Tzvetan Todorov löste mit seiner "Einführung in die fantastische Literatur" die zeitgenössische Diskussion über Phantastiktheorien aus. Bis heute ist das Werk des bulgarischen Philologen Grundlage der meisten Untersuchungen, die sich mit phantastischer Literatur befassen. Am Beispiel von Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" zeigt er auf, dass die traditionelle phantastische Literatur im 20. Jahrhundert nicht mehr existiert, stattdessen konstatiert er bei Kafka eine Art verallgemeinertes Phantastisches. Todorovs These stützt sich auf lediglich einen Text Kafkas. Die vorliegende Arbeit wird jene Behauptung vom Tod der phantastischen Literatur und die Sonderstellung Kafkas an weiteren Erzählungen Kafkas textanalytisch untersuchen. Die erste These ist somit keine eigene, sondern von Todorov übernommen. Während sie bei ihm das Fazit der Untersuchung bildete, ist sie für diese Arbeit die Ausgangsposition: Die phantastische Literatur ist im 20. Jahrhundert tot. Kafka führt eine Art verallgemeinertes Phantastisches fort.
Der zweite Theorieschwerpunkt liegt auf einem der aktuellsten Konzepte in der Phantastikforschung – Renate Lachmanns kultursemiotischer Untersuchung zur (neo-)phantastischen Literatur. Die vorliegende Arbeit wird Lachmanns Phantastikkonzept auf Kafkas Texte applizieren. Ziel ist es, herauszufinden, ob der Schriftsteller tatsächlich ein klassischer Neophantast ist. Auch die zweite zentrale These ist somit keine eigene, sondern vielmehr eine von Lachmann aufgestellte, aber unbewiesene: Kafka ist ein Neophantast.
Zur Textanalyse werden überwiegend die Erzählungen Franz Kafkas herangezogen. Die Romane spielen in der vorliegenden Arbeit eine untergeordnete Rolle und werden nur in Einzelfällen zur Veranschaulichung herangezogen. Der Ansatz dieser Untersuchung zeichnet sich durch deduktives Arbeiten aus: Die Beschreibung einer Theorie phantastischer Literatur wurde durch Todorov und Lachmann vorgenommen, deren Ergebnisse will die vorliegende Arbeit an weiteren Texten (Kafkas) prüfen beziehungsweise gegebenenfalls adäquat reformulieren.
Die Analyse von Todorovs und Lachmanns Phantastikkonzept durch die kafkasche Brille soll neue Anstöße für die Kafka-Forschung geben. Mithilfe der überwiegend strukturalen Textanalysen werden sich neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen, insbesondere bezüglich einer sozial- und diskurswissenschaftlichen Textarbeit mit Kafkas Erzählungen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Über die vorliegende Arbeit
- Grundsätzliches zur Forschung über phantastische Literatur
- Der Tod der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert
- Todorovs Konzept phantastischer Literatur
- Form des Phantastischen
- Zwischen den Genres
- Die Bedingungen für das Phantastische
- Strukturale Eigenschaften phantastischer Texte
- Die Themen des Phantastischen
- Die Ich-Themen
- Exkurs I: Bachtins Chronotopos im 20. Jahrhundert
- Die Du-Themen
- Funktion des Phantastischen
- Funktion des Übernatürlichen innerhalb des Werkes
- Soziale Funktion des Übernatürlichen
- Funktion des Phantastischen selbst
- Exkurs II: Phantasmen der Macht
- Überprüfung von Todorovs Modell
- Zusammenfassung der Textanalyse
- Ist die phantastische Literatur im 20. Jahrhundert tot?
- Kritik
- Kafka als Neophantast
- Grundsätzliches zur Neophantastik
- Lachmanns kultursemiotisches Modell der Phantastik
- Konzeptgeschichte der Phantastik
- Phantasmagenese
- Phantastik als Gegenrhetorik – Das Paradox
- Die Rolle des Zufalls
- Orte des Phantastischen
- Geheimwissen
- Exkurs III: Tier-Werden vs. Molekular-Werden
- Zeichen
- Blick
- Diskurs
- Medium
- Orte des Neophantastischen
- Die andere Morphologie
- Das andere Wissen
- Die andere Wirklichkeit
- Überprüfung von Lachmanns Modell
- Zusammenfassung der Textanalyse
- Ist Kafka ein Neophantast?
- Kritik
- Wie phantastisch ist Kafka - ein Resümee
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit der Frage, ob und inwiefern sich die Theorien der phantastischen Literatur auf die Erzählungen Franz Kafkas anwenden lassen. Die Arbeit analysiert die Werke Kafkas im Kontext der Konzepte von Tzvetan Todorov und Renate Lachmann, um zu untersuchen, ob Kafkas Erzählungen als Vertreter der traditionellen phantastischen Literatur oder als Beispiele für eine neue Form der Phantastik, die Neophantastik, zu betrachten sind.
- Die Entwicklung und der Wandel der phantastischen Literatur im 20. Jahrhundert
- Die Anwendung von Todorovs Konzept der phantastischen Literatur auf Kafkas Erzählungen
- Die Analyse von Kafkas Erzählungen im Kontext von Lachmanns kultursemiotischem Modell der Phantastik
- Die Frage, ob Kafka als Neophantast zu betrachten ist
- Die Untersuchung der spezifischen Orte des Phantastischen in Kafkas Erzählungen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und stellt die beiden zentralen Thesen vor: Die phantastische Literatur ist im 20. Jahrhundert tot und Kafka ist ein Neophantast. Die Arbeit untersucht diese Thesen anhand von Kafkas Erzählungen und analysiert sie im Kontext der Konzepte von Todorov und Lachmann.
Kapitel 2 befasst sich mit Todorovs Konzept der phantastischen Literatur. Es werden die Form und Funktion des Phantastischen sowie die Strukturale Eigenschaften phantastischer Texte analysiert. Der Fokus liegt auf der Frage, ob die phantastische Literatur im 20. Jahrhundert tatsächlich tot ist und ob Kafkas Erzählungen als Vertreter einer neuen Form der Phantastik zu betrachten sind.
Kapitel 3 widmet sich Lachmanns kultursemiotischem Modell der Phantastik. Es werden die Orte des Phantastischen und die spezifischen Merkmale der Neophantastik untersucht. Die Arbeit analysiert Kafkas Erzählungen im Kontext von Lachmanns Modell und stellt die Frage, ob Kafka als Neophantast zu betrachten ist.
Kapitel 4 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen und zieht ein Resümee über die Anwendbarkeit von Phantastiktheorien auf Kafkas Erzählungen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die phantastische Literatur, Franz Kafka, Tzvetan Todorov, Renate Lachmann, Neophantastik, Tod der phantastischen Literatur, Orte des Phantastischen, Kultursemiotik, Textanalyse, Erzähltheorie.
- Quote paper
- M.A. Claudia Engelmann (Author), 2007, Wie phantastisch ist Kafka?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127835