Der Entwurf einer programmatischen Ästehtik in Theorie und Praxis - Rimbauds Lettres du voyant und das Prosagedicht Métropolitain


Seminar Paper, 1998

21 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Voyant -Briefe
2.1 Poiesis oder handlungsbezogene Dichtung
2.2 Le poète-voyant
2.3 Trouver une langue

3. Analyse des Prosagedichts Métropolitain
3.1 Thematischer Impuls und Titelgebung
3.2 Vertextungsverfahren in Métropolitain
3.2.1 "Déconstruction et reconstruction" – die zwei Pole des "poème-illumination"

4. Konklusion

Bibliographie

1. Einleitung

"Trouver une langue" – das rimbaudsche Postulat steht paradigmatisch für die Schwierigkeit, einen geeigneten Beschreibungsmodus für Texte zu finden, die mit der mimetischen Bestimmung von Literatur brechen.

Die Notwendigkeit, neue Kategorien für die Beschreibung moderner Lyrik zu finden, wurde bereits 1956 von Hugo Friedrich erkannt.1 Doch mündete diese Erkenntnis bei Friedrich in die Beschreibung moderner Lyrik durch negative Kategorien wie "Abnormität" oder "Zerstörungswut", die zwar die Texte eines Rimbaud von traditioneller europäischer Versdichtung absetzen, aber nicht zu ihrem tieferen Verständnis beitragen.

Die Interpretationen beziehungsweise Textbeschreibungen von Stierle2 (1966) und Kloepfer/Oomen3 (1970) weisen dahingegen in eine andere Richtung: durch die systematische Untersuchung semantischer und phonologischer Textkonstituenten zeigen sie auf, daß das scheinbare Chaos und die vielbeschworene Sprachzerstörung in den Illuminations nicht Zweck, sondern Mittel zur Schaffung einer neuen Kohärenz ist, die die Funktion des referentiellen Zusammenhangs übernimmt.

Im Rahmen der Seminararbeit soll durch eine exemplarische Analyse der Vertextungsverfahren des Prosagedichts Métropolitain einer kohärenzbildenden Struktur hinter der Fremdheit der sprachlichen Zeichen nachgegangen werden. Gleichzeitig soll den oben genannten negativen Kategorien der sprach- und weltschöpferische Impuls, dem die Zerstörungsarbeit vorausläuft, entgegengesetzt werden.

Vor dem Hintergrund eines Bruchs mit den zeitgenössischen Regel- und Normsystemen illustrieren die Lettres du voyant den radikalen ästhetischen Anspruch des jungen Rimbaud an zukünftige Dichtung.5 Die Briefe sind die einzigen programmatischen Äußerungen des Poeten; deshalb wird im folgenden eine kurze Lektüre der Briefe der eigentlichen Textanalyse vorangestellt.

2. Die Voyant -Briefe

Von der traditionellen Kodifizierung poetischer Regel- und Normsysteme ab-weichend, präsentiert sich Rimbauds einziger programmatischer Text in Form von zwei Briefen, die im Abstand von nur zwei Tagen zueinander, am 13. und 15. Mai 1871, geschrieben wurden.6

Während der erste Brief an Lehrer und Mentor Georges Izambard vor allem um die politische Dimension zukünftiger Dichtung kreist ("Je me dois à la société", [I, Z. 11] oder "Je serai un travailleur", [I, Z. 21]) und die Voyant -Poetik nur marginal streift, führt der zweite, weitaus längere Brief an Dichterfreund Paul Demeny die zentralen ästhetischen Ideen Rimbauds aus.7

Meine Ausführungen werden sich auf die für die anschließende Analyse des Prosagedichts Métropolitain relevanten Aspekte im detallierteren, zweiten Brief beschränken.

2.1 Poiesis oder handlungsbezogene Dichtung

Die Briefe wurden während der Kämpfe um die Pariser Kommune geschrieben und nehmen explizit auf die Ereignisse Bezug.8 Der enge Aktualitätsbezug in Kombination mit dem sozialkritischen Grundton zeigt, daß Rimbaud Dichtung nicht als außerhalb der Lebenspraxis stehende Tätigkeit versteht, sondern als integrativen Bestandteil des Lebens.

