Die Rollenkonzeptionen von Robert Merton und Erving Goffman

Eine vergleichende Untersuchung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

26 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Hinführung

2. Die Geschichte des Rollen-Begriffs in der Soziologie
2.1 Der Strukturansatz: Linton, Parsons, Merton
2.2 Der interaktionistische Ansatz: Mead, Turner, Goffman

3. Robert K. Mertons Soziologie
3.1 Der Rollen-Set
3.2 Mechanismen zur Integration der Rollen im Rollen-Set

4. Die Soziologie von Erving Goffman
4.1 Die soziale Rolle bei Erving Goffman
4.2 Rollendistanz
4.2.1 Ausdruck der Rollendistanz
4.2.2 Ursachen der Rollendistanz

5. Vergleich der sozialen Rolle von Merton und Goffman
5.1 Integration
5.2 Identität und Funktion

6. Synthese

7. Literatur

1. Hinführung

Die Rolle als soziologische Kategorie hat einen ebenso naheliegenden, wie auch undefinierten Charakter. Die Alltagssprache verwendet diesen Begriff in vielerlei Zusammenhängen von der kulinarischen Teigrolle über die sportliche Bodenrolle bis zur theatralischen Bühnenrolle. Allen Verwendungen wohnt aus etymologischer Sicht etwas „Rundes inne, was auf der Herkunft des Begriffes vom Lateinischen rotula für kleines Rad beruht (Coburn-Staege 1973: 9). Die umgangssprachliche Leichtigkeit des Begriffs macht es der sozialen Rolle schwer, sich als soziologischer Begriff eine theoretische Nische zu suchen, wie zum Beispiel die aus der Umgangssprache herausgelösten Fachtermini Norm, Sanktion oder Sozialisation.

Dabei ist das Prinzip, welches eine Rolle im sozialen Kontext ausfüllt, bereits in der Anfangsliteratur der Disziplin implizit erwähnt worden. So sprach Durkheim (König 1984) von einem äußeren Zwang, der von der Gesellschaft auf das Verhalten des Einzelnen wirkt. An die strukturelle Eingliederung des Subjekts in seine Umwelt, welche Durkheim beschrieb, knüpften in der Folge explizite Rollenkonzepte an.

Um die Aufnahme des Begriffs in die soziologische Terminologie machten sich eine überschaubare Anzahl von Soziologen verdient, die dem Konzept in gegenseitigem Rekurs ein Profil verliehen. Ohne die Geschichte der Rolle in der Soziologie aus Kapitel 2 vorwegnehmen zu wollen, legten Robert K. Merton und Erving Goffman sehr differenzierte und für die Folgeforschung fruchtbare Konzepte einer sozialen Rolle vor. Der Elaboration und dem Vergleich dieser Konzeptionen soll diese Arbeit gewidmet sein.

Eine umfassende Eingliederung von Merton und Goffman ist jedoch nicht möglich, ohne im besonderen auf einschlägige Vorarbeiten von Linton und Mead einzugehen. Der Sinnzusammenhang soll im zweiten Kapitel vorgestellt werden, bevor Merton und Goffman zunächst gesondert anhand ihrer Kernbegriffe Rollen-Set und Rollendistanz nachvollzogen werden. In der Integration und Synthese ihrer Ansätze werden a priorische Unterschiede in der Methodologie aufgezeigt und der Versuch unternommen, trotzdem Konvergenzen zu entdecken.

Insgesamt wäre dieses Thema in seinem Umfang einer ausführlicheren Betrachtung, als der vorliegenden, durchaus gewachsen. Jedoch ist der Anspruch dieser Arbeit die Rollenkonzeptionen von Merton und Goffman im Wesentlichen nachzuvollziehen und ineinander integrieren zu können.

2. Die Geschichte des Rollen-Begriffs in der Soziologie

Zunächst soll die Diskussion des Rollenbegriffs in ihrem geschichtlichem Verlauf beschrieben werden. Dazu werden vier Ansätze in ihrer Grundidee nachvollzogen, aus denen schließlich die zwei nachhaltigsten hervorgingen.

