Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffserklärungen
2.1 Migrationshintergrund
2.2 Mehrsprachigkeit
2.3 Professionalität
3. Das Bilderbuch
3.1 Was ist ein Bilderbuch?
3.2 Typologie von Bild und Bilderbuch
3.3 Historische Entwicklung
3.4 Didaktische Aspekte
4. Theoretische Fundierung für die Analyse mehrsprachiger Bilderbücher
4.1 Narratoästhetische Bilderbuchanalyse
4.2 Merkmale für den Praxiseinsatz in der Grundschule
4.3 Kriterien für die persönliche Betrachtung
5. Bilderbuchanalyse ausgewählter Bilderbücher
5.1 Der Fuchs ruft Nein
5.1.1 Mikroanalyse: Textexterne Aspekte
5.1.2 Mikroanalyse: Textinterne Aspekte
5.1.3 Makroanalyse: Produktion und Rezeption
5.1.4 Metaperspektive: Praxiseinsatz
5.1.5 Metaperspektive: Persönliche Betrachtung
5.2 Sinan uns Felix
5.2.1 Mikroanalyse: Textexterne Aspekte
5.2.2 Mikroanalyse: Textinterne Aspekte
5.2.3 Makroanalyse: Produktion und Rezeption
5.2.4 Metaperspektive: Praxiseinsatz
5.2.5 Metaperspektive: Persönliche Betrachtung
5.3 Fazit zu den analysierten Bilderbüchern
6. Entwurf eines eigenen mehrsprachigen Bilderbuches
6.1 Die Idee
6.2 Die Umsetzung
6.3 Didaktische Begründung
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
Anmerkung der Redaktion: Teile des Anhangs wurden aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
1. Einleitung
Im Rahmen des aktuellen und stetig wachsenden Anteils an Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nimmt das Thema Mehrsprachigkeit in der Schule eine zentrale Rolle ein. Laut aktuellen Berechnungen des statistischen Bundesamtes hatten im Jahre 2019 rund 21,2 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Dies gleicht einem Anstieg zum Vorjahr um 2,5%. (vgl. Statistisches Bundesamt, 2020). Damit einher geht ein steigender Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund. Da die Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund schon seit Jahren steigt, sind Kinder mit Migrationshintergrund für Schulen keine Seltenheit, ebenso, wie die damit einhergehende wachsende Mehrsprachigkeit. Es scheint also eine besondere Anforderung an deutsche Bildungseinrichtungen und speziell an Schulen vorzuliegen. Ein mehrsprachig ausgelegtes Unterrichtsangebot muss her. Doch wo liegt nun das Problem? Liegt es im Aufwand, bilinguale Unterrichtsmaterialien herzustellen? Oder ist das Problem der nicht mehrsprachig ausgelegten Schulstruktur zuschulden? Tatsächlich beginnt die Problematik bereits bei der Begriffsverwendung. Der Begriff des Migrationshintergrundes wird schon lange nicht mehr in seiner eigentlichen wissenschaftlichen Bedeutung verwendet, sondern politisch und medial gesteuert (vgl. Stosic, 2017). Durch die intersektionale Bindung zwischen dem Migrationshintergrund und der Mehrsprachigkeit, wird der Mehrsprachigkeit dieselbe Problematik zugrunde gelegt, wie dem Migrationshintergrund. Die vorliegende Arbeit soll etablierte Vorstellungen und Mythen über den Migrationshintergrund sowie die Mehrsprachigkeit beleuchten. Dabei geht es vor allem um die negative Darstellung, die durch Medien und Politik in die Gesellschaft weitergetragen wird. Im zweiten Kapitel wird der Migrationshintergrund definiert. Hierbei ist anzumerken, dass es dabei nicht um eine allgemeingültige Definition handelt, sondern um die durch politische und mediale Steuerung etablierte Begriffserklärung, die beispielsweise auch in Schulbüchern etabliert ist (vgl. Höhne et al., 2005). Anschließend folgt die Begriffserklärung zur Mehrsprachigkeit. Neben einer allgemeinen Erklärung dient dieser Teil des Kapitels der Beleuchtung und Prüfung vorhandener Mythen zur Mehrsprachigkeit. Zudem wird an dieser Stelle eine erste Verbindung zu Bilderbüchern geschaffen. Die der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Erklärungen bezüglich der Mehrsprachigkeit beziehen sich keineswegs nur auf die sprachliche Leistung und die Kompetenzförderung. Sie wird hauptsächlich im sozialpädagogischen Kontext beleuchtet. Das zweite Kapitel schließt mit der Thematisierung der Professionalität ab. Diese wird ebenfalls begrifflich erläutert, bevor sie mit dem richtigen Umgang des Migrationsbegriffs und der Mehrsprachigkeit in Bezug gesetzt wird. Im Hinblick auf ihre Untersuchung liefern Bilderbücher einen vielversprechenden Forschungsansatz im Rahmen eines professionellen Handelns im Rahmen des mehrsprachigen Klassenzimmers. Das Bilderbuch als Unterrichtsmaterial könne das Lernen in einem sprachlich vielfältigen Raum unterstützen und demnach ein gegenseitiges Lernen fördern (vgl. Augschöll Blasbichler et al., 2013). Somit stellt sich die Frage, welche Eigenschaften für ein Bilderbuch bezüglich der Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer essenziell sind, damit ein interkulturelles Lernen möglich wird. Dafür wird im dritten Kapitel das Bilderbuch hinsichtlich allgemeiner Bausteine und seiner Historie genauer betrachtet. Anschließend wird im vierten Kapitel ein Analyserahmen für mehrsprachige Bilderbücher zusammengestellt, der im fünften Kapitel an den Büchern ,Der Fuchs ruft Nein!‘ (2019) und , Sinan und Felix‘ (2016) zum Einsatz kommt. Ausgehend von den Analyseergebnissen wird im sechsten Kapitel ein eigens entworfenes Bilderbuch vorgestellt, welches dieser Arbeit digital und in gedruckter Form beigefügt wurde. Ziel dieser Arbeit ist es, sowohl einen Überblick über die Qualität vorhandener Bücher für den mehrsprachigen Unterricht zu geben als auch ihre Bedeutung in Bezug auf den Bildungserfolg und die soziale sowie gesellschaftliche Entwicklung von mehrsprachigen sowie einsprachigen Schülerinnen und Schülern1 2 darzulegen. Die Arbeit schließt im siebten Kapitel mit einem Fazit ab, indem die wichtigsten Aspekte zusammengefasst werden und eine Antwort für das verfolgte Ziel dieser Arbeit dargelegt wird.