Vor dem Hintergrund einer Abrechnung mit der abendländischen Dichtung formuliert Rimbaud: "[...] auteur, créateur, poète; cet homme n'a jamais existé". Die von den gehaßten lettrés und versificateurs verfaßte poésie subjective wird als bloße "Spielerei" und "Zeitvertreib" [II, Z. 41] verworfen.

Die Sehnsucht nach einer wirkungsmächtigen Poesie, die – wie die griechische poiesis – Handlung und Praxis integriert, wird an mehreren Stellen des zweiten Briefes laut:9 "En Grèce ai-je dit, vers et lyres rythment l'Action", [Z. 40]; "La Poésie ne rythmera plus l'action; elle sera en avant", [Z. 117]; "Au fond ce serait encore un peu de la poésie grecque", [Z. 114].

2.2 Le poète-voyant

In der Forschungsliteratur wird wiederholt festgestellt, daß die Briefe eine Kompilation aus heterogenen, zeitgenössischen Theorien und illuministischen bis diffusen spätromantischen Ideen darstellen, die im Kontext der Briefe aneinander-gereiht wurden und keinen Anspruch auf Originalität erheben dürfen.10

So schreibt sich laut J. Hauck die in den Briefen skizzierte Visions-Poetik im wesentlichen von der Tradition der Romantik her ("On n'a jamais bien jugé le romantisme" [II, Z. 25]; "Les premiers romantiques ont été très voyants").11

Rimbaud stilisiert den poète-voyant zum Medium einer anderen, jenseitigen ("là-bas" [Z. 95]) und unbekannten ("l'inconnu" [Z. 70]) Wirklichkeit.

Der Begriff des Sehers blickt dabei auf eine lange, aus der Antike reichende Tradition zurück und bezog sich stets auf einen religiös-transzendenten Kontext. Bei Rimbaud jedoch fehlt der auch für die Romantiker zentrale Gedanke der göttlichen Inspiration.12 Der poète-voyant ist nicht das bloße Gefäß einer fremden Eingebung,

sondern tätiges Subjekt, das sich selber zurichtet, um zum Dichter zu werden ("[...] se faire voyant" [II, Z. 61]). "Arriver à l'inconnu" [II, Z. 69], so formuliert Rimbaud das große Ziel des poète-voyant.

Und wie bewerkstelligt der Dichter das schier Unmögliche?

Rimbaud beschreibt den Weg, der zur voyance und zum Unbekannten führt, als systematische Arbeit:13

La première étude de l'homme qui veut être poète est sa propre connaissance, entière; il cherche son âme, il l'inspecte, la tente, l'apprend. Dès qu'il la sait il doit la cultiver. "[II, Z. 51-54]

Auf der Suche nach neuen Erlebniswelten erforscht der Dichter zuerst sein Inneres, um sich dann durch ein "long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens" sehend zu machen.

Um die Bedeutung der "Entregulierung" wurde viel spekuliert. Ein gängiger Interpretationsansatz reduziert die "Entregulierung" auf Rimbauds Rebellion gegen die überkommene, bürgerliche Norm von Moral und Ethik durch seinen hemmungslosen Lebensstil.

Gestützt auf den Satz "Toutes les formes d'amour, de souffrance, de folie; il cherche en lui-même, il épuise en lui tous les poisons pour n'en garder que les quintessences" [II, Z. 63-66] wird ein direkter Bezug zwischen dérèglement und der sinnes-erweiternden Wirkung von Drogen hergestellt.14

[...]


1 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956.

2 K.-H. Stierle, „Möglichkeiten des dunklen Stils in den Anfängen moderner Lyrik in Frankreich“, in: W. Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 157-194.

3 Kloepfer/Oomen, Sprachliche Konstituenten moderner Dichtung, Bad Homburg 1970 gelingt es durch minutiöse Textbeschreibungen nach linguistischen Kriterien, klare sprachliche Strukturen herauszuarbeiten.

5 Rimbaud setzte sich intensiv mit den zeitgenössischen literarischen Systemen wie dem Parnasse und der Romantik auseinander und fand über die Imitation , an dieser Stelle sei lediglich das Hugo-Patiche Le Forgeron genannt, zu einem genuinen Ausdruck.

