuchthaus-Strafe bestraft werden.“ (Jordan; 2005; S.18ff. mit einem Zitat von Brandt, M.; Die Bestrebungen der Hamburgischen Armenanstalt von 1788)

Erziehungsziel war demnach das Einhalten der Werte der damaligen Gesellschaft. Diese mögen zwar aus heutiger Sicht besonders in ihrer Formulierung befremdlich wirken, viel erschreckender jedoch erscheinen die Erziehungsmethoden. Durch Demütigung, Nahrungsentzug und schlussendlich körperliche Misshandlung wurde versucht, die junge Persönlichkeit zu formen und ihr die angedachten Normen nahe zu bringen. Wie zweifelhaft diese Methoden sind, soll sich erst viele Jahre später rausstellen.

Überaus interessant ist auch die Tatsache, dass man nur durch die – wenn auch zeitlich begrenzte - Trennung der Kinder von ihren Eltern, eine Erziehung der Kinder für möglich hielt. Andere Maßnahmen, wie wir sie heute kennen (etwa eine Sozialpädagogische Familienhilfe, die innerhalb der Familie auch die Ursachen von Defiziten behandeln soll), scheinen nie in Erwägung gezogen worden zu sein. Jedoch stand bei dieser Form der Hilfe für die Kinder ganz offensichtlich nicht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Vielmehr zielten die Bestrebungen darauf ab, das Kind gesellschaftsfähig, d.h. arbeitsfähig zu machen. Seine individuellen Interessen spielten hierbei keine Rolle. So wurde folglich über einen kompletten Entzug der elterlichen Sorge nicht nachgedacht. Eine Erziehung im Heim kam erst in Frage, wenn die Versorgung des Kindes durch den Tod der Eltern beispielsweise nicht mehr gesichert war. So lange diese jedoch am Leben waren, wurde die Elternschaft zwar kritisiert, jedoch nicht derart in Frage gestellt, dass über eine Herausnahme des Kindes aus der Familie nachgedacht wurde. Dies resultiert aus der Tatsache, dass man eine Gefährdung des Kindes nicht in Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch sah. Eben nur, wenn die Versorgung des Kindes überhaupt nicht gesichert war (durch Verwaisung) oder die Sitten des Kindes nicht der Norm entsprachen, nahm die staatliche Fürsorge die Erziehungsfunktion ersatzweise war.

Immerhin wurde 1763 aus der Intention der besseren Bildung und Erziehung besonders armer Kinder in Preußen die Staatsschule und eine Schulpflicht für Kinder zwischen fünf und 14 Jahren eingeführt. Da es jedoch allerorts nicht nur an Lehrern, sondern auch an geeigneten Gebäuden mangelte, sollten bis zur Umsetzung des Vorhabens noch weitere 100 Jahre vergehen.(vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Dieser Schritt beschreibt jedoch den ersten rechtlich festgeschriebenen Eingriff des Staates in die elterliche Sorge. Denn letztlich verfügt hier der Staat über den Aufenthaltsort des Kindes und entzieht somit den Eltern dasselbige Recht. Wenn auch Absichten und Methoden der Erziehung andere waren, als wir sie heute als richtig verstehen, so war die Einführung der Schulpflicht dennoch eine Möglichkeit das Kind durch den teilweisen Entzug der Sorge seiner Eltern vor diesen zu schützen.

Reichen Eltern hingegen war es möglich, ihren Kindern einen Hauslehrer anzustellen. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) Dies bedeutete auch, dass der Staat hier keinen Eingriff in das elterliche Recht hatte und sich diese Möglichkeit auch nicht vorbehielt. Es belegt einmal mehr, dass man das Wohl des Kindes nur gefährdet sah, wenn es mangelhaft ernährt oder unsittlich erzogen wurde. Missbrauch, Misshandlung oder andere Vergehen, die insbesondere die seelische Gesundheit des Kindes gefährden könnten, zog man als gefährdend nicht in Betracht.

