Gesellschaftliche Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem

Enstehung, Fortentwicklung und gegenwärtige Bedeutung von Cleavage-Strukturen für das Parteiensystem der BRD


Dossier / Travail de Séminaire, 2008

36 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung

2. Der theoretische Rahmen des Cleavage-Modells

3. Entstehung und Verfestigung der gesellschaftlichen Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem
3.1. Die Konstituierungsphase im Kaiserreich

4. Die Entwicklung der Konfliktlinien in der Bundesrepublik
4.1. Sozialstruktureller Wandel und Erosion sozialmoralischer Milieus. Die Transformation der Konfliktstrukturen
4.2. Die Ausprägung einer neuen Konfliktlinie im Parteiensystem

5. Fortentwicklung und Prägekraft klassischer Konfliktlinien im gesamtdeutschen Parteiensystem
5.1. Die Renaissance der Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital sowie Zentrum und Peripherie

6. Fazit und Ausblick

7. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Die vier Konfliktlinien nach Lipset und Rokkan

Abb. 2: CDU/ CSU Anteile unter den Katholiken bei den Bundestagswahlen 1976- 2005 (Auswahl Westdeutschland in Prozent)

Abb. 3: SPD Anteile unter den Arbeitern bei den Bundestagswahlen 1976-2005 (Auswahl Westdeutschland in Prozent)

Abb. 4: Die Verortung der neuen postindustriellen Konfliktlinie im Parteiensystem

1. Einleitung und Fragestellung

Parteiensysteme sind weit mehr als reine Abbildungen und Darstellungen politischer Diskurse auf Regierungsebene. Sie stehen vielmehr in mannigfaltigen Abhängigkeiten und Beziehungen zu den ökonomischen, kulturellen und sozialen Eigenheiten eines Landes. Parteiensysteme spiegeln Konflikte wider, die über Jahrhunderte den gesellschaftlichen und politischen Rahmen dominiert und sich langfristig im politischen System institutionalisiert haben. Gerade diese mentalitätsprägenden, meistens im vorpolitischen Raum gelegenen gesellschaftlichen Konfliktlinien konnten dauerhaft für die für Parteien so signifikanten elektoralen und mitgliederbezogenen Kontinuitäten sorgen, die auf Basis der Politisierung dieser Konflikte entstanden.

Ob es in den Niederlanden die strikt getrennten religiösen und sozialdemokratischen Säulen, die in Österreich antagonistisch gegenüberstehenden und militanten Lager oder wie in Deutschland die durch den Außendruck der Mehrheitsgesellschaft entstandenen katholischen und sozialdemokratischen Milieus waren1, alle subkulturellen Ausformungen basierten doch auf tiefgreifenden und emotional überformten gesellschaftlichen Konfliktlinien, die bestimmte Gruppen sowie Klassen politisch aktivieren und langfristig an eine Partei binden konnten.2

Westliche Parteiensysteme beruhen insofern größtenteils auf gesellschaftlichen Konfliktstrukturen, hängen aber auch zugleich mit den historischen Grundentscheidungen und strategischen Ausrichtungen der jeweiligen Parteieliten zusammen. Gesellschaftliche Konflikte können sich folglich nicht selbst in ein Parteiensystem übersetzen, sondern bedürfen auch Artikulierungs- und Vermittlungsmechanismen sowie politischer Koalitionen zwischen politischen Eliten und bestimmten Bevölkerungsgruppen.3 Politischen Eliten kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, weil sie die Konflikte direkt in den politischen Raum übertragen können. Gesellschaftliche Konfliktlinien stellen nach Rohe demzufolge keinen parteiprägenden Automatismus, sondern „nur Chancen dar, die von den politischen Eliten wahrgenommen werden können, aber nicht wahrgenommen werden müssen.“4 Daher bedarf es bei der Betrachtung von Genese und Fortentwicklung von Parteiensystemen auch immer der Untersuchung der jeweiligen länderspezifischen institutionellen Rahmenbedingungen, der akteurszentrierten Beobachtung politischer Eliten sowie der Strukturen des politischen Wettbewerbs, die gesellschaftliche Konflikte im vorpolitischen Raum erst in ein Parteiensystem übersetzen und dauerhaft festigen.5

Als vergleichendes makrosoziologisches Rahmenmodell hat vor allem die Cleavage- Theorie von Lipset und Rokkan die Entstehungsstrukturen sowie Entwicklungstendenzen der westlichen Parteiensysteme auf Basis der gesellschaftlichen Konfliktlinien mit der Mobilisierungsfähigkeit politischer Eliten verknüpft. Anhand von vier zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinien versuchen die Autoren dabei die Ausdifferenzierung und Entstehung nationaler Parteiensysteme im Transformationsprozess der industriellen und nationalen Revolution zu erklären.6 Im Zuge ihrer vergleichenden Untersuchungen stellten die beiden Autoren die These auf, dass die Hauptkonfliktlinien der 1960er Jahre und damit auch die ausgeformten Parteiensysteme größtenteils die cleavages7 der 1920er Jahre widerspiegelten und begründeten damit den Begriff des „frozen party system“.8