6 Ich zitiere im folgenden unter einfacher Angabe der Zeile aus der Werkausgabe der Bibliothèque de la Pléiade: A. Rimbaud, Oeuvres complètes, A. Adam (Hg.), Paris 1972, S. 248ff.

7 H. H. Wetzels sehr aufschlußreiche Textanalyse der Lettres schreibt sich eindeutig von der marxistisch-ideologischen Tradition her und betont von daher Rimbauds pragmatische Soli-darisierung mit der Klasse der Arbeiter. (Rimbauds Dichtung. Ein Versuch, " die rauhe Wirklich-keit zu umarmen", Stuttgart 1985)

8 Wetzel weist dabei auf die von der Literaturwissenschaft oft vernachlässigten, in die Lettres inserierten Gedichte hin, die wie Chant de guerre parisien als klare politische Parodien zu verstehen sind. (a.a.O., S. 78ff.)

9 Rimbauds Dichtungsauffassung antizipiert das surrealistische Ziel "Poesie zu leben" beziehungs-weise "Das Leben zu poetisieren". Vgl. dazu André Breton, Manifestes du surréalisme, Paris 1963.

10 So stellt auch S. Bernard fest, "que les idées de Rimbaud [...] manquent un peu de cohérence". (Poème en prose, S. 551, Fußnote 17) Peter Bürger weist auf Victor Hugo hin, für den die Dichtung ebenfalls handlungsbezogen ist und der auch einen "pathetischen Begriff des Sehens" kannte. (Peter Bürger, Prosa der Moderne, S. 165)

11 Vgl. dazu Hermine Riffaterre, L'Orphisme dans la poésie romantique. Thèmes et styles sur-naturalistes, Nizet 1970.

12 J. Hauck verweist bezüglich der Kopplung der Macht an die Poesie auf W. Benjamins Passagen-Werk, in dem der Einfluß geschichtsphantasmagorischer Utopien auf die Ideologie des 19. Jh. beschrieben wird und betont die Bedeutung jener Phantasmagorien als Bezugsfolie für Rimbauds Visions-Begriff. (Typen des frz. Prosagedichts, S.182)

13 Es fällt auf, daß Rimbaud besonderen Nachdruck auf den aktiven und systematischen Charakter seiner "Mission" ("arriver à l'inconnu") legt. Die gebrauchten Tätigkeitswörter weisen ihn als Forscher aus, der über eine unglaubliche Willensstärke verfügt ("[...] il faut être voyant, se faire voyant") und für den Fortschritt, verstanden als eine Ausräumung aller ihn hemmenden Normen, eintritt, was die Parallelisierung "Dichter/Prometheus" impliziert. Dazu auch Wetzel, a.a.O., S. 70 ff.

14 "Cette formule appelle donc de toute évidence des moyens physiologiques. [...] C'est une allusion transparente à son intention arrêtée de récourir à la drogue", äußert sich Daniel Verstraete und schließt seiner Lektüre eine Gegenüberstellung der Lettres mit dem Gedicht Matinée d'ivresse an. (Daniel Verstraete, La chasse spirituelle d'Arthur Rimbaud: LES ILLUMINATIONS, Paris 1980, S. 55 ff.)

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Details

Title
Der Entwurf einer programmatischen Ästehtik in Theorie und Praxis - Rimbauds Lettres du voyant und das Prosagedicht Métropolitain
College
Free University of Berlin  (Institut für Romanistik)
Course
Einfühung in die Analyse lyrischer Texte: Das Prosagedicht des 19. und 20. Jahrhunderts
Grade
1
Author
Year
1998
Pages
21
Catalog Number
V12713
ISBN (eBook)
9783638185288
File size
400 KB
Language
German
Keywords
Entwurf, Theorie, Praxis, Rimbauds, Lettres, Prosagedicht, Métropolitain, Einfühung, Analyse, Texte, Prosagedicht, Jahrhunderts
Quote paper
Alexandra Müller (Author), 1998, Der Entwurf einer programmatischen Ästehtik in Theorie und Praxis - Rimbauds Lettres du voyant und das Prosagedicht Métropolitain, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12713

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