2. Begriffserklärungen
2.1 Migrationshintergrund
Nach Rethfeldt (2013) haben alle Menschen einen Migrationshintergrund, die nach dem Jahr 1949 nach Deutschland zugewandert, die als Ausländer in Deutschland geboren sind sowie all diejenigen, die als Deutsche in Deutschland geboren sind und zudem mindestens einen zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland ge- borenen Elternteil haben (vgl. S. 15). Demnach würden auch Personen, die keine eigenen Migrationserfahrungen gemacht haben, zu denen gehören, die einen Mig- rationshintergrund aufweisen. Gemeint ist damit zum Beispiel ein Kind, dessen Eltern in Polen geboren wurden und dann nach Deutschland immigrierten. Das Kind wurde in Deutschland geboren und wuchs von Anfang an deutschsprachig auf. Es hat keine Migrationserfahrungen gemacht, wird dennoch zu den Personen dazugezählt, die einen Migrationshintergrund haben. Zudem könne der Migrations- hintergrund nach dem im Jahre 2003 von der Organisation für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (OECD) entwickeltem Generationenmodell von der ersten bis zur dritten Generation weitervererbt werden (vgl. Stosic, 2017, S. 87). Wichtig ist, den Begriff , Ausländer[4] von dem des ,Menschen mit Migrationshinter- grund[4] abzugrenzen. Nach Rethfeldt (2013) werden „[...] als Ausländer alle Perso- nen bezeichnet, die nicht über die Staatsangehörigkeit ihres Aufenthaltslandes ver- fügen [.]“ (S. 15). Neben der allgemeinen Definition des Migrationshintergrundes hat sich über Jahre hinweg eine zweite prekäre Definition etabliert, in der der Mig- rationshintergrund als Differenzierungskategorie verstanden wird (vgl. Stosic, 2017, S. 83). Dabei werden den Menschen mit Migrationshintergrund andere kul- turelle Voraussetzungen als die deutschen zugrunde gelegt, wodurch eine „Wir-Sie- Dichotomie“ (Stosic, 2017, S. 84) zustande kommt. Diese wird durch den medialen Gebrauch des Migrationshintergrundes verstärkt. Printmedien, Fernsehbeiträge und Radiosender wurden schon in den 1980er Jahren medienanalytisch betrachtet. So zeigen viele Studien dieser Zeit, dass Berichterstattungen über Migranten verstärkt mit Negativität und Bedrohung zusammenhängen. Höhne et al. (2005) stellten in einem Review fest, dass in vielen dieser Studien eine Problemstellung aufgrund von kulturellen Differenzen und der damit einhergehenden fehlenden Anpassung der Migranten deutlich würden (vgl. S. 566). Gegenüber der Positionierung, Migranten als Bereicherung für das Land anzusehen, überwiege in den Medienberichten die rassistische Diskriminierung, die kulturalistische Differenzierung und die Opfer- darstellung. So werden Menschen mit Migrationshintergrund zu Menschen ge- macht, die nicht zur großen Gruppe dazugehören, sondern eine eigene Gruppe bil- den müssen. Menschen, die nur Negativschlagzeilen machen und eine Bedrohung darstellen würden. Menschen, die andere Lebensstile aufweisen, welche schlechter seien als der traditionell deutsche Lebensstil. Menschen, die fremd seien. Fremde und wir. Schaut man auf die heutige Berichterstattung, muss man feststellen, dass sich dahingehend wenig getan hat. Viele setzen sich bereits für Migranten ein, möchten Geflüchteten helfen und ihnen ein besseres Leben in Deutschland ermög- lichen. Doch immer noch werden Migranten als ,die Anderen[4] definiert und mit Problemen assoziiert, wie beispielsweise in Deutschland etablierte Parteien wie die Alternative für Deutschland (AFD) und sogar die nicht als rechtpopulistisch geltende Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) zeigen. Ihr Standpunkt: Sie unterstützen die deutsche Leitkultur, die als ein System gesellschaftlicher und kultureller Eigenschaften dient, an denen man sich orientieren solle.
Selbst wenn man noch so überzeugt davon ist, sein eigenes Bild von Migration und Menschen mit Migrationshintergrund zu haben, so wird man unterbewusst doch eines Besseren belehrt und kann nicht verhindern, ein durch Medien und Politik gesteuertes Bild vermittelt zu bekommen. So ist mit der Kategorisierung des Migrationshintergrundes eine Begrifflichkeit entstanden, die über die wissenschaftlich vorgesehene Bezeichnung hinausgeht (vgl. Stosic, 2017, S. 92) und demnach den Migrationshintergrund aufgrund von ethnisch codierten Differenzen mit Fremdheit sowie Nichtzugehörigkeit konstituiert. Ethnisch codierte Differenzen, also Unterschiede aufgrund der konzeptionellen Selbst- und Fremdzuschreibung bezüglich soziokultureller Merkmale, führen dazu, unterschiedliche gesellschaftliche Konstrukte zuzulassen. In Anlehnung an Max Weber (1922) lassen sich diese in nationale, religiöse, kulturelle und sprachliche Gemeinschaften unterteilen (vgl. S. 459). Die Konstruktion solcher Gemeinschaften lasse zu, ethnisch codierte Unterscheidungen als „[.] Anlass zur Abstoßung und Verachtung der Andersgearteten und, als positive Kehrseite, zum Gemeinschaftsbewusstsein der Gleichgearteten [zu] geben [.]“ (Weber, 1922, S. 451). Demnach lasse sich diese künstlich erstellten Gemeinschaftsformen nutzen, um eine Andersartigkeit und Volksfremdheit zu bestimmen. Sie werde konstruiert, um ethnische Differenzen zu ermöglichen, die über die Blutsverwandtschaft hinausgehen. Würde man alle künstlich erstellten ethnisch codierten Differenzen, die unabhängig der Blutsverwandtschaft bestehen, außen vorlassen, blieben laut Weber (1922) nur die ethnischen Unterschiede übrig, die sich auf ästhetische Auffälligkeiten und die alltägliche Lebensführung begrenzen (vgl. S. 456).