Die erste Erwähnung findet die soziale Rolle in ihrer sozialwissenschaftlichen Konnotation bei Ralph Linton in seinem Buch Study of Man (1936). Linton geht davon aus, dass eine Gesellschaft verschiedene Statusse[1], bereitstellt, die von Individuen besetzt und aktiviert werden. Der Status fungiert in diesem Sinne als ein sozialer Platzhalter, der für die ausfüllende Person Rechte und Pflichten mit sich bringt. Daraus ergeben sich Normen, welchen die Person gerecht zu werden hat, um die äußeren Erwartungen an diese Rolle zu erfüllen (Claessens 1974: 12).

Dieses klar strukturierte Modell basiert auf Lintons ethnografischen Erkenntnissen, wonach vorbürgerliche Gesellschaften im Vergleich zu modernen Gesellschaften einen geringeren Grad an sozialer Differenzierung aufweisen (Kerber, Schmieder 1991: 228).

Lintons linearem Paradigma steht die interaktionistische Sichtweise von George Herbert Mead entgegen, die er in Mind, Self and Society (1934 posthum) verfasste. Er sieht eine Rolle nicht als eine in der Gesellschaft verankerte Position an. Bei Mead entsteht eine Rolle insofern, als dass Individuen in der Interaktion ihr Verhalten gegenseitig stimulieren, und in der Abgrenzung zum Gegenüber ihre Rolle bestimmen. An der Antizipation des Verhaltens des Gegenüber als Reaktion auf das eigene Verhalten übernimmt der Handelnde die Rolle des anderen, um daran sein eigenes Handeln auszurichten. Der charakteristische Unterschied zu Linton ist, dass bei Mead die Rolle situativ entsteht und eine reflexive Reaktion darstellt. Dies ist die Annahme die Meads Theorem des role-taking zu Grunde liegt(Kerber, Schmieder 1991: 225f.).

Der dritte Impuls an die Rollendiskussion kam von Jacob Moreno in seinem Werk Who shall survive? (1934). Er weicht darin von Meads Konzept der Rollenübernahme ab und definiert eine Rolle nicht als Reaktion, sondern als eine aktive Kreation. Somit ist die Rolle kein fertiges Produkt, an das sich angepasst wird, sondern sie wird individuell auf spielerische Art und bewusst erzeugt (Claessens 1974: 15).

Damit grenzt sich Moreno in seiner Freiheit von Meads Ansatz ab. Wegen der starken Betonung des bewussten Rollen-Spiels bei Moreno, schreibt Turner (in Helle, Eisenstadt 1985: 23) diesem Ansatz einen eher therapeutischen Nutzen zu, da dieses Modell vielleicht nicht zu Erklärung von Alltagsverhalten ausreicht. Da Moreno jedoch von der Interaktion zwischen Individuen ausgeht und, dass die Rolle abhängig von der Situation erzeugt wird (Kerber, Schmieder 1991: 227.), ergeben sich Überschneidungen mit dem interaktionistischen Modell von Mead (ebd.: 23f.).

Zusätzlich zu diesen drei Ansätzen, die Claessens (1974) für die Initiation der Rollendiskussion verantwortlich zeichnet, erwähnt Turner noch die Gestalt-Theorie von Kurt Lewin (1948, 1951) als vierten Gründungsansatz (Turner in Helle, Eisenstadt 1985: 22).

Lewin kam aus der sozialpsychologischen Forschung und argumentiert vor diesem Hintergrund, dass das Handeln einer Person die Manifestation seiner latenten psychischen Konstitution auf sozialer Ebene ist. Diese Transformation der psychischen Prozesse geschieht mittels verinnerlichter Muster, die ein Individuum zu einer Gestalt im sozialen Kontext werden lassen (ebd.: 22f.).

Turner sieht Überschneidungen in der Gestalttheorie mit den Sichtweisen von Linton und Mead. Zum einen herrschen mit Linton Konvergenzen dahingehend, dass an die Rechte und Pflichten die einer Rolle immanent sind, gewisse Erwartungen von außen herangetragen werden. Diese Erwartungen greift Lewin durch die in der Person integrierten Muster auf und weicht Lintons starres Konzept insofern etwas auf, dass Lewin einen individuellen Spielraum lässt (ebd. 23). In diesem Punkt ergeben sich bei Lewin fundamentale Übereinstimmungen mit dem Ansatz von Mead. Beiden Sichtweisen liegt zu Grunde, dass Verhalten durch individuelle Voraussetzungen und nicht ausschließlich durch äußere Erwartungen erzeugt wird (ebd.). Insofern geht bei Turner die Gestalttheorie in Teilen sowohl in der strukturalen Denkrichtung von Linton als auch in der kommunikativen von Mead auf.