Bedeutende Vertreter unter den Philanthropen („Menschenfreunden“) und Aufklärern gaben der Pädagogik und dem Bild von der Kindheit neue Impulse.

So ging Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) davon aus, „dass das Kind, wenn es auf die Welt kommt, grundsätzlich gut ist und nicht von Natur aus schlecht und boshaft wie es von Kirche und Obrigkeit bis dahin proklamiert und von der Gesellschaft gemeinhin als richtig anerkannt und dementsprechend in der Erziehung umgesetzt wurde“ (Gnielka; 2005; S.9). Rousseau erkannte als Erster, welche großen Auswirkungen die Umwelt auf die Entwicklung des Kindes hat und welcher Wert der Kindheit zukommt. Diese sei schützenswert und solle Raum bieten für die Entfaltung des Kindes. Rousseau benennt wichtige Elemente wie den Bewegungsdrang des Kindes, die Bedeutung des Spiels und der Selbsterfahrung,(vgl. Gnielka; 2005; S.9ff.) die heute feste Bestandteile pädagogischer Bestrebungen und so z.B. auch im Berliner Bildungsprogramm für Kindergärten verankert sind. Doch auch Rousseau spricht vom Brechen des kindlichen Eigensinns, wenn auch mit anderen Methoden als zuvor üblich, von physischer und psychischer Abhärtung und von der Disziplinierung des Kindes von Geburt an. (vgl. Gnielka; 2005; S.9ff.)

Auch Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) kritisierte die Erziehungsziele und –methoden seiner Zeit. Was er propagierte und in zahlreichen Schriften niederlegte, war die Hochschätzung des Kindes und seiner Rechte. „Er plädierte für die kindgerechte Entwicklung und Übung der menschlichen Kräfte. »Religiöse« Gesinnungsbildung, moralische Besserung, Schulung des Verstandes, Pflege des Gemüts, Kennenlernen von Natur und Heimat, turnerische Übungen und körperliche Arbeit sollten dazu beitragen.“ (Lachmann; 2008)

Wenngleich auch alle diese Vordenker mit ihren Ideen wichtige und revolutionäre Beiträge zur Entwicklung des Kindeswohl-Gedankens leisteten, fand in Deutschland nach wie vor eine gegenteilige Entwicklung statt. Zwischen 1744 und 1814 versuchte man in Hamburg, „die Kinder- und Jugendfürsorge mit kontrollierter und planvoller Erziehung und Betreuung zu verbinden“ (Jordan; 2005; S.22), um die Kinder der ärmeren Bevölkerungsschichten auf ihre Zukunft als Arbeiter vorzubereiten. Es entstanden vor allem Spinnschulen, in denen Arbeit und Unterricht gleichsam stattfanden. Absicht war es zudem, die Kinder so lange wie möglich vor dem Einfluss ihrer Eltern fernzuhalten, von dem man annahm, dass er den Kindern schade und ihnen stattdessen Arbeit, Religion und Bildung nahe zu bringen. Am Beispiel Hamburgs entstanden zahlreiche Industrieschulen in ganz Deutschland. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.)

Fest zu halten ist, dass es insbesondere im 18. Jahrhundert viele für die Entstehung des Kindeswohl- und Elternrechtsbegriffs wichtige Entwicklungen gab. Die Erziehungsvisionen, die vor allem von bekannten Aufklärern und Philosophen ausgingen, fanden allerdings zumeist im literarischen Bereich ihren Niederschlag. Die Realität zeigte sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wenig geprägt von den revolutionären Ideen berühmter Aufklärer wie Rousseau oder Philanthropen wie Salzmann. (vgl. Krüger; 1990; S.7ff.) Auch wenn Rousseaus „Entdeckung der Kindheit“ bis heute als Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte zu werten ist, so hatten seine Postulate und auch die Verfechter seiner Ideen seiner Zeit kaum Auswirkungen. Kinder blieben weitestgehend rechtlos. Was Kindeswohl de facto ausmachte, davon gab es zweifelhafte und kontroverse Vorstellungen. Maßgeblich waren hierbei nicht die Bedürfnisse des Kindes, sondern das Wohl der Gesellschaft, insbesondere des reichen Bürgertums, und der Nutzen, den die Kinder zu erbringen hatten. Wenngleich es auch zögerliche Fortschritte in der Art der Unterbringung, Betreuung oder Methodik gab. Die Ausbeutung der Arbeitskraft der Kinder war vor allem in den staatlichen Einrichtungen wesentlicher Bestandteil der „Pädagogik“. Elternrechte aber auch Elternpflichten wurden nicht formuliert. Erste Zweifel an der elterlichen Kompetenz kamen auf, so dass mit Inkrafttreten der Schulpflicht 1763 ein erster per Gesetz legitimierter Eingriff in die elterliche Sorge zu verzeichnen ist.