Sollte der Begriff Migrationshintergrund eigentlich verwendetet werden, um Unterschiede aufzudecken, wird er so wie damals als auch heute noch verwendet, um jemanden von einer Zugehörigkeit auszuschließen (vgl. Stosic, 2017). Es wird eindeutig, dass der prekäre Sprachgebrauch des Begriffs so tief verankert ist, dass er nicht mehr verhindert werden kann. Gerade deshalb ist die Reflexion des Wortgebrauchs essenziell und vor allem für die schulische Verwendung unabdingbar. Höhne et al. (2005) fanden heraus, dass die Migrationsdarstellungen in Schulbüchern und Lehrplänen eng mit den Darstellungen der Massenmedien einhergehe (vgl. S. 597). Problembeschreibungen aus den Medien würden in Schulbücher übernommen und adaptieren so die „mediale Logik des sozialen Problems“ (Höhne et al., 2005, S. 595) in das Schulbuch hinein. Die potenzielle Fremdheit wird also auch im Schulgebrauch zugelassen und führt dort zur dichotomen Gruppenzuordnung. Höhne et al. (2005) beschreiben als typische Bezeichnung zur Fremd- und Selbstbeschreibung ausländischer Kinder in den Schulen das „Sitzen zwischen zwei Stühlen“ (S. 526). Die Metapher ist gleichzusetzen mit dem „Leben zwischen zwei Welten“ (Höhne et al., 2005, S. 527). Eine der Welten ist die, in der die Herkunftssprache gesprochen wird und in der die eigenen kulturellen und religiösen Vorstellungen gelebt werden. So reisen Kinder mit Migrationshintergrund zwischen zwei Welten hin und her und sitzen im metaphorischen Sinn auf zwei Stühlen, die zwei unabhängigen Gemeinschaften abbilden. Das Ziel der Gesellschaft solle es sein, auf einem Stuhl zu sitzen, welcher beide Gemeinschaften miteinander vereint. Das „Dazwischen-Sitzen“ weise den Kindern einen „Problemstatus“ (Höhne et. al, 2005, S. 529) zu. Selbst vermeintlich positive Migrantendarstellungen gehen mit einer Andersartigkeit Hand in Hand und weisen den Kindern zwar dann keinen Problem-, aber einen Fremdenstatus zu. Nach Höhne et al. (2005) sollten Schulbücher einen „tolerierenden oder akzeptierenden Umgang mit Fremden“ lehren, „indem sie objektiv dargestellt“ [werden] (S. 554). Vielmehr solle das Verständnis für eine plurale Gesellschaft vermittelt werden, in der es nicht darum geht, die ,eine‘ Gesellschaft im richtigen Umgang mit ,Fremden‘ zu schulen, sondern in der ethnische Differenzen zusammen verankert sind und Toleranz sowie Akzeptanz als grundlegend gelten. Höhne et al. (vgl. 2005) untersuchten die Fremdendarstellung - verbunden mit einem Migrationshintergrund - in hessischen und bayrischen Schulbüchern für die Grundschule. Ziel der Abbildungen in Schulbüchern sollte sein, dass Kinder ihre Herkunft nicht verstecken müssen. So tun sie es aufgrund der medialen politischen Kontextualisierung, die allen Migranten den gleichen Stempel aufdrückt, doch. Denn es ist einfacher, das zu übernehmen, was die Medien einem vormachen, als sich ein eigenes Bild zu schaffen.
Neben Schulbüchern dienen Bilderbücher in der Primarstufe als bewährtes Unterrichtsmaterial. Viele Bilderbücher, die sich an das Migrationsthema heranwagen, bewegen sich an einer Grenze zwischen Sensibilisierung und Kategorisierung. Es wird in den Büchern mit stereotypischen Darstellungen versucht deutlich zu machen, wie sich ein Migrantenkind in Deutschland fühlen könnte und welche Vorurteile gegenüber einer anderen Herkunft herrschen. Der Ansatz kann dazu anregen, einen sensiblen Umgang mit dem Thema zu fördern, verstärkt aber auch den Blick auf das Fremde. Dabei liegt das Problem nicht darin, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu thematisieren. Schließlich ist es wichtig, Kindern die kulturelle Vielfalt anhand von Unterschieden und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und näher zu bringen. Nichts ist daran verwerflich, typische Speisen, Kleidung und Rituale verschiedener Kulturen auch im Unterricht zu behandeln und Kinder für ein offeneres Weltbild zu sensibilisieren. Für ein Gefühl von Zugehörigkeit ist es aber gerade wichtig zu sehen, dass Teile der eigenen Kultur auch Teil des Unterrichts sind. Problematisch ist diese Abbildung kultureller Unterschiede parallel mit Problemdarstellungen von Migranten, wie zum Beispiel das Darstellen von Schwimmbadbesuchen, vom Tragen eines Kopftuchs oder des Sexualkundeunterrichts. Denn erst durch diese Verbindung wird aus kultureller Vielfalt kulturelle Andersartigkeit, die mit Fremdheit einhergeht. Kindern sollte nicht vor Augen geführt werden, wer fremd ist und wie man mit dieser Fremdheit umgeht. In einer vereinten Gesellschaft gibt es keine Fremden. Sie sollte als Konstrukt definiert sein, mit dem durch Zuwachs an Mitgliedern auch ein Zuwachs an kultureller Heterogenität einhergeht und diese Gesellschaft demnach immer bunter und vielfältiger werden kann.
2.2 Mehrsprachigkeit
Die in 2.1 beschriebene Problemsituation macht die Definition der Mehrsprachigkeit unerlässlich. Neben dem äußeren Erscheinungsbild ist die Sprache in Wort und Schrift der stärkste Unterscheidungsfaktor, der den Migrationshintergrund eines Menschen erkenntlich macht. Mehrsprachigkeit meint „[.] alle Formen multipler Sprachkompetenzen, sowohl solche von individuellen Akteuren als auch gesellschaftliche Konstellationen, in denen mehrsprachige Sprachverwendung alltäglich sind [.]“ (Scherer & Vach, 2019, S. 13). Dabei ist zu beachten, dass es nicht darum geht, in der Erstsprache und mindestens einer weiteren Sprache auf demselben Niveau zu sprechen, sondern in mehr als einer Sprache handeln zu können (vgl. Scherer & Vach, 2019, S. 13). Menschen, die nicht die deutsche Sprache beherrschen, oder neben der deutschen Sprache eine der Weltsprachen, wie beispielsweise Englisch sprechen, seien der Gesellschaftsnorm nicht angehörig, sondern zählen zur Ausnahme. So werde Mehrsprachigkeit nur als weiteres Unterscheidungskriterium „heterogener Migrationsverhältnisse“ (Scherer & Vach, 2019, S. 14) verwendet. Für die nationale Gemeinsamkeit steht also die Sprache. Spricht man eine andere, führe dies zur „Abstoßung“ (Vgl. Weber S. 451). Dies lässt eine Verbindung, bei der Herkunftssprache und ihrem sozialen Ansehen in Deutschland erkennen: Nicht alle Sprachen erhalten das gleiche Sozialprestige. Laut Rethfeldt (2013) seien „Minderheitssprachen häufig negativ besetzt und werden abgewertet [.]