Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sokratische Frage und sokratischer Dialog
3. Sokrates Erkenntnistheorie – Anamnesis und Mäeutik
4. Hypothesisverfahren
5. Zusammenfassung
6. Literatur
1. Einleitung
Im Menon entwickelt Platon einen Dialog zwischen seinem Lehrer Sokrates und dem Sophistenschüler Menon. Wie auch im „Protagoras“ steht die Frage nach dem Wesen der Tugend im Mittelpunkt des Gesprächs. Anhand dieses Dialogs lassen sich wichtige Methoden und Aspekte der sokratischen Philosophie aufzeigen: der sokratische Dialog, die sokratische Erkenntnistheorie und das Hypothesisverfahren.
Ziel dieser Hausarbeit wird es sein, diese wesentlichen Punkte herauszuarbeiten. Es werden also folgende Fragen gestellt: Durch welche Methode gelangt man zur Erkenntnis? Wie ist Erkenntnis überhaupt möglich?
Inwiefern die im Menon deutlich werdenden philosophischen Positionen dem historischen Sokrates zugeschrieben werden können oder vielmehr Ausdruck der Gedankenwelt Platons sind, ist in der Literatur umstritten. Charles H. Kahn weist ebenfalls auf die Problematik der sich widersprechenden Standpunkte des Sokrates in den sokratischen Dialogen Platons hin.[1] In dieser Hausarbeit sollen aber nur die im Menon vertretenen Positionen erläutert werden, daher finden diese Forschungsfragen zwar Erwähnung, auf sie kann aber nicht gesondert eingegangen werden.
2. Sokratische Frage und sokratischer Dialog
Am Anfang des Dialogs steht eine Frage, die der Schüler des Sophisten Gorgias, Menon, an Sokrates richtet: „Sokrates, kannst du mir sagen, ob man Gutsein lehren kann?“[2] Die Antwort ist gleichzeitig eine Aufforderung an Menon: Er, Sokrates, wisse nicht, was Gutsein überhaupt sei, und somit könne er auch die Frage nach der Lehrbarkeit nicht beantworten. Darüber hinaus kenne er auch niemanden sonst, der wisse, was Gutsein sei, Menon könne es ihm doch aber bestimmt erklären. Mit diesen Eingangssätzen ist die Grundfrage des Dialogs gestellt: Was ist das Wesen von Gutsein? Der Begriff „Gutsein“ ist hier gleichbedeutend mit „Tugend“ und wird im Sinn des griechischen Begriffs „areté“ gebraucht. Die Areté bezeichnet die Tüchtigkeit und Nützlichkeit des Bürgers der Polis und wird von Sokrates während des Gesprächs mit Menon um moralische Aspekte, also Handeln mit Gerechtigkeit und Besonnenheit, erweitert.[3]
Sokrates und Menon haben zu Beginn des Dialogs verschiedene Erwartungen und Motivationen: Menon steht in der sophistischen Tradition und ist vordergründig daran interessiert, eine rhetorisch brilliante Argumentation zu der gestellten Frage zu hören und dann möglicherweise auch seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er geht dabei von einem nicht weiter hinterfragten Begriff von Tugend aus, er hat eine ganz allgemeine Vorstellung davon, was der Begriff fasst, und eine Reflexion über den Begriff selbst erscheint ihm weder notwendig zu sein noch liegt sie in seinem eigentlichen Interesse. Sokrates hingegen hat wenig Interesse an einem Gespräch, welches die inhaltliche Schärfe zugunsten einer beeindruckenden Rhetorik vernachlässigt. Die kritische Position Sokrates wie auch Platons selbst zu den Sophisten, die vorgaben, auf jede Frage eine Antwort zu haben und die in ihren öffentlichen Reden vor allem Wert auf eine perfekte Rhetorik legten, wird in mehreren Dialogen Platons deutlich.[4]
Die beherrschende Frage in Sokrates Denken ist die nach dem Wesen der Dinge. In der „Metaphysik“ schreibt Aristoteles über Sokrates, dass er der erste war, der seine Überlegungen auf Definitionen richtete.[5] Die „Was-ist-Frage“[6] richtet sich also darauf, eine gültige Definition von Gerechtsein, Gutsein, Tapfersein und anderen moralischen Begriffen zu finden, um so allgemeingültige Maßstäbe zur Bewertung von Handlungen aufstellen zu können, nach denen sich die Bürger der Polis richten können. Laut Sokrates wird jemand, der weiß, was tugendhaftes Handeln ist, seinem Wissen folgen und tugendhaft handeln. Gerade wegen dieser Auffassung ist die Erkenntnis um das Wesen der Dinge für ihn von so großer Bedeutung. Die Methode, mit der Sokrates versucht, einer Antwort näher zu kommen, ist die des Dialogs.
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[1] Kahn, S. 36.
[2] Platon: Menon. S. 5 (70a).
[3] Platon: Menon. S. 29 (78d).
[4] Beispielsweise im „Gorgias“ oder im „Euthydemos“.
[5] Aristoteles: Metaphysik. 987b.
[6] Diese Formulierung findet sich bei: Platon: Menon. S. 108 (Anhang).