In der Folge haben sich aus den vier Strömungen die zwei Hauptrichtungen des Strukturalismus und des Interaktionismus herauskristallisiert (ebd.). Im Fortgang der Rollendiskussion bildeten Lintons Strukturmodell und Meads Interaktionsansatz den Ausgangspunkt für weitere theoretische Arbeiten.

Ohne etwas vorweg nehmen zu wollen, bauten Merton und Goffman jeweils in Teilen ihre Rollenkonzeptionen auf den Vorarbeiten von Linton und Mead auf, und entwickelten auf dieser Basis ihre eigenen Paradigmen.

Um Merton und Goffman umfassend verstehen zu können, soll im folgenden Kapitel noch einmal dezidiert auf Lintons und Meads Ansätze eingegangen werden.

Während Merton in Lintons Folge gestellt und Goffman aus Mead deduziert wird, so wird sich im Verlauf der Untersuchung herausstellen, dass diese Linearität nur bedingt zutrifft.

2.1 Der Strukturansatz: Linton, Parsons, Merton

Linton betrachtet seinen Gesellschaftsbegriff als ein System, das mit einem Geist, seiner Kultur versehen ist. Das Individuum, das dieses System substantiell konstituiert, spielt in der Weiterentwicklung des Systems keine weisende Rolle. Damit entspricht Linton ganz der grundsoziologischen Annahme, dass die Gesellschaft „mehr als die Summe seiner Teile [ist]“ (Kerber, Schmieder 1991: 225f.). Die Kultur einer Gesellschaft ist in ihrem ganzen Umfang für das Individuum nicht direkt erfahrbar, jedoch repräsentiert der Einzelne in seinen Handlungen Ausschnitte der Kultur, in der er sozialisiert wurde (Hartmann 1973: 310).

Die Ausschnitte, in denen das Individuum in seiner Trägergesellschaft agiert sind bei Linton verschiedene Statusse die von der Gesellschaft vorgegeben werden und welche vom Individuum ausgefüllt werden. In der Semantik des Status ist bereits impliziert, dass es sich in deren Summe um ein statisches Geflecht handelt. Konkret bedeutet der Status die Verortung eines Individuums im Alters-Geschlecht-System seiner Gesellschaft oder die Position in seinem Freundes- und Verwandtschaftsgefüge. Hierbei setzt Linton den Status-Begriff mit der gesellschaftlichen Position gleich, worauf jedoch Claessens in Bezug auf Newcomb (1974: 17) anfügt, dass Status eher eine hierarchische Wertschätzung repräsentiert, wogegen die Position mehr funktional zu verstehen sei. Linton dagegen verwendet die Begriffe in der funktionalen Konnotation äquivalent (Kerber, Schmieder 1991: 229).

Der Status wird nun durch ein Individuum besetzt und somit aktiviert. In der Form wie das Individuum den Status auslebt, nimmt es eine Rolle in der Gesellschaft ein. Dadurch bekommt das starre Status-System eine Dynamik.

Status und Rolle werden also von Linton getrennt voneinander betrachtet. Diese beiden Einheiten werden jedoch verbunden durch Normen und Erwartungen, die die Gesamtheit der kulturellen Muster wiedergeben, die an den jeweiligen Status geknüpft sind. So werden zum Beispiel an die Rolle der Frau und des Mannes in einer bestimmten Gesellschaft auch bestimmte Verhaltenserwartungen herangetragen (Hartmann 1973: 310). Diese Erwartungen werden durch die Individuen aktiviert, können jedoch nicht beeinflusst werden (Kerber, Schmieder 1991: 229). Damit ist der Einzelne lediglich ein Medium, das funktional agiert, um Normen darzustellen.

Diesem normativen Anspruch der Rollenerfüllung folgt das Individuum nach Linton jederzeit, da es unabhängig von seinem Handeln in der Situation immer einem gewissen Status entspricht. Wird zum Beispiel einer Person der Eintritt in eine Gruppe und damit der Status der Zugehörigkeit zu der Gruppe verweigert, so gehört er den Außenseitern an, die wiederum einen Status herausbilden (Hartmann 1973: 311).