“ (S. 14). Damit gemeint ist die Tatsache, dass Sprachen wie das Englische und Französische im Gegensatz zu beispielsweise dem Arabischen oder Türkischen in Deutschland mit einem hohen sozialen Prestige verknüpft werden. Nach dieser Einordnung sollte man sich nicht wundern, wenn Kinder ihre Herkunftssprache für sich behalten und sie nur im familiären Kreis nutzen. Ihnen wird möglicherweise nicht nur aufgezeigt, dass die ,richtige‘ Sprache die deutsche Sprache ist, ihnen wird auch aufgezeigt, dass es andere Sprachen gibt, die sich in Deutschland etablieren lassen. Was passiert nun, wenn ihre Herkunftssprache nicht dazugezählt wird? Durch solch eine Vorstellung wird die Herkunftssprache zu Unrecht ausgegrenzt. Dabei ist es eine Unverschämtheit, Mehrsprachigkeit aufgrund von sozialem Ansehen im Wert zu mindern. Zudem wird Mehrsprachigkeit oft als Defizit angesehen und mit Sprachschwierigkeiten in Verbindung gebracht. Dies liege darin begründet, dass das Mischen mehrerer Sprachen eine kognitive Überforderung darstelle und man sich deshalb auf nur eine Sprache konzentrieren solle (Rethfeldt, 2013, S. 5). Das menschliche Gehirn ist aber auf die Mehrsprachigkeit eingestellt. Gerade Kinder sind dazu in der Lage, Sprachen in kurzer Zeit zu lernen. Deshalb sollte Mehrsprachigkeit als Ressource angesehen werden, die von früher Kindheit an gefördert werden solle (vgl. Tracy, 2014, S. 32). Als weiterer Mythos gilt, dass mehrsprachige Kinder keine Sprache richtig lernen. Auch das ist falsch, denn Sprachmischungen und Sprachwechsel sind keine Anzeichen von allgemein gültigen Sprachdefiziten. Wie bei monolingualen Kindern auch, sind Unterschiede im Wortschatz erwartbar. Mehrsprachige Kinder bauen außerdem ein stilistisch und sprachlich komplexeres Repertoire auf als monolinguale Kinder (vgl. Tracy, 2014, S. 26). Ein weiterer Mythos besagt, dass nicht-deutsche Eltern mit ihren Kindern mehr Deutsch sprechen sollten. Dabei sollten Eltern gerade in der Sprache mit ihren Kindern sprechen, die sie am besten beherrschen, um ihnen die bestmögliche Unterstützung geben zu können. Mehrsprachigkeit stellt also weder eine kognitive Überforderung dar, noch behindert sie die Identitätsbildung.
Anstatt Mehrsprachigkeit im Kontext mit Defiziten zu betrachten, sollte sie mit Kompetenzorientierung in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Tracy, 2014, S. 13).
Denn Mehrsprachigkeit ist eine „Schlüsselkompetenz“ (Rethfeldt, 2013, S. 16), die durch Defizit - und Problemzuweisungen überschattet wird. Ein bilinguales Kind entwickelt sich hinsichtlich seiner Sprachkompetenz anders als ein monolinguales Kind. Man würde auch keinen Hürdenläufer mit einem Stabhochspringer oder Sprinter vergleichen, nur weil alle laufen und springen können (vgl. Grosjean, 1982). An dieser Stelle ist anzumerken, dass es unabdingbar ist, den Sprachstand aller Kinder einer Lerngruppe unabhängig von ihrer Spracheverteilung festzustellen, um jeden individuellen Schüler angemessen fördern zu können. So wird möglicherweise festgestellt, dass ein mehrsprachiges Kind einen höheren Sprachstand aufweist als ein deutschsprachiges Kind. Die individuellen Differenzen innerhalb einer Lerngruppe können durch Diagnostikwerkzeuge wie das ,Hochheimer Spracheingansscreening (HES) mit türkischer Übersetzung[4] (vgl. Reisz, 2014) festgestellt werden. Das HES dient der Feststellung des Sprach- und Sprechstands und der Lernvoraussetzungen eines Kindes oder einer gesamten Lerngruppe (vgl. Reisz, 2014, S. 4). Es umfasst zwölf Aufgaben, die den sprachlichen, auditiven und visuellen Bereich abdecken. Zudem werden die Mengenerfassung und die Motorik mit einbezogen (vgl. Reisz, 2014. S. 4). Dementsprechend bietet das HES einen Überblick über die Lernausgangslage eines Kindes, abhängig von seinem Sprachstand, aber unvoreingenommen gegenüber der Sprache selbst. Anstelle nur ein einzelnes Kind aufgrund seiner Mehrsprachigkeit solch einer Testung zu unterziehen, kann das Kind im Rahmen der gesamten Gruppe betrachtet werden. Laut des Amts für multikulturelle Angelegenheit (vgl. Nicola Küpelikilinc & Meryem Ta§an Özbölük, 2016) gehört es mittlerweile zum wissenschaftlichen Standard, dass man die Sprachentwicklung monolingualer Kinder nicht als Maßstab für die Sprachentwicklung bilingualer Kinder verwenden darf (vgl. S. 9). Trotzdem scheinen die unter 2.1 genannten Aspekte des Migrationshintergrundes sowie entsprechende Mythen die Mehrsprachigkeit mit unzureichenden Deutschkenntnissen in Verbindung zu bringen. Dabei ist die Annahme, dass Mehrsprachigkeit immer auf einen Migrationshintergrund zurückzuführen ist, nicht richtig. Nicht alle Kinder mit Migrationshintergrund wachsen mehrsprachig auf und nicht alle mehrsprachigen Kinder haben einen Migrationshintergrund. So kann es der Fall sein, dass beide Elternteile kein Deutsch sprechen, das Kind aber zusätzlich zu den Sprachen der Eltern Deutsch in der Schule lernt. Umgekehrt könnte es sein, dass die Eltern nur Deutsch sprechen, das Kind in der Schule beispielsweise Englischunterricht hat. Besteht ein Migrationshintergrund, wäre es natürlich am einfachsten, die Augen zu verschließen und Sprachdefizite mehrsprachiger Kinder darauf zurückzuführen. Denn der ideologische Gedanke des deutschen Sprachnationalismus habe bei mehrsprachigen Kindern genau diese Wirkung:
„Das Insistieren auf einer Trennung von Sprachen als Entitäten bzw. die Aberkennung des translingualen Sprachgebrauchs einer, als ,sprachnational-andere‘ definierten Gruppe und die, trotz aller Kritik, resistente Überzeugung, dass migrationsbedingt mehrsprachige Kinder aufgrund sprachlicher Inkompetenz ,halbsprachig‘ handeln, lässt sich darüber hinaus mit linguizistischen Sprachideologien verknüpfen.“ (Panagiotopoulou, 2017, S. 272-273).
