"Felipa Marlowe" - Untersuchungen zu Mobilität, Geschlechterbeziehungen und Sprache in Raymond Chandlers "The Little Sister" und Myriam Laurinis "Morena en rojo"


Dossier / Travail de Séminaire, 2009

40 Pages


Extrait


Inhalt

Einleitung

1. Raymond Chandlers The Little Sister
1.1. Inhalt und Erzählsituation
1.2. Crime Scene Chandlertown: Marlowe und Los Angeles
1.2.1. Das Wachstum L. A.’s und die Konsequenzen in Chandlers Romanen
1.2.2. Das Ich und die Stadt: Das dreizehnte Kapitel von The Little Sister
1.3. Von Huren und Schauspielerinnen: Marlowe und die Frauen
1.3.1. Die Unschuld vom Lande? Orfamay Quest
1.3.2 Die Hure? Dolores Gonzales
1.4 ‚Allways the wisecrack’- Marlowe und die Sprache

2. Myriam Laurinis Morena en rojo
2.1. Inhalt und Erzählsituation
2.2. ‚Lugar del crimen: México’: La morena und Mexiko
2.2.1. Ländliches Idyll? Mérida
2.2.2. Tropischer Rausch ? Veracruz
2.2.3. Tierra árida? DF
2.2.4. Die Grenze zum gelobten Land? Der Norden
2.3. ‚Cosas de hombres’- Geschlechterverhältnisse und machistischer Diskurs im Roman
2.3.1. ‚Sentar cabeza’? Die morena und die Männer
2.3.1.1. Der Mann ohne Eigenschaften: el gringo
2.3.1.2. Die Jugendliebe: Der ‚flaco’ Hugo
2.3.1.3. Lázaro
2.3.2. ‚Pícale, morena!’ Der machistische Diskurs
2.4. Die Sprache in Morena en rojo

Epilog: Die morena und die Frauen

Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
a. Chandler
b. Laurini
2. Sekundärliteratur
a. zu Chandler
b. zu Laurini
3. zu Mexiko
4. Andere verwendete Literatur
5. Sonstiges
6. Internet

Einleitung

Quería ser la Aristegui, la Sanjuana, Rodolfa Walsh, Richarda Kapuscinsky, Normanda Mailer, Anne Marie Mergier, Goreta Vidal o Guntera Walraff; meterme a fondo como él hizo en Cabeza de turco, narrar como Mailer, entrar en la vida de gente y trasmitir como Kapuscinsky, ir a la guerra como Peter Arnet.[1]

Die Protagonistin in Laurinis Roman Morena en rojo, die allgemein nur morena genannt wird, und deren richtigen Namen der Leser nie erfährt, versucht als Reporterin die Machenschaften des organisierten Verbrechens im Bereich der Prostitution von Kindern und Jugendlichen aufzudecken. Offensichtlich braucht in der beschriebenen Welt, dem Mexiko der frühen 1990er Jahre, eine Frau, die sich, wie ein Polizist im Roman es einmal mit Drohgebärde formuliert, in „cosas de hombres“ (Mr332) einmischt, dazu zumindest männliche Vorbilder.

Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu einem Mann, der als mögliches Vorbild für Laurinis Figur gedient haben mag, wenn es sich auch nicht um einen realen Reporter oder Schriftsteller, sondern um einen fiktiven Privatdetektiv handelt, sollen in dieser Arbeit untersucht werden. Gemeint ist Philip Marlowe, der von 1934 bis 1958 in einigen Kurzgeschichten und sieben Romanen des Autors Raymond Chandler auftrat.