1.4. Kindeswohl und Elternrecht im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stagnierten weitere Entwicklungen hinsichtlich einer verbesserten rechtlichen und sozialen Lage der Kinder. Durch zahlreiche Kriege (napoleonische Kriege, Befreiungskriege) war die Lage im Land angespannt. Belastungen infolge der Restauration hatten nicht nur zur Folge, dass es zu Wiederbelebungsversuchen des Absolutismus und antiaufklärerischen Strömungen kam. Vielmehr litten Kinder- und Jugendfürsorgeeinrichtungen sowohl in kommunaler als auch in kirchlicher bzw. privater Trägerschaft unter der miserablen finanziellen Lage der Städte, Gemeinden und Verbände. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.) So waren die Institutionen nicht nur materiell, sondern auch ideell in ihrem Bestand gefährdet. Neuhumanistische Ideen – wie die Johann Wilhelm Süverns (1775-1829), der mit der „allgemeinen Bildung des Menschen an sich“(Herrlitz/ Hopf/ Titze; 1993; S.47) nicht zuletzt für eine Chancengleichheit plädierte – und reaktionäre Gedanken – wie die Ludolph von Beckedorffs (1778-1858), der entgegnend konstatierte, dass Chancenungleichheit stets gottgewollt und unvermeidbar, jeglicher Versuch, dies einzudämmen, demnach sinnlos oder sogar aufrührerisch ist – durchzogen nicht nur die Schulgeschichte der damaligen Zeit. (vgl. Herrlitz/ Hopf/ Titze; 1993; S.47ff.)

Aufgeworfen durch die Theorien Thomas Robert Malthus’ (1766-1834), die an „Sozialdarwinismus“ erinnern, ging man wieder zu einer restriktiveren Armenpolitik über. Es kam zu einem Rückgang staatlichen Engagements. (vgl. Jordan; 2005; S.18ff.)

An deren Stelle traten private Initiativen zumeist religiösen Hintergrunds als Antwort auf die sozialen Probleme der beginnenden Industrialisierung. Die bekannteste und verbreitetste dieser Initiativen war die „Rettungshausbewegung“. Ihr bedeutendster Vertreter, Johann Heinrich Wichern (1808-1881), gründete 1833 das „Rauhe Haus“ in Hörn bei Hamburg. Hier bildete er z.T. vorbestrafte Jugendliche aus Hamburger Arbeitervierteln handwerklich aus. Zu seiner Unterstützung lehrte und unterwies er Diakonen und schuf damit die erste sozialpädagogische Ausbildungsstätte Deutschlands. Mit dem Rauhen Haus, der Arbeit in den Wohnbezirken (aufsuchende Sozialarbeit), der Straffälligenfürsorge und seiner publizistischen Tätigkeit leistete er einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Bekämpfung von Elend und Armut im Raum Hamburg. Gleichzeitig war es sein Ziel, die christliche Staats- und Gesellschaftsordnung zu erhalten. Wicherns Erziehungskonzept basierte auf Folgendem:

Grundlegend war – wie bei der zeitgenössischen Sozialpädagogik im Allgemeinen – ein ständisch-patriarchalisches Menschenbild. Wichtig dabei war es für Wichern eine familienähnliche Erziehungssituation zu schaffen, wobei er ebenso viel Wert auf die Geschlechtertrennung legte. Durch die Verteilung der Verantwortung erreichte Wichern die Partizipation der Jugendlichen am Erziehungsprozess. Förderlich für eine Erziehung zu einem selbständigen Menschen war zudem die Theorie- und Praxisverzahnung, die Maxime in der Ausbildung der Jugendlichen war. Nicht zuletzt war auch die Freizeit Element im Erziehungsprozess der Heranwachsenden.