Kinder, die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit aufweisen, würden somit automatisch einer problembelasteten Gruppe zugeordnet werden. Ohne eine andere Möglichkeit zu bekommen, würden sie in diese vorherrschende Ordnung hineingezwängt werden. So wäre es kaum verwunderlich, wenn sie über ihre Herkunft schweigen. Warum sollte ein Kind seine Herkunftssprache preisgeben, wenn ihm vor Augen geführt werden würde, wie unnütz sie ist? Viele Bilderbücher fördern den monolingualen Unterrichtsansatz, obwohl sie dem Anspruch eines mehrsprachigen Klassenzimmers gerecht werden könnten. Denn Bilderbücher lassen sich bilingual darstellen und können folglich mehrere Sprachen in einem Buch vereinen. Zudem bieten sie eine gute Möglichkeit, Mehrsprachigkeit abzubilden, da das Hauptaugenmerk auf den Bildern liegt und dadurch gewährleistet wird, dass auch diejenigen, die nicht alle abgebildeten Sprachen verstehen, dem Geschehen folgen können. Demnach könnten auch Migrationssprachen mithilfe von Bilderbüchern in den Grundschulunterricht eingeschleust werden und zu einem reflektierenden Umgang mit Linguizismus anregen (vgl. Rethfeld, 2013, S. 13). Ein Kind erhält mithilfe eines mehrsprachigen Bilderbuchs einen Raum, in dem seine Herkunftssprache den Unterricht mitbestimme und positiv beleuchtet (vgl. Nicola Küpelikilinc & Meryem Ta§an Özbölük, 2016, S. 18). Das Amt für multikulturelle Angelegenheit in Frankfurt fasst die Vorteile der Förderung der Herkunftssprache wie folgt zusammen:
„Sie bedeutet eine weitere Qualifikation und zusätzliche Stütze für ihre künftige Teilhabe an der Gesellschaft und an demokratischen Prozessen. Auch für Kinder, die einsprachig aufwachsen, ist es vorteilhaft, früh und mit professioneller Begleitung mit verschiedenen Sprachen in Kontakt zu kommen, für den eigenen Sprach- und Schriftspracherwerb, ihren späteren Fremdsprachenerwerb und nicht zuletzt auch im Rahmen ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung.“ (Nicola Küpelikilinc & Meryem Ta§an Özbölük, 2016 S.18).
Demnach geht es also nicht darum, Kindern ein „[.] komplexes Wissen über ihre Erstsprache zu vermitteln, sondern darum, diese aufzuwerten und anzuerkennen, sodass auch gesellschaftlich niedrig angesehene Sprachen gehört und nicht ignoriert werden.“ (Nicola Küpelikilinc & Meryem Ta§an Özbölük, 2016 S. 17). Es wird also nicht gefordert, einen Fremdsprachenunterricht aufzubauen, sondern die Erstsprache bewusst aufzugreifen und wertzuschätzen, um sich den jeweiligen Kindern annähern zu können und dadurch der Eingang in eine optimale Förderung gewährleistet wird (vgl. ebd.).
2.3 Professionalität
Wie kann eine Lehrkraft dem , mehrsprachigen Klassenzimmer ‘ gerecht werden und dabei den Migrationshintergrund vieler Kinder so berücksichtigen, dass sich alle Kinder gleichermaßen wertgeschätzt fühlen? Es scheint unmöglich, dieser Vorstellung Genüge zu tun, zumal enorm viel Arbeit bei der Lehrkraft selbst liegt. Denn es geht nicht nur darum, passendes Unterrichtsmaterial vorzuweisen oder die Sprachen der Kinder in den Unterricht mit aufzunehmen. Es geht darum, die eigenen Werte und Kompetenzen zu reflektieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass mehrsprachige Klassen der Normalfall sind und ein professioneller Umgang dafür unerlässlich ist.
Doch was ist damit genau gemeint? Wie wird Professionalität überhaupt definiert? Dafür soll im Folgenden die Begrifflichkeit genauer beleuchtet werden. Da die vorliegende Arbeit das mehrsprachige Klassenzimmer thematisiert, wird nur die pädagogische Professionalität näher erläutert. Für den Lehrerberuf unterscheidet Terhart (2011) drei Ansätze zur Bestimmung der Professionalität im Lehrerberuf. Einer der Ansätze ist der strukturtheoretische Bestimmungsansatz. Demnach befassen sich Lehrkräfte mit einem Aufgabenkomplex, dessen Einzelteile in sich widersprüchlich aufgebaut sind (vgl. Terhart, 2011, S. 206). Dazu gehört beispielsweise das NäheDistanz-Prinzip, welches besagt, dass sich Schüler und Lehrkraft einerseits als ganz normale menschliche Wesen gegenübertreten, andererseits aber „rollenspezifisches Handeln“ (Terhart, 2011, S. 206) verlangt wird. Ein weiteres Prinzip, das zum strukturtheoretischen Bestimmungsansatz zählt, ist die Subsumption im Gegensatz zur Rekonstruktion. Dabei geht es darum, dass alle Lernenden individuelle Wesen sind und auch Situationen in der Schule immer unterschiedlich sind. Das bedeutet, dass jeder Schüler und jede Situation individuell rekonstruiert werden muss. Zeitgleich müssen die allgemeinen Regeln der Schule und der Lehrerschaft eingehalten werden (vgl. Terhart, 2011, S. 206). Dies muss jedoch im Rahmen des allgemeinen Schulregelwerks geschehen, womit die Annahme einhergeht, dass individuelle Besonderheiten - unter der Berücksichtigung curricularer Ansprüche - betrachtet werden müssen (vgl. Terhart, 2011, S. 206). Der strukturtheoretische Bestimmungsansatz umfasst außerdem den Widerspruch zwischen Einheitlichkeit und Differenz. Neben der Gleichbehandlung soll parallel jedes Schulkind individuell behandelt und somit differenziert betrachtet werden (vgl. Terhart, 2011, S. 206). So besteht zum einen das Ziel, im Rahmen der Mehrsprachigkeit und eines möglichen Migrationshintergrundes alle auf einer gemeinsamen Ebene zu behandeln und wertzuschätzen. Zum anderen bedeutet dies, jedes Kind losgelöst von den anderen zu betrachten. Weiter steht die Organisation im Widerspruch mit der Interaktion. Damit gemeint sind die administrativen Regeln der Schule, die mit einer aktiven und lebhaften Interaktion in Beziehung gesetzt werden müssen. Letztendlich wird noch zwischen Autonomie und Heteronomie unterschieden. Dabei wird das autonome Arbeiten der Schüler der erwünschten Selbsttätigkeit gegenübergestellt. Laut Terhart (2011) werde somit der Lehrerberuf zu einem „unmöglichen Beruf“ (S. 206). Die Professionalität liege darin, die genannten Widersprüche und Antinomien angemessen zu behandeln. Terhart (2011) schreibt: „[.] Unsicherheit und Unterdeterminiertheit werden im strukturtheoretischen Ansatz zum Kernstück pädagogischer Professionalität.