Die Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren Chandlers und Laurinis sind schnell erläutert: Beide trinken etwas mehr Alkohol, als gut für sie wäre, beide leiden mitunter unter starken Selbstzweifeln, beide sind ständig on the road, wo Marlowe seine Aufträge kreuz und quer durch die Los Angeles Metropolitan Area führen, bereist die morena ganz Mexiko, was bei beiden Figuren gleichermaßen Ausdruck ihrer charakterlichen Unbeständigkeit und ihres Dranges nach Unabhängigkeit ist. Beide werden als gebildete und vor allem belesene Figuren konstituiert, die in einer Welt ermitteln, die von Korruption, Verbrechen und Gewalt bestimmt wird, und beide unterscheiden sich vom status quo dieser Welt, dadurch, dass ihnen moralische Prinzipien wichtiger sind als Geld. In beiden Fällen werden durch die Mobilität der Hauptfiguren, die sich nicht um soziale Hierarchien oder Grenzen scheren, die Orte die sie, buchstäblich, er-fahren, durch die Sicht der Ich-Erzähler, in ihrer sozialen Fragmentierung und Widersprüchlichkeit abgebildet.

Frank Leinen sieht den mexikanischen Kriminalroman in einer Tradition mit der US-amerikanischen hard-boiled novel[2], für die Chandlers Romane einen Prototypen bilden, betont aber im Bezug auf Morena en rojo gerade den Bruch mit dieser Tradition:

La complejidad y las contradicciones de la realidad exigen demasiado del individuo que ni siquiera en su ensayo de vencer a su fatiga por un « buen baño » parece como una copia de los héroes de la hard-boiled novel: « Imité a los detectives de novelas policiacas : agua caliente, agua fría. Detestí, el agua fría agrede demasiado.” (Laurini, 1994: 199 [in der von mir zitirten Ausgabe Mr319])[3]

Leinen charakterisiert das Buch als „una novela social que se sirve de elementos criminalísticos para trasmitir sin disimulación su mensaje crítico al mayor número posible de lectores.“[4] So sollen auch in meiner Arbeit eher die Unterscheide als die Gemeinsamkeiten der beiden Figuren im Vordergrund stehen. Wo Marlowe lieber alleine ist und sein Umfeld auf Distanz hält, lässt sich die morena schon durch die Art der Fortbewegung auf menschliche Nähe ein. Ähnliches gilt auch für das Liebesleben der Figuren, wo die morena im Verlaufe der Romanhandlung in drei Liebesbeziehungen scheitert, bedeutet für Marlowe das Anknüpfen einer Beziehung von vornherein einen Verlust seines unabhängigen Lebenswandels und seiner moralischen Integrität, dem er durch „Keuschheit“ vorzubeugen trachtet. Wo die morena sich den sozialen Problemen, die sie umgeben zunächst mit einem eher naiven Blick nähert („Bendita ingenuidad la mía“ (Mr160), sagt sie an einer Stelle), finden wir bei Marlowe einen betont abgebrühten und desillusionierten Blickwinkel.

Ein weiterer Unterschied soll durch den Vergleich der Reflexion über Sprache bei beiden Autoren aufgezeigt werden. Wo Marlowes charakteristischer wisecrack, der coole Spruch in jeder Lebenslage, belegt, dass die Sprache bei Chandler vor allem ein Machtmittel ist, das zum Arbeitswerkzeug des Ermittlers gehört, gibt es bei Laurinis Reporterinnenfigur auch eine hedonistische Dimension derselben, die von der Lebensfreude zeugt, die sich die morena, trotz aller Depression und allen deprimierenden Realitäten, bewahrt.

Meine Ausführungen zu Chandler beziehen sich hauptsächlich auf den Roman The Little Sister. Philip Marlowes fünfter Romanauftritt aus dem Jahre 1949 bietet vor allem zur Untersuchung des Mobiltiätsmotivs, sowie der gender -Thematik reichhaltiges Material.

1. Raymond Chandlers The Little Sister

1.1. Inhalt und Erzählsituation

The peebled glass door panel is lettered in flaked black paint: „ Philip Marlowe... Investigations. “ It is a reasonably shabby corridor in the sort of building that was new about the year the all-tile bathroom became the basis of civilization. The door is locked, but next to it is another door with the same legend which is not locked. Come on in – there’s nobody in here but me and a big bluebottle fly. But not if you’re from Manhattan, Kansas.[5]

Aus Manhattan, Kansas stammt Orfamay Quest, die zu Beginn des Romans in Marlowes Büro kommt. Der Name des Ortes im ländlichen Kansas, lässt an eines der größten urbanen Zentren der USA denken und ist somit der erste Fall trügenden Scheins in Chandlers ‚Hollywood novel’.[6] Dass Miss Quest Marlowe nichts als Ärger bringen wird, wird also bereits in diesem ersten Absatz vorangekündigt. Dieser steht, im Gegensatz zum Rest des Textes, der durchgehend im Präteritum verfasst ist, im Präsens und versetzt somit in die Gegenwart des Erzählens, aus der Marlowe als Ich-Erzähler rückblickend berichtet.