Mit diesem Leitbild hatte Wichern die erste qualifizierte und reflektierte Form der Sozialarbeit in Deutschland geschaffen. Die große Resonanz, die er dafür erhielt, spiegelte sich in der Gründung zahlloser Rettungshäuser in ganz Deutschland wieder. Allein in Bayern entstanden bis Ende des 19. Jahrhunderts 75 Einrichtungen am Beispiel Wicherns.

Um vom Staat und dessen Zwangsmaßnahmen autonom arbeiten zu können, nahm Wichern Jugendliche nur mit Zustimmung von deren Erziehungsberechtigten auf. Dies bedeutete im Umkehrschluss, dass Kinder und Jugendliche, die der Armenpolizei bereits bekannt waren, nach wie vor der staatlichen Disziplinierung unterlagen und in die fragwürdigen Anstalten und Zuchthäuser, die allerorts noch Bestand hatten, überführt wurden. (vgl. Jordan; 2005; S.24ff.)

Was Wicherns Konzept auszeichnet, ist die Betonung der Eigenständigkeit des jungen Menschen. Mehr als andere, so scheint es, legt er Wert auf die Entwicklung des Individuums zu einer starken Persönlichkeit. Gehorsam und Disziplin spielen dabei weniger eine Rolle als selbständiges Denken und Handeln. Wenngleich Wichern mit seinem Konzept auch den Erhalt der christlichen Ordnung anstrebte, so hat man doch erstmals den Eindruck als erfolgte eine Erziehung nicht nur mit den Kindern, sondern in erster Linie für die Kinder und nicht ausschließlich für übergeordnete gesellschaftliche Ziele.

Doch auch andere an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtete Konzepte sind auf dem Vormarsch. So entstanden im 19. Jahrhundert auch die ersten Kindergärten. Den geistigen Grundstein hierzu hatte Friedrich Fröbel (1782-1852) gelegt. Fröbel ging davon aus, dass die gesamte Entwicklung des Menschen wesentlich davon geprägt ist, wie seine Kindheit verlaufen ist. Zudem hatte er erkannt, dass Kinder bereits im frühen Alter ein Ur-Vertrauen entwickeln, dessen Vorhandensein eine entscheidende Determinante in einer positiven Entwicklung des Kindes ist. Darüber hinaus sah er einen direkten Zusammenhang in der guten Bildung und Erziehung der Kinder und einer fortschrittlichen Gesellschaft.

Wesentlicher Bestandteil in der Fröbelschen Erziehung war das Spiel, in der das Kind nicht nur sich selbst und seine Fähigkeiten, sondern auch seine Umwelt mit ihren Regeln und Gesetzen erfährt und erlebt. Diese Erfahrung, so hatte Fröbel erkannt, ist die Grundlage für die Ausbildung nicht nur motorischer, sondern auch geistiger Fähigkeiten. Fröbel konstatiert weiter, dass das Kind zwar auf Erziehung angewiesen sei, in sich aber bereits die Fähigkeit zu Erkenntnis, zum Bewusstsein und zur Vernunft schlummert. Aufgabe der Mutter sei die Förderung dieser Anlagen, d.h. die Förderung von Sprache, Motorik, sozialem Verhalten, Intelligenz und Kreativität. Aus diesen Erkenntnissen resultiert für Fröbel die Achtung des Kindes und der Respekt vor seiner Würde. Kinder seien grundsätzlich verschieden, was impliziert, dass jedes Kind das Recht auf individuelle Förderung seiner Persönlichkeit hat. Nur so ließe sich die spätere Selbstbestimmung und die Freiheit des Menschen gewährleisten. (vgl. Gnielka; 2005; S.18ff.)

