Die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens gehört sicher zu den größten Problemen der Philosophie überhaupt. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur zentral für das Verständnis des Menschen von sich selbst, sondern auch Grundlage einer jeden Ethik. Auch in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles spielt daher das Problem der Freiwilligkeit eine wichtige Rolle. Allerdings muss man hier eine Einschränkung hinzufügen. Die Freiwilligkeit, von der Aristoteles spricht, lässt sich nämlich nicht ohne weiteres gleichsetzen mit dem modernen Begriff der Willensfreiheit. Nach Ansicht vieler Forscher besaß Aristoteles entweder überhaupt keinen Begriff des Willens oder zumindest keinen solchen, wie er in den modernen europäischen Sprachen als vom Intellekt isoliertes Phänomen vorkomme.
Der vorliegenden Arbeit soll es jedoch nicht um die Frage nach der Willensfreiheit bei Aristoteles gehen, sondern sie will vielmehr klären, was Aristoteles unter Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in III 1–7 der Nikomachischen Ethik versteht. Die Kapitel über Freiwilligkeit stehen im Kontext einer Abhandlung über die Formen der ethischen Tüchtigkeit (II-V). Die Frage nach der Freiwilligkeit ist dabei für Aristoteles eng mit der Frage moralischer Verantwortung verknüpft. Da es “Lob und Tadel nur bei dem gibt, was freiwillig geschieht, während das Unfreiwillige Nachsicht und manchmal auch Mitgefühl findet” (54, 1109b 30-1110a 14), ist eine Unterscheidung von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit erforderlich.
Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Abgrenzung von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Da diese Unterscheidung im Rahmen der aristotelischen Lehre moralischer Verantwortlichkeit von zentraler Wichtigkeit ist, wird ihr auch in der Darstellung größerer Umfang eingeräumt. Die Bestimmung der Freiwilligkeit erfolgt dabei über den Umweg einer Bestimmung der Unfreiwilligkeit. Der zweite Teil behandelt die Entscheidung als das spezifische Menschliche der Freiwilligkeit. Hier wird die Abgrenzung zu anderen Phänomenen im Mittelpunkt stehen. Im Dritten Teil schließlich werden Fragen der Zurechnung behandelt. Besonders die These von der Freiwilligkeit des Charakters wird kritisch untersucht, um aufzuzeigen, dass die aristotelische Theorie der Freiwilligkeit letztlich aporetischen Charakter hat.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
- 1. Definition der Unfreiwilligkeit
- 2. Das Kriterium des Zwangs
- 2.1. Handlungen mit Mischcharakter
- 2.2. Unzulässige Gründe für Zwang
- 3. Das Kriterium der Unwissenheit
- 3.1. Nichtfreiwilliges und Unfreiwilliges
- 3.2. Handeln aus Unwissenheit und Handeln im Nichtwissen
- 3.3. Arten der Unwissenheit
- 4. Definition der Freiwilligkeit
- III. Entscheidung
- 1. Verhältnis von Entscheidung und Freiwilligkeit
- 2. Abgrenzung der Entscheidung zu alternativen Definitionsvorschlägen
- 2.1. Begehren und Aufwallung
- 2.2. Wünschen
- 2.3. Meinung
- 3. Erste Definition der Entscheidung
- 4. Überlegung
- 4.1. Gegenstandsbereich der Überlegung
- 4.2. Methode der Überlegung
- 5. Zweite Definition der Entscheidung
- 6. Wünschen
- IV. Fragen der Zurechnung
- 1. Freiwilligkeit und Rechtsprechung
- 2. Eigenverantwortlichkeit des Charakters
- 3. Probleme der Eigenverantwortlichkeit
- V. Zusammenfassung
- VI. Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, was Aristoteles in der Nikomachischen Ethik unter Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit versteht. Sie analysiert die entsprechenden Kapitel im Kontext der aristotelischen Lehre moralischer Verantwortlichkeit und untersucht, wie Aristoteles die Freiwilligkeit von der Unfreiwilligkeit abgrenzt und die Entscheidung als das spezifische Menschliche der Freiwilligkeit definiert. Darüber hinaus werden Fragen der Zurechnung und die These von der Freiwilligkeit des Charakters kritisch beleuchtet.
- Abgrenzung von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
- Die Rolle des Zwangs und der Unwissenheit
- Die Entscheidung als spezifisches Menschliches der Freiwilligkeit
- Fragen der Zurechnung und Verantwortlichkeit
- Die These von der Freiwilligkeit des Charakters
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens als zentrales Problem der Philosophie dar und erläutert die Bedeutung der Freiwilligkeit für das Verständnis des Menschen und die Ethik. Sie betont, dass Aristoteles' Begriff der Freiwilligkeit nicht mit dem modernen Begriff der Willensfreiheit gleichzusetzen ist. Die Arbeit konzentriert sich auf die Klärung von Aristoteles' Verständnis von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in III 1–7 der Nikomachischen Ethik.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Abgrenzung von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Aristoteles definiert die Unfreiwilligkeit als Handeln unter Zwang oder aus Unwissenheit. Das Kriterium des Zwangs wird anhand von Beispielen erläutert, wobei die Problematik der Unterscheidung zwischen rein physischem und psychischem Druck hervorgehoben wird. Handlungen mit Mischcharakter, die unter den konkreten Umständen freiwillig, aber an sich unfreiwillig sind, werden diskutiert. Schließlich werden unzulässige Gründe für Zwang, wie das Lustvolle und Schöne sowie Zorn und Begierde, erörtert.
Das dritte Kapitel behandelt die Entscheidung als das spezifische Menschliche der Freiwilligkeit. Es wird die Abgrenzung der Entscheidung zu anderen Phänomenen wie Begehren, Aufwallung, Wünschen und Meinung vorgenommen. Die Entscheidung wird als ein Prozess der Überlegung definiert, der auf die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zielt.
Das vierte Kapitel befasst sich mit Fragen der Zurechnung. Es wird die Beziehung zwischen Freiwilligkeit und Rechtsprechung untersucht und die These von der Freiwilligkeit des Charakters kritisch beleuchtet. Die Problematik der Eigenverantwortlichkeit wird anhand von Beispielen aus dem Alltag verdeutlicht.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Freiwilligkeit, Unfreiwilligkeit, Zwang, Unwissenheit, Entscheidung, Überlegung, Zurechnung, Eigenverantwortlichkeit und die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Die Arbeit analysiert Aristoteles' Definitionen von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit, untersucht die Rolle des Zwangs und der Unwissenheit bei der Handlungsentscheidung und beleuchtet die Frage der moralischen Verantwortlichkeit im Kontext der aristotelischen Ethik.
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- Thomas Neumann (Autor), 2008, Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128208