Orfamay Quest beauftragt Marlowe mit der Suche nach ihrem Bruder Orrin, der aus beruflichen Gründen nach Los Angeles gezogen ist und den Kontakt zu Mutter und Schwester abrupt abgebrochen hat. Bei seinen Recherchen stößt Marlowe zunächst auf Hicks und Clausen, zwei Gangster, die Orrin kannten und wenig später tot aufgefunden werden, ermordet mit einem Eispickel. Bei Hicks’ Leiche findet Marlowe den Abholschein für einige Fotos, die die Hollywoodschauspielerin Mavis Weld, mit bürgerlichem Namen Leila Quest, Schwester von Orfamay und Orrin, und einen gewissen Steelgrave, einen Gangster aus Cleveland, beim Mittagessen zeigt. Die Fotos beweisen, dass Steelgrave an einem bestimmten Tag nicht, wie offiziell angenommen, im Gefängnis war und widerlegt dadurch sein Alibi für den Mord an einem Kontrahenten namens Stein. Orrin, der die Bilder aufgenommen hat, wollte sie benutzen, um Steelgrave zu erpressen. Drahtzieher der Erpressung scheint allerdings ein gewisser Dr. Largardie zu sein. Als Marlowe diesen in seiner Praxis aufsucht und beschuldigt, wird er durch eine mit Drogen versetzte Zigarette außer Gefecht gesetzt. Als er zu sich kommt, hört er ein Kratzen an der Tür, verursacht von Orrin Quest, der kurz nachdem Marlowe ihm öffnet einer Schussverletzung erliegt. In der Hand hält er einen Eispickel. Dolores Gonzales, ebenfalls Hollywooddarstellerin und mit Mavis Weld bekannt, führt Marlowe etwas später zu Mavis und dem ermordeten Steelgrave. Marlowe richtet den Tatort so her, dass es aussieht, als habe er Steelgrave in Notwehr erschossen. Die Polizei lässt sich nicht täuschen und verhaftet den Privatdetektiv. Wieder freigekommen, trifft Marlowe ein letztes Mal auf Orfamay. Er weiß, dass sie von Steelgrave 1000 Dollar erhalten hat, um Orrins Adresse zu verraten. Als Steelgrave ihr zur Belohnung für den Verrat das blutige Hemd ihres Bruders gab, erschoss sie ihn im Beisein ihrer Schwester und Miss Gonzales’. Den Mord an Orrin aber, hat nicht Steelgrave begangen, der sein Gangsterleben hinter sich lassen wollte, sondern Dolores, die Steelgrave liebte. Als Marlowe den Fahrstuhl des Appartementhauses, in dem Dolores lebt, verlässt, kommt ihm Dr. Lagardie entgegen. Marlowe ruft die Polizei, doch diese kommt zu spät, um Dolores zu retten.

Der Roman ist in 34 nicht betitelte Kapitel unterteilt.

1.2. Crime Scene Chandlertown: Marlowe und Los Angeles

1.2.1. Das Wachstum L. A.’s und die Konsequenzen in Chandlers Romanen

„I used to like this town,“ sinniert Marlowe auf einer nächtlichen Autofahrt mit Dolores Gonzales.

„A long time ago. There were trees along Wilshire Boulevard. Beverly Hills was a country town. Westwood was bare hills and lots offering at eleven hundered dollars and no takers. Hollywood was a bunch of frame Houses in the interurban line. Los Angeles was just a big dry sunny place with ugly homes and no style, but goodhearted and peaceful. It had the climate they just yap about now. People used to sleep out on porches. Little groups who thought they were intellectual used to call it the Athens of America. It wasn’t that, but it wasn’t a neon-lighted slum either. [...]