Mehr als die Ausführungen anderer Vordenker wie die Rousseaus beispielsweise, scheinen die Visionen Fröbels bahnbrechend. Nicht nur, dass sein Ziel der allseitigen Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit auf wissenschaftlichen Erfahrungen und Experimenten gründete. Für die Umsetzung seiner Ziele sah er zudem qualifizierte Berufserzieher vor, die in den Besonderheiten der kindlichen Entwicklung und Methodik geschult werden sollten. (vgl. Jordan; 2005; S.24ff.) Viel bemerkenswerter erscheint mir jedoch, dass Fröbel als erster der Pioniere der Pädagogik überhaupt liebevoll über die Kinder spricht. So kommentiert Fröbel das Spiel derart:

„Das Spiel ... ist ... nicht Spielerei; es hat hohen Ernst und tiefe Bedeutung; pflege, nähre es, Mutter, schütze, behüte es, Vater!“ (Schuffenhauer; 1962; S.77) oder auch „Spielen, Spiel ist die höchste Stufe der Kinderentwicklung, der Menschenentwicklung in dieser Zeit, denn es ist freitätige Darstellung des Innern, die Darstellung des Innern aus Notwendigkeit und Bedürfnis des Innern selbst, was auch das Wort Spiel selbst sagt. Spiel (...) gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und außer sich, Frieden mit der Welt. Die Quellen alles Guten ruhen in ihm, gehen von ihm hervor; ein Kind, welches tüchtig spielt, selbsttätig, still, ausdauernd bis zur körperlichen Ermüdung spielt, wird gewiß auch ein tüchtiger, stiller, ausdauernder Mensch. Ist nicht die schönste Erscheinung des Kinderlebens dieser Zeit das spielende Kind? – das seinem völligen Aufgegangensein im Spiele eingeschlagene Kind?“ (Jordan; 2005; S.26/27[2] )

Diese Zeilen verifizieren, dass es Fröbel vor Allem um die Bedürfnisse des Kindes ging. Im Spiel soll es Freude und Zufriedenheit erfahren. Es ging Fröbel dabei nicht um das Kreieren gesellschaftsfähiger Menschen allein (wer tüchtig spielt, wird gewiss ein tüchtiger Mensch). Anliegen war die Entwicklung des Menschen zu einem Individuum, das nicht nur in der Welt, sondern mit der Welt seinen Frieden findet, zugunsten einer sich weiterentwickelnden Gesellschaft. So finden sich bei Fröbel erstmals Gedanken der Partizipation des (jungen) Menschen und der Entwicklung zu einem selbständigen Individuum. Hinzu kommt bei Fröbel m.E. noch stärker als bei Rousseau, die Idee der Schutzbedürftigkeit des Kindes und der Kindheit. Im Imperativ und als Adressat die Väter benannt, fordert Fröbel auf, das Spiel als Grundbedürfnis der Kinder zu schützen. Die Vorstellung vom Kinderschutz wird konkreter. Da Fröbel seine Forderung der Pflege und des Schutzes gleichzeitig an Mütter und Väter richtet, benennt er zudem explizit, wer in seinen Augen für die Erziehung des Kindes zuständig ist. Damit hat er immerhin den Eltern die Pflicht zur gesunden Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder auferlegt.