“ (S. 206). Es ist anzumerken, dass der Ansatz zwischen verschiedenen Graden im Bewältigen der Unsicherheiten unterscheidet, womit die Selbstreflexion des eigenen Handelns zentraler Bestandteil der Weiterentwicklung der individuellen Professionalität ist. Im Vergleich dazu geht der kompetenztheoretische Bestimmungsansatz von einer möglichst genauen Beschreibung des Lehrerberufs aus (vgl. Terhart, 2011, S. 207). Demnach wird die Aufgabenbewältigung nach festgelegten empirisch begründeten „Kompetenzbereichen und Wissensdimensionen“ (Terhart, 2011, S. 207) durchgeführt. Professionalität äußert sich in diesem Ansatz in Form von professionellen Handlungskompetenzen (vgl. Terhart, 2011, S. 207). Diese meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es ermöglichen, in verschiedenen Bereichen, wie zum Beispiel Unterrichten, Beurteilen oder Diagnostizieren, hohe Kompetenzen aufzuweisen (vgl. Terhart, 2011, S. 207). Der Grad der Professionalität zeigt sich anhand des erreichten Kompetenzniveaus sowie im Lernzuwachs der Kinder. Im berufsbiographische Bestimmungsansatz wird Professionalität als „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart, 2011, S. 207) definiert. Dabei geht es darum, die individuelle Berufsbiografie mit den Vorstellungen einer erfolgreichen Berufsbiografie in Verbindung zu setzen, wodurch es möglich wird, gelungene und nicht gelungene Entwicklungsprozesse zu unterscheiden. So wird der Grad an Professionalität anhand der Entwicklungsprozesse in der Berufsbiografie gemessen. Alle drei Bestimmungsansätze weisen Bereiche auf, die sich zum Teil überschneiden oder ergänzen. Dabei ist eines in jedem Fall bei allen Ansätzen gleich: Keiner lässt sich unabhängig von situativen Unsicherheiten betrachten. Folglich scheint die Professionalität vor allem darin zu liegen, situativ so professionell wie möglich handeln zu können. Welcher Ansatz in dem Moment verfolgt wird, ist unwesentlich. Vielmehr geht es darum, spontan Kompetenzen anzuwenden und umzusetzen. In Bezug auf die Mehrsprachigkeit lässt sich der strukturtheoretische Ansatz gut darstellen. Mehrsprachige Kinder sollen in die Gruppe integriert werden und Gleichbehandlung erfahren. Parallel muss eine individuelle Differenzierung jedes Kindes ermöglicht werden. Damit einher geht die individuelle Rekonstruktion der einzelnen Lernenden. Unabhängig von der Mehrsprachigkeit weisen Kinder einen unterschiedlichen Leistungsstand auf. Hier gilt es, individuell zu fördern und jedes Kind auf seinem Leistungsniveau zu unterstützen. Diese individualisierenden und differenzierenden Aspekte müssen nach dem strukturtheoretischen Ansatz immer parallel zu den schulischen und curricularen Regeln betrachtet werden. Primär sollte der professionelle Umgang mit Mehrsprachigkeit sowie einem möglichen Migrationshintergrund vor allem durch Selbstreflexion des Lehrerhandelns definiert sein. Helfen berufsbiografische Erfahrungen, bestimmte Handlungskompetenzen oder der Umgang mit bestimmten Antinomien dabei, dass mehrsprachige Kinder, sowie auch Migrantenkinder gelungen in den Schulalltag integriert werden, sich zugehörig fühlen und Fremdheit keinen Platz gegeben wird, dann erfüllen die jeweiligen Ansätze ihren Zweck und bieten eine gute Grundlage für pädagogische Professionalität.
3. Das Bilderbuch
Im Hinblick auf den professionellen Umgang mit Mehrsprachigkeit soll das Bilderbuch als Unterrichtsmaterial genauer beleuchtet werden. Dafür wird im Folgenden das Bilderbuch im Allgemeinen vorgestellt. Daran anschließend folgt die Typologie von Bild und Text. Weiter wird die historische Entwicklung des Bilderbuches dargestellt. Das Kapitel endet mit der Erläuterung der didaktischen Aspekte. Da das Hauptaugenmerk in der vorliegenden Arbeit auf der Mehrsprachigkeit liegt, wird in diesem Kapitel ebenfalls ein Bezug zur Mehrsprachigkeit gezogen.
3.1 Was ist ein Bilderbuch?
Bilderbücher lassen sich laut Kurwinkel (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 15 ff.) nach drei Kriterien definieren. Eines der Definitionskriterien ist das Adressatenalter. Bilderbücher werden nach Altersstufen differenziert, wobei zwischen den Differenzierungsstufen circa zwei Jahre liegen (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 15). Es gibt Bilderbücher für sehr junge Kinder, die ein gewisses Frühkonzept verfolgen oder auch Bilderbücher für Erstleser. Es gibt jedoch ebenso Bilderbücher, die von älteren Kindern oder Erwachsenen konsumiert werden. Dies liegt im Bild-Text-Verhältnis begründet, welches ein komplexes und sehr offenes Medium bezüglich der Thematik und der Narration zulässt (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 16). Demzufolge werden Bilderbücher der Crossover-Literatur zugeordnet. Diese vereint Texte, die sowohl Kindern, Jugendlichen als auch Erwachsenen zugeordnet werden können und somit für jedes Alter bestimmt sind (vgl. Ewers, 2012). Als weiteres Definitionskriterium gilt der Umfang des Bilderbuchs. Laut Thiele (2003b) weisen Bilderbücher im Regelfall rund 30 Seiten auf (vgl. S. 71). Kurwinkel (2020) fasst zusammen, dass sich diese Regel in den gegenwärtigen Bilderbüchern nicht weiter fortsetzt. Viele Bilderbücher gehen mittlerweile über einen Umfang von 30 Seiten hinaus (vgl. S. 17). Trotzdem unterscheidet sich der Umfang von den Umfängen anderer Buchgenres, wie zum Beispiel Krimis oder Romane, indem Bilderbücher eine geringere Seitenzahl aufweisen und so vor allem Kinder nicht überfordern. Der wichtigste und gleichzeitig bedeutendste Unterschied im Bilderbuch ist die Text-Bild-Interdependenz, die für eine besondere Art der Narration sorgt. Es besteht in der Regel ein dialogisches Verhältnis von Text und Bild. Dabei erfüllen die Bilder eine Darstellungsfunktion, indem sie einzelne Momente und Szenen der Handlung und des Textes veranschaulichen. Sie erfüllen aber auch eine narrative, also erzählende Funktion. Diese entfaltet sich vor allem in Bilderbüchern ohne Text. Text und Bild stellen im Bilderbuch zwei eigenständige, nicht aber unabhängige Dimensionen dar. Sie stehen in einer Interdependenz. Diese äußert sich nach Thiele (vgl. 2011) in drei Erzähltypen. Zum einen kann sie sich in Form einer parallelen, sich ergänzenden Darstellung von Bild und Text (vgl. Thiele, 2011, S. 224) zeigen. Zum anderen können sie sich aber auch abwechseln und wie ein Reisverschluss zusammenführen. Im Gegensatz dazu steht die kontrapunktische Beziehung, bei der Bild und Text unterschiedliche Dinge darstellen (vgl. Thiele, 2011, S. 226). Texte können also auch allein durch Bilder erzählt werden, sodass das Bild eine eigene Handlungsdimension definiert. Das Bilderbuch lässt sich demnach vom illustrierten Kinder- und Jugendbuch abgrenzen, da in diesen Büchern die Bilder keine Handlungsdimension darstellen, sondern als Dekoration und nähere Erläuterung dienen (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 201). Es ist wichtig anzumerken, dass sich das Bilderbuch keinem bestimmen Genre eindeutig zuordnen lässt, sondern Texte aus verschiedenen Genres abbildet (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 27). Dazu gehören unter anderem Märchen, Fantasiegeschichten oder auch Sachtexte. Da dem Bild eine besondere Rolle im Bilderbuch zukommt, wird im Folgenden das Bild in seiner Typol ogie genau erläutert.