Now we get characters like this Steelgrave owning restaurants. [...] We’ve got the big money, the sharp shooters, the percentage workers, the fast-dollar boys, the hoodlums out of New York and Chicago and Detroit – and Cleveland. We’ve got the flash restaurants and night clubs they run, and the hotels and apartment houses they own, and the grifters and con men and female bandits that live in them. The luxury trades, the pensy decorators, the Lesbian dress designers, the riffraff of a big hard-boiled city with no more personality than a paper cup. Out in the fancy suburbs dear old Dad is reading the sports page in front of a picture window, with his shoes off, thinking he is high class because of his three-car garage. Mom is in front of her princess dresser trying to paint the suitcases out from under her eyes. And Junior is clamped onto the telephone calling up a succesion of high school girls that talk pigeon English and carry contraceptives in their make-up kit.“

„It is the same in all big cities, amigo.“ [Dolores Gonzales said.]

„Real cities have something else, some individual bony structure under the muck. Los Angeles has Hollywood – and hates it. Without Hollywood it would be a mail-order city. Everything in the catalogue you would get better somewhere else.” (LS183f.)

Andreas Mahler erläutert unter den verschiedenen Arten, durch die literarische Texte Städte konstituieren, u. a. die „referentielle Stadtkonstitution“[7]. Hierbei werde der Name einer realen Stadt etwa schon im Titel eines Werkes genannt, oder diese werde „über das abrufen von als bekannt vorrausgesetzten und vorraussetzbaren Teilelementen“ konstituiert. „Eine solche Stadtkonstitution hat man – in Anlehung an einen Begriff aus der kognitiven Semantik – ‚prototypisch’ genannt.“[8] Die refferentielle Stadtkonsitution habe es zum Ziel, „das fiktive Geschehen in einer ‚realen’ Stadt“[9] zu situieren, wodurch die „explizite Herstellung eines Text-Welt-Bezuges“ erreicht würde[10].

Dass Chandler sein Los Angeles gerade in der Form einer prototypischen Stadtkonstitution, durch die vielfache Nennung realer Straßen-und Stadtteilsnamen entstehen lässt, vermag wenig Wunder zu nehmen. Die hierdurch erzeugte Authentizität war für ihn maßgebliches Kriterium literarischen Schaffens, so beginnt er seinen Essay The Simple Art of Murder mit dem Satz: „Fiction in any form has allways intented to be realistic.“[11] Was er den Detektivgeschichten klassischer Prägung, etwa Agatha Christies, vorwarf, war gerade ihre ‚Weltfremde’[12]. Das Los Angeles, das den Background für Philip Marlowes Kriminalfälle liefert, ist als realistisches Bild einer wachsenden Metropole und der Probleme, die das Wachstum mit sich bringt, konzipiert. In The Big Sleep bringt Marlowe es auf den Punkt: „Some very tough people have checked in here lately. The penalty of growth.“[13] Auch wird „[d]ieses Wachstum [...] spätestens seit den zwanziger Jahren unübersehbar begleitet von einer unerhörten, sozialen, kulturellen, politischen und räumlichen Fragmentierung der Stadt“[14]: „Die neue Metropole mit ihren 1.2 Millionen Einwohnern bot zu Beginn der Depression 1929 das Bild eines Archipels kultureller, ethnischer und sozialer Inseln“[15]. Peter Neumeyer schreibt: „Chandlers Werke vermitteln ein authentisches Bild der Stadt in den dreißiger und vierziger Jahren und haben unsere Sichtweise dieses Raumes entscheidend mitgeprägt. Los Angeles ist ‚Chandlertown’.“[16]