Im Großen und Ganzen hatten Fröbels Ideen jedoch nur auf dem Papier Bestand. Zwar wurden diverse Einrichtungen, die nach dem Vorbild Fröbels aus Bürgerinitiativen heraus entstanden waren, öffentlich bezuschusst. Doch obwohl diese regen Zuspruch fanden, wurden bis 1914 gerade einmal 5 % aller Mädchen und Jungen in Kindergärten betreut. Der Großteil dieser Einrichtungen glich allerdings eher Bewahranstalten und war nicht an den Fröbelschen Ideen ausgerichtet. Vielmehr tat man hier dem, durch die zunehmende Industrialisierung und dem damit einhergehenden Anstieg der Frauenarbeit, Bedarf an Kinderbetreuung genüge. Die Betreuung bestand jedoch in Religionsunterricht, dem Erlernen von Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Gehorsam, elementaren Kulturtechniken sowie der rein physischen Erhaltung der Arbeiterkinder.(vgl. Jordan; 2005; S.26ff.) Wie in den Jahrzehnten zuvor ging es folglich nicht um die Förderung der Kinder, sondern um das Heranziehen einer folgsamen Arbeiterschaft. Auch wenn sich vereinzelt die öffentliche Hand finanziell an neuen Projekten der Kinderbetreuung und –erziehung beteiligte. Einen ideellen Anspruch gab es von Seiten des Staates nach wie vor nicht. So blieb auch Fröbels Vorstellung vom Kinderschutz und Elternpflichten (als Grundlage für das Entstehen von Elternrechten) zunächst nur schöne Idee.

Immer stärker bestimmen zudem die Folgen der Industrialisierung die Kindheit in der damaligen Zeit. In der Hoffnung auf ein besseres Leben, wandern große Teile der Landbevölkerung in die Städte ab. Das daraus resultierende Überangebot an Arbeitskräften führt zu sinkenden Löhnen. Um überleben zu können, müssen nun auch Frauen und Kinder arbeiten gehen, da der Lohn des Vaters allein nicht mehr ausreicht. Dies führt jedoch zu einem weiteren Überangebot an Arbeitskraft, so dass es zu einer immer extensiveren Ausbeutung der Arbeitskraft kommt. In Folge körperlicher Erschöpfung, fehlender Arbeitssicherheit, Mangelerscheinungen durch unzureichende nutrielle, medizinische und sanitäre Versorgung infolge von Ausbeutung und Armut steigt die Sterbequote deutlich. Diese Entwicklung bedingt außerdem ein Auseinanderbrechen der traditionellen Familienstruktur. Die Erziehungs- und Sozialisationsfunktion der Familie schwindet. Die Kinder verelenden und verwahrlosen zusehends. (vgl. Jordan; ebd.)

Obwohl insbesondere die schlimmen Auswirkungen eines nicht selten 15stündigen Arbeitstages unter schlechten Arbeitsbedingungen auf die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder hinreichend bekannt waren und dokumentiert sind, bleiben die Regierungen lange untätig. So missbilligte von Beckedorff, ein konservativer preußischer Publizist, Pädagoge und Ministerialbeamter, zwar die Konsequenzen, nicht aber die Kinderarbeit an sich. War er doch der Meinung, dass diese nützlich sei, um die Kinder in der Ausübung einer ausdauernden Tätigkeit zu schulen. (vgl. Herrlitz/ Hopf/ Titze; 1993; S.53ff.) Erst 1839 verhängte zuerst die preußische Regierung ein Arbeitsverbot für Kinder unter neun Jahren sowie für Kinder unter 16 Jahren, die noch nicht drei Jahre zur Schule gegangen waren. Zweiteres wurde durch das Einrichten von sogenannten Fabrikschulen allzu schnell unterwandert. Dennoch galt für alle unter 16jährigen ein Sonntags- und Nachtarbeitverbot. Darüber hinaus durfte eine tägliche Arbeitszeit von Stunden nicht überschritten werden. Ab 1853 wurden dann „Fabrikinspektoren“ mit der Aufgabe betraut, über die Einhaltung der Regularien in den Fabriken zu wachen. Zeitgleich wurde das Mindestalter für die Fabrikarbeit auf 12 Jahre heraufgesetzt. Ab 1891 gab es dann ein generelles Verbot zur Fabrikarbeit für alle schulpflichtigen Kinder. Preußen blieb hier stets Vorreiter. Viele deutsche Staaten verabschiedeten ab Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch ähnliche Gesetze.