3.2 Typologie von Bild und Bilderbuch
Das Bild weist dem Betrachter eine besondere Aufgabe zu. Denn erst, wenn ein Bild gesehen wird, kann es mit eigenen Assoziationen, Gedanken und Träumen gefüllt werden. Jeder Betrachter greift hierbei auf seine individuellen Vorstellungen zurück, weshalb ein Bild niemals nur die eine richtige Interpretation aufweisen kann. Sie lassen sich dennoch nach Typen differenzieren. Bilder können auf einen einzelnen Augenblick ausgerichtet sein und diesen darstellen. Diese Art von Bildern sind monoszenisch. Weisen Bilder zwei oder mehr handlungsbezogene Momente auf, sind sie ,pluriszenisch‘ und bringen diese in einen Erzählverlauf (vgl. Thiele, 2000, S. 59). Ein typisches Beispielbild für ein pluriszenisches Bild, welches viele Handlungen parallel darstellt, ist ein Wimmelbild. Zudem können Bilder als Bildablauf oder Bildreihe dargestellt werden. Diese unterscheiden sich in einem eindeutigen Merkmal. Während im Bildablauf ein einzelnes Bild das Handlungsgeschehen abbildet, stellt die Bildreihe das Geschehen mithilfe von mehreren aufeinanderfolgenden Bildern dar. Ein Bild lässt sich also unterschiedlich im Buch einsetzen und lässt so neben einer abwechslungsreichen Begegnung vor allem eine individuelle Interpretation zu. Ebenso wie das Bild lässt sich auch das Bilderbuch typisieren. Laut Kurwinkel (2020) lassen sie sich auf der strukturellen Ebene in Sach- und Erzählbilderbücher einordnen (vgl. S. 26). Sachbilderbücher sind mit Texten versehen, die einen Realitätsbezug aufweisen und spezifische Themen darstellen. Auch die Frühe-Konzept-Bücher gehören zu den Sachbüchern, da sie reale Gegenstände aus der kindlichen Umwelt abbilden (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 28). Erzählbilderbücher lassen sich in fantastische sowie realistische Bilderbücher unterteilen (Kurwinkel, 2020, S. 29) Sie weisen im Vergleich zu Sachbilderbüchern keine Referenzialisierbarkeit auf und sind folglich weder falsch noch richtig (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 28). Fantastische Bilderbücher spielen in fiktiven Welten und haben keinen Bezug zur Realität. Ihre Erzählungen hängen beispielsweise mit Verletzungen der Naturgesetze und wundersamen Handlungssträngen zusammen. Wichtig ist, dass Sach- und Erzählbilderbücher nicht immer klar voneinander getrennt werden. Beispielsweise kann es Sachbilderbücher über Drachen geben, die es in der realen Welt aber nicht gibt. Auf gestalterischer Ebene ordnet Kurwinkel (vgl. 2020) Bilderbücher unter anderem in Spielbilderbücher ein. Dabei können Er- zähl-sowie Sachbücher gemeint sein (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 33) Sie umfassen Bilderbücher, die eine spielerische Beschäftigung beinhalten, wie zum Beispiel Malbücher, Wimmelbücher oder Pop-Up-Bücher. Letzteres definiert ein Buch, das beim Aufschlagen speziell gefaltete Elemente räumlich aufklappt. Ziel ist es, mit Spielbilderbüchern die Selbsttätigkeit und Kreativität bezüglich bildnerischer Fähigkeiten zu fördern. Letztendlich bilden auch mehrsprachige Bilderbücher einen eigenen Bilderbuchtypen. Primär wird dabei die Förderung der Sprachkompetenz und der literarischen Fähigkeiten verfolgt. Im zweiten Kapitel wurde bereits festgestellt, dass mehrsprachige Bilderbücher viel größere Ziele verfolgen können und dies auch umgesetzt werden sollte. Dieser Aspekt wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher erläutert.