Die von mir eingangs ausführlich zitierte Passage ist exemplarisch sowohl für die historischen Veränderungen Los Angeles’, die Chandler in seinen Romanen porträtiert, die Entwicklung von einer „fast pastorale[n]“[17] Stadt zur brodelnden Metropole und zum Sündenpfuhl des Verbrechens, als auch für Marlowes konservative Sicht auf diese Entwicklung und die Welt im Allgemeinen. Der Verslust ‚ländlicher Unschuld’, geht für Marlowe einher mit einem klassenübergreifenden Verfall moralischer Werte. Die Bevölkerung der Stadt mit homosexuellen ‚Künstlern’ (schlimmer noch: Künstlerinnen[18] ) gibt davon ebenso Zeugnis wie die Tatsache, dass high school girls im ständig wachsenden suburbia am Rande der Stadt mit Verhütungsmitteln hantieren. Oben zitierter Absatz gibt aber nicht nur Zeugnis von der Entwicklung der Stadt, sondern auch davon wie diese, buchstäblich, vom Protagonisten er-fahren wird. Marlowes Art der Wahrnehmung seines fragmentierten Umfeldes ist der Blick aus dem Autofenster, was wohl als typisch gelten muss für eine Stadt, in der „heute mehr als 50% der gesamten Stadtfläche dem ruhenden und fließenden Verkehr gewidmet“ sind[19].

Wie die Wahrnehmung der Stadt aus dem Auto Zeugnis einer Entfremdung ist, in der Phänomene nur noch von einem isolierten Standpunkt und aus gemessener Distanz beobachtet werden, so wird der Stadt, die im Idealzustand als anthropomorphes Wesen mit einer „personality“ und einer „bony structure underneath the muck“ wahrgenommen wird, gerade ihre „Entmenschlichung“ vorgeworfen. Das wild wuchernde Wachstum lässt keine knöcherne Struktur unter der Oberfläche mehr erkennen, und diese Stadt, die gerade in ihrer negativen Entwicklung die Entwicklung anderer Städte vorwegzunehmen scheint[20], hat für Marlowe die Persönlichkeit eines Pappbechers, also eines gesichtslosen in Massenproduktion hergestellten Billigkonsumartikels. Die Austauschbarkeit L. A.’s spiegelt im Roman die Austauschbarkeit seiner Bewohner, deren kleinbürgerliches Gros sich für Marlowe in einer Handvoll (gender-) Stereotype (Mann = Sportteil der Zeitung und Auto[21], Frau = Jugend-, bzw. Schönheitswahn) erschöpfend beschrieben findet. Wohl stellvertretend für das ‚Kleinbürgerglück’ an sich, sagt Marlowe einmal über die Empfangsdamen dieser Welt: „They are civil without ever quite being polite and intelligent and knowledgeable without any real interest in anything. They are what human beings turn into when they trade life for existence and ambition for security.“ (LS222)

Wo die Stadt landschaft, das beständig wachsende suburbia, mit seiner eigenständigen Persönlichkeit auch seinen ‚menschlichen’ Charakter verloren hat, verfällt die Stadt andernorts wieder zu wilder Natur. Etwa in den Beschreibungen des heruntergekommenen Hotels in Bay City, in dem Marlowe seine Suche nach Orrin Quest beginnt.

You could know Bay City a long time without knowing Idaho Street. And you could know a lot of Idaho Street without knowing Number 449. The block in front of it had a broken paving that had almost gone back to dirt. The warped fence of a lumberyard bordered the cracked sidewalk on the opposite side of the street. Halfway up the block the rusted rails of a spur track turned into a pair of high, chained wooden gates that seem not to have been opened for twenty years. (LS17)

Der amerikanische Westen, als Ziel der etappenhaften Eroberung des Landes und die Eisenbahn, als Symbol dieses Voranschreitens, verwandeln sich im Verfallsprozess des urban wasteland zurück in die Natur, der sie zuvor mühevoll abgerungen wurden.