Mit dem weitestgehenden Verbot der Kinderarbeit waren Fabrikanten dazu übergegangen, die Eltern als Subunternehmer einzubinden und die Arbeit von den Fabriken in die Elternhäuser auszulagern. De facto mussten Kinder nun vor der Ausbeutung und Misshandlung durch ihre Eltern geschützt werden. Diese Entwicklung aufgreifend wurde 1903 ein Gesetz erlassen, durch welches auch die Kinderarbeit in der Heimindustrie erfasst und verboten wurde. (vgl. Jordan; 2005; S.26ff.) Dadurch gab es erstmalig eine konkrete „Eingriffsmöglichkeit in die elterliche Verfügungsgewalt“. (Jordan; 2005; S.29) (Zwar bestand bereits seit 1763 eine allgemeine Schulpflicht in Preußen, durch die - wie bereits erwähnt – ebenfalls bedingt ein Eingriff in besagte Verfügungsgewalt möglich gewesen wäre. Deren Durchsetzung wurde vom Staat jedoch nur zögerlich betrieben. (vgl. Herrlitz/ Hopf/ Titze; 1993; S.53ff.))

So brachte die Industrialisierung vor Allem viel Elend über die Kinder besonders in den Großstädten der Zeit. In letzter Konsequenz aber führte dies dazu, dass zum Schutz der Kinder weitreichende Gesetze erlassen wurden, die nicht nur eine Gefährdung des Kindeswohls abwenden sollten, sondern auch Eltern in ihren Rechten erheblich einschränkten.

Eine weitere Neuerung brachte die Industrialisierung mit sich. In Folge der großen Armut wurden zumeist uneheliche Kinder, um die sich weder Mutter noch Vater kümmerten, gegen ein sehr geringes Entgelt gewerblich gepflegt. Da die Pflege der sogenannten „Haltekinder“ zumeist nicht aus löblichen Absichten heraus erfolgte, war der Zustand der Kinder katastrophaler als der anderer Kinder. Dass die Verwahrlosung der Kinder nicht nur physische Folgen hat, hatte man nun immerhin erkannt:

„..., und so findet man denn häufig diese unglücklichen Kinder in einem wahrhaft bedauernswürdigen Zustand, in ungesunden, feuchten und finsteren Wohnungen, auf schmutzigem Lager, tagelang an elenden sogenannten Lutschbeuteln kauend, und ohne Wartung im eigenen Unflat verkümmernd. In dieser Weise wird schon der Grund zu den langwierigsten, oft unheilbarsten Übeln gelegt; später, wenn die Seelenkräfte sich entfalten, sind die moralischen Eindrücke nicht besser als die physischen,...“. (vgl. Jordan; 2005; S.30ff.[3] ) Zwar wird hier neben den körperlichen Folgen, insbesondere auf die moralische Entwicklung hingewiesen. Jedoch belegt dieses Zitat, dass man mehr als zuvor über die Auswirkungen von Verwahrlosung Bescheid wusste.

[...]


[1] Synonym für Religionsunterricht, Vermittlung christlicher Botschaften an Ungetaufte

[2] mit einem Zitat von Friedrich Fröbel aus Die Menschenerziehung (1826) in: Hederer, J. (Hrsg.); Evolution in der Sozialpädagogik. Quellen und Kommentare; München; 1975; S.66

[3] mit einem Zitat von Pütter, E.; Das Ziehkinderwesen. Gutachten erstattet im Auftrag des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit; Leipzig; 1902; S.32ff.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Kindeswohl und Elternrecht - Zwei Begriffe des Kinder- und Jugendhilferechts im Wandel der Zeit
Hochschule
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
109
Katalognummer
V127113
ISBN (eBook)
9783640365142
ISBN (Buch)
9783640364879
Dateigröße
977 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindeswohl, Elternrecht, Zwei, Begriffe, Kinder-, Jugendhilferechts, Wandel, Zeit
Arbeit zitieren
Astrid Gnielka (Autor:in), 2008, Kindeswohl und Elternrecht - Zwei Begriffe des Kinder- und Jugendhilferechts im Wandel der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127113

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