3.3 Historische Entwicklung
Im Allgemeinen fand das erzählende Bilderbuch seine Anfänge im 19. Jahrhundert. Als erstes, an Kinder gerichtete Bilderbuch, wird oft der , Struwwelpeter‘ (1845) von Heinrich Hofmann genannt. Hoffmann suchte nach passenden Bildergeschichten für seinen Sohn. Unzufrieden über die Auswahl, die ihm zur Verfügung stand, entwickelte er ein Bilderbuch, in dem „[...] Bedürfnisse und Wünsche der Kinder mit den strengen Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Konflikt geraten [...]“ (Hollstein & Sonnenmoser 2006, S. 12). Historisch folgten typische Bilderbücher der Romantik. So wurden vermehrt poetische Bilderbücher mit Volksliedern, Reimen, Gedichten und Märchen entwickelt. Mit dem 20. Jahrhundert kam der Nationalsozialismus, durch den sich ab 1933 die sogenannte NS-Literatur etablierte. Unliebsame Literatur, so auch Bilderbücher des 19. und jungen 20. Jahrhunderts, wurden verboten oder verbrannt. In dieser Zeit hatte individuelle Literatur keinen Platz. Im Mittelpunkt stand die Verherrlichung der Deutschen sowie die Diskreditierung der Juden zum Zwecke der nationalen geschlossenen Volksgemeinschaft. Ihr zufolge gehören nur die Menschen mit deutschem Blut zur deutschen Gesellschaft. Um die sogenannten ,Arier‘ und ihr deutsches Blut zu schützen, wurde den Juden durch die Nürnberger Gesetzte jegliche Rechte entzogen, bis es schließlich zur verordneten Auslöschung der jüdischen Kultur kam und Millionen von Menschen ermordet wurden. Diese deutsche Leitkultur spiegelte sich auch in der Literatur wider. Es entstanden judenverachtende Bilderbücher, wie zum Beispiel ,Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid‘ (1936) von Elvira Bauer. Mit der NS-Zeit etablierte sich ein Kulturdenken, das mit einem Rassendenken gleichzusetzen ist. Kein Mensch, der nicht rein deutsches Blut hatte, wurde akzeptiert. Selbst Deutsche, die sich gegen das Regime stellten, wurden eingesperrt oder ermordet. So entstand innerhalb Deutschlands eine Gesellschaft, die jegliche andere Kultur als die ihre verbot. Neben der Judenverfolgung wurden auch politische Andersdenkende verhaftet oder mit dem Tod bestraft. Die Nationalsozialisten sind letzten Endes für den größten Massenmord der Geschichte verantwortlich - einem Massenmord an Menschen, die sie für fremd hielten. So wird bewusst verdeutlicht, wer in einer Wir-Sie-Dichotomie auf welche Seite der Gesellschaft gehört. Auf die Seite der Gesellschaft oder auf die Seite des Nichts. Demzufolge wurde Kindern die deutsche Ideologie mithilfe nationalsozialistischer Bilderbücher eingetrichtert und ein Rassendenken gelehrt. Mit dem Ende der NS-Zeit befand sich Deutschland vorerst in Restauration. Auch das Bilderbuch befand sich in einer Phase, in der man sich damit beschäftigte, die kindliche Lebenswelt aufzuarbeiten und zu retten, was zu retten war (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 49). Dafür wurden erstmal die übrigen Bestände der Vorkriegszeit repetiert, weshalb die meisten Bilderbücher dieser Zeit konservativ geprägt sind und erwünschtes Verhalten sowie Gehorsam vermitteln sollten (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 49. In den 1960er Jahren begann eine Zeit, in der Themen im Bilderbuch vertreten wurden, die bislang untersagt waren. Es entstanden Bücher, die beispielsweise unkonventionelle Familienverhältnisse oder alternative Genderstrukturen thematisierten. , Where The Wild Things Are‘ (Sendak, 1963) ist ein aus England stammendes Bilderbuch, das als Beispiel für den verstärkten Einsatz untersagter Themen dient. Kurwinkel (2020) beschreibt den Inhalt als „Gegensatz zu vielen anderen (Bilderbuch-)Geschichten, in denen a la Struwwelpeter (Heinrich Hoffmann 1845) auf das beispielhafte Vergehen einer zumeist typisierten Kinderfigur die ebenso beispielhafte Strafe oder aber ein Schicksalsschlag folgt.“ (S. 52). In diesem Buch geht es nicht um die Bestrafung, sondern um die Rebellion und die Wünsche des Kindes, wodurch das Bilderbuch den Schwerpunkt auf die Selbstbestimmung und die innere Gedankenwelt des Kindes legt. In dieser Zeit kamen zunehmend Bilderbücher aus dem Ausland nach Deutschland. Dies lag nicht in der Mehrsprachigkeit begründet. Die Bücher, die nach Deutschland kamen, wurden in das Deutsche übersetzt und blieben somit monolingual. Vielmehr ging es um neue Gestaltungsweisen in der Narration und um alternative Bildkonstruktionen, die in anderen Ländern verwendet wurden. Warum dabei nicht die Vorteile bilingualer Bilderbücher beachtet wurden, lag an dem vorherrschenden Gedanken, dass Mehrsprachigkeit eine kognitive Überforderung für Kinder darstelle. In den 1970er Jahren fand ein Wandel in der Konzeption der Kinder- und Jugendliteratur statt, der dazu führte, dass Kinder nicht mehr isoliert von Erwachsenen betrachtet und aus ihren „[...] gesellschaftlichen Schonräumen in die Wirklichkeit und Widersprüchlichkeit der modernen Industriegesellschaft geholt [...]“ (Kurwinkel, 2020, S. 54) wurden. In dieser Zeit fanden neben tabuisierten Themen wie dem Krieg dann auch Bilderbücher mit Migrationsthemen ihren Platz. Mehrsprachigkeit wurde jedoch weiterhin außen vorgelassen. 1980 entwickelte sich das postmoderne Bilderbuch. Es kam zur ästhetischen Entgrenzung und Auflösung von Genres, sodass Elemente unterschiedlicher Gattungen in einem Bilderbuch vereint wurden (vgl. Kurwinkel, 2020, S. 54). Weiter öffnete sich das Adressatenkonzept. Bilderbücher richteten sich nicht mehr primär nur an Kinder, sondern auch - und in einigen Büchern direkt - an Erwachsene, da ein Kind die inhaltliche Sinndeutung dieser Bücher nicht mehr erfassen könne (vgl. Thiele, 2002). Die Postmoderne brachte somit vor allem eine sehr offene und komplexe Konzeption mit sich. Dies stößt auf viel Zuspruch, findet aber dennoch seine Widersacher. In einem Interview mit der Zeit erklärt Thiele:
„Wer den Bilderbuchmarkt beobachtet, entdeckt eine Tendenz, Bilderbücher zu publizieren, die das Kind als Adressaten längst hinter sich gelassen haben. Keine Spur mehr von Linearität der Erzählung, keine Rede mehr von zusammenhängenden Bildern; stattdessen werden Konstruktion und Dekonstruktion von Texten und Bildern vorgeführt. Nicht mehr Einheitlichkeit des Stils und Geschlossenheit der Form sind ästhetische Merkmale, sondern, im Sinne postmoderner Entgrenzung, Nonlinearität der Erzählung und Brechung der Bildstile. Die Erzähler in diesen Büchern leiden an sich selbst und verrätseln ihre Geschichten, die Illustratoren verlieren ihre Bildsprache und machen sich auf die Suche nach den Scherben der Kulturgeschichte“ (Thiele, 2002).
[...]
1 Zur Vereinfachung wird im weiteren Verlauf der Arbeit auf die femininen Endungen verzichtet.
2 Linguizismus meint Vorurteile, fehlende Wertschätzung und sachlich unbegründete Ablehnung gegenüber Sprachen und derer, die sie sprechen (Quelle: https ://de.wikipedia. org/wiki/Linguizis- mus)