Möllers beschreibt wie die Figur des Privatdetektivs innerhalb der fragmentierten Stadt zu einem verbindenden Element wird, durch dessen „Odysee[n] [...] sonst streng voneinander getrennte Bereiche in Beziehung treten.“[22] Doch die Figur des Detektivs bilde so, nach Möllers, nicht einfach eine, sondern

die einzige Verbindung zwischen den räumlich und sozial auseinanderstrebenden Elementen eines inkohärenten Sozialgefüges. Seine Nachforschungen verknüpfen das Oben und Unten von Los Angeles, stellen Beziehungen her zwischen disparaten Teilen, die ansonsten keine Verbindungen haben.[23]

Die Adresse in der Idaho Street wurde durch den ärmlichen, verwahrlosten Charakter der Gegend als abseits aller öffentlichen Wahrnehmung dargestellt. Von hier aus wird der plot Marlowe gerade in das Zentrum öffentlicher Wahrnehmung, ins Rampenlicht gewissermaßen, bringen: nach Hollywood, das als Welt des Scheins für ihn den Kontrast zum Sein suburbias ist, aber auch das Zentrum des nicht Realen, dem, seiner Authentizitätsansprüche wegen[24], seine Verachtung gilt. Während es für Marlowe in „real cities“ „something else“ gibt, also einen wie auch immer gearteten Gegensatz zum kleinbürgerlichen Status quo endloser Einfamilienhaussiedlungen, ist dieses ‚Andere’ in Los Angeles die Illusion Hollywoods und was sich unter deren schönem Schein versteckt, trägt für Marlowe eher ländliche oder proletarische Züge, was etwa durch Familie Quest und ihre Suche nach Reichtum und Glamour deutlich wird.

Wonderful what Hollywood will do to a nobody. It will make a radiant glamour queen out of a drab little wench who ought to be ironing a truck driver’s shirts, a he-man hero with shining eyes and brilliant smile reeking of sexual charme out of some overgrown kid who was meant to go to work with a lunchbox. Out of a Texas car hop with the literacy of a chracter in a comic strip it will make an international courtesan, married six times to six millionaries and so blasé and decadent at the end of it that her idea of a thrill is to seduce a furniture mover in a sweaty undershirt.

And by remote control it might even take a small-town prig like Orrin Quest and make an ice-pick murderer out of him in a matter of months, elevating his simple meanness to the classic sadism of the mutiple killer. (LS158)

1.2.2. Das Ich und die Stadt: Das dreizehnte Kapitel von The Little Sister

Das dreizehnte Kapitel von The Little Sister gibt in seiner Ganzheit Marlowes Beobachtungen und Reflexionen wieder, während er abends im Auto durch die Stadt fährt.

I drove east on Sunset but I didn’t go home. At La Brea I turned north and swung over to Highland, out over Cahuenga Pass and down on to Ventura Boulevard, past Studio City and Sherman Oaks and Encino. There was nothing lonely about the trip. There never is on that road. Fast boys in stripped-down Fords shot in and out of the traffic streams [...] Tired men in dusty coupés and sedans winced and tightened their grip on the wheel and ploughed on north and west towards home and dinner, an evening with the sports page, the blatting of the radio, the whining of their spoiled children and the gabble of their silly wives. [...]Behind Encino an occasional light winked from the hills through thick trees. The homes of screen stars. Screen stars, phooey. The veterans of a thousand beds. Hold it, Marlowe, you’re not human tonight.The air got cooler. The highway narrowed. (LS79f.)

Der Weg den Marlowe fährt, lässt sich auf einem (aktuellen!) Stadtplan von L. A. nachvollziehen[25]. Es scheint, als werde bei Chandler, nach und nach, gerade das Austauschbare, das typische für Los Angeles. Es scheint als beobachte der Autor gerade die Entwicklung der Stadt hin zu dem, was Peter Körte, mehr als fünfzig Jahre später, in den Filmen Quentin Tarantinos sehen sollte:

Tarantino nimmt das dezentrierte urbane Gebilde Los Angeles als das, was es ist. In der Unbestimmtheit des in die Horizontale gewürfelten Siedlungskonglomerats, im Sammelsurium aus lauter austauschbaren Straßenecken, Freeways, gleichförmigen Hinterhöfen und back alleys entdeckt er den genuis loci.[26]

Offenbar musste ein halbes Jahrhundert vergehen und die Postmoderne erfunden werden, bis die Kunst an einer solchen Stadt ihre Freude finden konnte.