In einer differenzierten Gesellschaft, wechselt nun ein Individuum stets seinen Status, so dass eine Frau zum Beispiel vormittags Krankenschwester und nachmittags Mutter ist. An beide Rollen sind bestimmte, institutionelle Rechte und Pflichten geknüpft, die sich jedoch nicht überschneiden können. Dies passiert nicht, weil zu einem Zeitpunkt jeweils nur ein Status aktiv sein kann, der andere ist zu diesem Zeitpunkt latent (ebd.: 312f.). Je nach Erforderlichkeit kann jederzeit der Status gewechselt werden. Mit der Wiederholung der Rollenmuster ergibt sich eine Routine in der Ausübung, so dass Rollenkonflikte verhindert werden können (ebd.: 313).

Die Erklärung Lintons, dass Rollenkonflikte vermieden werden können, indem durch das Versuch und Irrtums - Schema die Varianzen innerhalb einer Rolle ausgelotet werden können(ebd.: 314), schließt nicht explizit aus, dass es durchaus Rollenkonflikte geben kann. Die seltenen Fälle, in denen Rollenkonflikte entstehen, erklärt Linton dann wiederum mit dem geschilderten Mechanismus des Statuswechsels (ebd.). An dieser Stelle knüpft Talcott Parsons (1937[2] ) an, und sucht nach der Lösung des Problems, welche Motivation die Akteure eines sozialen Systems zu konformem Handeln in einer Rolle treibt.

Unter der Voraussetzung, dass Handlungen einem bestimmten normativen Anspruch folgen, muss beim Handlenden die Motivation internalisiert sein, dem normativen Anspruch moralisch gerecht zu werden. Daraus leitet sich ab, dass bei Parsons die Handlung zum einen eine bedürfnisgeleitete Funktion seitens des Akteurs erfüllt, zum anderen in ihrem Ausmaß jedoch von Maximen begrenzt wird, die das soziale System mittels Kultur vorgibt. Diese systemischen Leitlinien manifestieren sich durch Werte und Symbole (Kerber, Schmieder 1991: 232).

Damit stehen die Pole des Handelns fest: das individuelle Bedürfnis als Handlungsmotivator und die gesellschaftliche Norm als Handlungsregulator. Indem sich beide wechselseitig ineinander integrieren, entsteht die Lösung für die Ordnung im sozialen System. Das kulturelle System wird in das Persönlichkeitssystem des Akteurs internalisiert und die Bedürfnisse werden im sozialen System institutionalisiert. Der Idealfall liegt in der Deckungsgleichheit der „institutionalisierten Verhaltenserwartungen einerseits [...und der...] Bedürfnisse und Interessen der Handelnden andererseits“ (ebd.: 233).

Die Überschneidung der beiden Systeme nennt Parsons in Anlehnung an Lintons Status und Rolle. Status beschreibt hier den strukturellen Aspekt der Institutionalisierung und Rolle den funktionalen der Internalisierung. Beide Systemteile haben jedoch das gleiche Gewicht (ebd.).

Nach der analytischen Beschreibung der Rolle und dem Integrationsproblem derselben, welches Parsons beschrieb, rückte mit der empirischen Untersuchungen zur Rollentheorie das Problem des Rollenkonfliktes in den Fokus der Forschung (ebd.: 234f.). In diesem Punkt zeigt sich, dass Parsons eine, im Vergleich zu Linton elaboriertere, aber in der Logik vergleichbare Auffassung hatte. Er sah einen Rollenkonflikt dadurch gelöst, dass in Abhängigkeit vom jeweiligen Bedürfnis eine klare Rollenentscheidung getroffen wird (Joas 1982: 151).

[...]


[1] Plural zu Status (Claessens 1974: 16)

[2] vgl. Kerber, Schmieder 1991: 230

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Rollenkonzeptionen von Robert Merton und Erving Goffman
Untertitel
Eine vergleichende Untersuchung
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie)
Veranstaltung
Hauptseminar Soziologische Strukturkonzepte
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
26
Katalognummer
V128640
ISBN (eBook)
9783640353132
ISBN (Buch)
9783640353026
Dateigröße
527 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rollenkonzeptionen, Robert, Merton, Erving, Goffman, Eine, Untersuchung
Arbeit zitieren
Eric Placzeck (Autor:in), 2009, Die Rollenkonzeptionen von Robert Merton und Erving Goffman , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128640

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