Marlowe hingegen konstituiert sich als Individuum in dieser fragmentierten Stadt, in der die Kleinbürger ihre Vorstadt und die Leinwandstars ihr Villenviertel haben, gerade durch seine Abgrenzung zu ihr. Auf seinem weiteren Weg isst er in einem Restaurant zu Abend.

Bad but quick. Feed ´em and throw ´em out. Lots of business. We can’t bother to have you sitting over your second cup of coffe, mister. Your using money space. See those people over there behind the rope? They want to eat. [...] You’re not human tonight, Marlowe. (LS80)

Der letzte Satz wird als Leitmotiv von Marlowes Reflexionen insgesamt fünfmal wiederholt (LS80 und 81). Seinem Umfeld bis zur Entmenschlichung entfremdet fühlt sich Marlowe hier wohl auch als Feingeist, als Mozarthörer, Flaubertleser[27] und Schachspieler, im Angesicht der aufkommenden fast food culture.

[...]


[1] Vgl. Myriam Laurini: Que raro que me llame Guadelupe / Morena en rojo, D.F. (México) 2008, S. 215. Laurinis 1994 erstveröffentlichter Roman Morena en rojo wurde 2008 zusammen mit ihrem Roman Que raro que me llame Guadelupe neu aufgelegt. Letzterer ist mit einem Vorwort, Noticia überschrieben, versehen, das auch für Morena en rojo, mit dem sich meine Arbeit hauptsächlich beschäftigen wird, von Bedeutung ist. In diesem Vorwort erzählt eine Frau, die sich selbst nur La morena nennt, Laurini auf einer Flugreise kennen gelernt und ihr ihre Geschichte erzählt habe. Später habe Laurini sie aufgesucht, um sie zu bitten, diese Geschichte als Grundlage für zwei Romane verwenden zu dürfen. Was ihr die morena, unter der Bedingung, dass Namen, Orte, etc. zum Schutz der betreffenden Personen geändert würden.

Alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im Folgenden im laufenden Text in Klammern vermerkt. Die Zitate aus Morena en rojo werden mit (Mr), die aus Que raro que me llame Guadelupe mit (Gua) und die aus dem Vorwort mit (Not) gekennzeichnet werden. Hervorhebungen in allen Zitaten beziehen sich, so fern nicht ausdrücklich anders vermerkt, immer auf die jeweiligen Originale.

[2] Vgl. Frank Leinen: Lugar del crimen: México, S. 520. “Teniendo en cuenta la visión critica de la sociedad presentada por la hard-boiled novel de Dashiell Hammett y Raymond Chandler el lector de novelas policiaicas mexicanas se encuentra siempre con una realidad deprimente, dominada por la violencia.”

[3] Vgl. Ebd. S. 531.

[4] Vgl. Ebd. S. 530.

[5] Vgl. Raymond Chandler: The Little Sister, New York 1988, S. 3. Alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im Folgenden in Klammern im laufenden Text vermerkt (LS).

[6] Als solche charakterisiert Peter Freeze The Little Sister. Vgl. Peter Freeze: ‚America’ Dream or Nightmare? Reflections on a Composite Image; 3rd revised and enlarged edition, Essen 1994, S. 293.

[7] Vgl. Andreas Mahler: Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution. In: Derselbe (Hg.): Stadt-Bilder: Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg 1999, S. 14ff.

[8] Vgl. Ebd. S. 15.

[9] Vgl. Ebd. S. 14.

[10] Vgl. Ebd.

[11] Raymond Chandler: The Simple Art of Murder, New York 1988, S. 1.

[12] Vgl. Ebd. S. 11. „They [all these stories...] are too little aware of what goes on in the world. […] But if the writers of this fiction wrote about the murders that really happen, they would have also to write about the authentic flavor of life as it is lived.“

[13] Vgl. Raymond Chandler: The Big Sleep (1939), New York 1992, S. 73. Alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im Folgenden in Klammern im laufenden Text vermerkt (BS).

[14] Vgl. Möllers: A Paradise populated with Lost Souls : Literarische Auseinandersetzungen mit Los Angeles, Essen 1999, S. 86.

[15] Vgl. Ebd. S. 85.

[16] Vgl. Peter Neumeyers Nachwort zu: Raymond Chandler: Killer in the Rain, Stuttgart 2008, S. 116 und Anmerkung 23. Neumeyer verweist hiermit auf ein Buch von Edward Thorpe: Chandlertown: The Los Angeles of Philip Marlowe, London 1983/ New York 1984.

[17] Vgl. Möllers Paradise populated S. 238.

[18] Die „Lesbian dress designers“ sind als Ausdruck gewisser Boheme-Kreise bezeichnend: Sie assoziieren diese Kreise sofort mit Homosexualität und verweisen über dies auf die allgemeine Eitelkeit der Frau, die auch in der Beschreibung der kleinbürgerlichen Mutter zum Ausdruck kommt.

[19] Vgl. Ebd. S. 185.

[20] So kündigen Marlowes herablassende Darstellungen der sich ausbreitenden Vorstädte bereits von dem „heutigen Megasuburbia, das“, für Möllers, am Endes des zwanzigsten „das 21. Jahrhundert vorwegzunehmen scheint.“ Möllers: Paradise populated S. 87.

[21] Die „three-car garage“ verweist wohl auf eine Tendenz, das jedes Familienmitglied ein eigenes Auto hat, womit das Auto nicht mehr nur noch männlich konnotiert wäre, eben diese Garage ist aber gerade der Stolz des Mannes, das ihm als Prestige-Objekt dient.

[22] Vgl. Möllers: Paradise populated S. 263.

[23] Vgl. Ebd. S. 265. Hervorhebungen von mir, N. B.

[24] Vgl. Ebd. S. 241. „Zunehmend gilt [...] Marlowes Zorn und Verachtung allem, was er als „phony“ bezeichnet.“

[25] Vgl.http://maps.google.de/maps/mpl?ie=UTF&moduleurl=http://maps.google.com/mapfiles/mapplets/tourdefrance2008/tourdefrance2008_de.xml&ll=45.460131,1.208496&z=6&hl=de&layer=c Aufruf vom 22. 01. 2009, 17:21 MeZ.

[26] Vgl. Peter Körte : Geheimnisse des Tarantinoversums. Manie, Manierismus und das Quäntchen Quentin – Wege vom Videoladen zum Weltruhm. In: Robert Fischer, Peter Körte, Georg Seeßlen: film : 1 Quentin Tarantino, Berlin 2004, S. 22. Für Mahler übrigens zeigt sich gerade an literaruischen Texten über Los Angeles, Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 bspw., die Entwicklung der „Stadt zum All-Ort und zum Nicht-Ort [...]; sie verliert ihre Prototypik, ihre Semantik, ihre Spezifik, sie wird austauschbar.“ Vgl. Mahler: Stadttexte – Textstädte, S. 35.

[27] Vgl. Raymond Chandler: The Long Goodbye, New York 1992, S. 173. Alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im Folgenden in laufenden Text in Klammern vermerkt: (LG).

Fin de l'extrait de 40 pages

Résumé des informations

Titre
"Felipa Marlowe" - Untersuchungen zu Mobilität, Geschlechterbeziehungen und Sprache in Raymond Chandlers "The Little Sister" und Myriam Laurinis "Morena en rojo"
Université
Free University of Berlin
Auteur
Année
2009
Pages
40
N° de catalogue
V128263
ISBN (ebook)
9783640346806
ISBN (Livre)
9783640346608
Taille d'un fichier
611 KB
Langue
allemand
Mots clés
Felipa, Marlowe, Untersuchungen, Mobilität, Geschlechterbeziehungen, Sprache, Raymond, Chandlers, Little, Sister, Myriam, Laurinis, Morena
Citation du texte
Nicolai Bühnemann (Auteur), 2009, "Felipa Marlowe" - Untersuchungen zu Mobilität, Geschlechterbeziehungen und Sprache in Raymond Chandlers "The Little Sister" und Myriam Laurinis "Morena en rojo", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128263

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