In der vorliegenden Arbeit sollen dabei auf Basis dieses Ansatzes die Entstehung und Fortentwicklung der gesellschaftlichen Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem untersucht werden. Zuerst wird versucht einen allgemeinen theoretischen Rahmen zu geben, der auf die terminologische Konzeptionen und Erklärungsmuster des Cleavage-Modells zurückgreift und diese auf die deutsche historische Parteienformierung anwendet. Hierbei stehen unter anderem die Demokratisierungs- und Modernisierungstendenzen im Vordergrund der Betrachtung. In einem zweiten Schritt soll die Entwicklung von historischen und neuen Konfliktlinien im Parteiensystem der Bundesrepublik diskutiert werden. Dies scheint vor allem aufgrund der veränderten Sozialstruktur und der damit verbundenen Auflösung der früheren prägenden sozialmoralischen Milieu- und Klassenstrukturen9 sowie der Abschwächung der Parteibindungen angemessen. Der dritte Abschnitt behandelt dabei die Frage nach der gegenwärtigen Prägekraft und Renaissance klassischer Konfliktlinien im Parteiensystem. Die Analyse der gesellschaftlichen Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem soll dabei primär die Konstituierungsphase im Kaiserreich und die gesamtdeutschen Entwicklungen und Tendenzen nach 1945 näher erfassen.10 Im Zentrum dieser Arbeit steht gleichwohl die Frage nach der Entstehung, Prägekraft und Bedeutung alter und neuer gesellschaftlichen Konflikte für das gegenwärtige Parteiensystem in Deutschland.

2. Der theoretische Rahmen des Cleavage-Modells

Das Cleavage-Modell versucht im Kern die Grundstrukturen der Parteiensysteme in Europa auf vier zentrale Konfliktlinien zurückzuführen, die sich im Laufe des Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesses der jeweiligen Gesellschaften verfestigt und das Parteiensystem inständig geprägt haben. Westliche Parteiensysteme spiegeln somit politisch-kulturelle Basiskonflikte wieder, die in der Sozialstruktur verankert und einer langfristigen Politisierung ausgesetzt waren.

Zwei dieser Konfliktstrukturen sind direkte Produkte der „Nationalen Revolution“, die im Zuge der Bildung eines nationalen Zentrums und einer etablierten Mehrheitskultur entstanden. Dabei kristallisierten sich zwischen dem nationalen und kulturellen Gravitationszentrum sowie deren Eliten und der regionalen Peripherie eines Landes ethnische, sprachliche und religiöse Spannungen heraus, die den Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie begründeten.11 Die Nationswerdung und die Erhöhung der zentralistischen, mobilisierenden Stellung des Staates hatten jedoch noch weitreichendere Folgen. Seit der Französischen Revolution intensivierten sich die Spannungen zwischen säkularem Nationalstaat und der - zumeist katholischen - Kirche als Hüterin der übernationalen Traditionen und historischer Privilegien.12 Es entstand die Konfliktlinie Staat-Kirche. Zwei weitere cleavages resultieren aus der „Industriellen Revolution“, die sich im Laufe des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses der westlichen Gesellschaften entfalten. Im Zuge der Industrialisierung divergieren nicht nur Interessen und Lebensmuster zwischen ländlich- agrarischen und städtisch-industriellen Vorstellungen, die den Konflikt Stadt-Land entfachen. Es wurden vielmehr die Gegensätze zwischen den auf der einen Seite größtenteils in Städten abhängigen, proletarischen Lohnbeschäftigten und den Eigentümern sowie Arbeitgebern auf der anderen Seite verstärkt, die unter dem Konflikt Arbeit-Kapital zu fassen sind.

Abbildung 1: Die vier Konfliktlinien nach Lipset und Rokkan

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Stein Rokkan, Eine Familie von Modellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 9, Heft 2 (1980), S. 118-128, hier S. 121.

Diese vier zentralen Konfliktlinien sind für Lipset und Rokkan in allen untersuchten europäischen Parteiensystemen über die Zeit wiederzufinden und haben prägende Kraft auf das sich konstituierende Parteiensystem ausgeübt, obwohl die Ungleichzeitigkeiten von Nations- und Staatsbildung sowie der Zeitpunkt der Industrialisierung weitere Erklärungsvariable für die Ausdifferenzierung der europäischen Parteiensysteme darstellen. Alle Spaltungslinien verkörpern doch ein gewisses Protest- und Mobilisierungsverhalten gegenüber den etablierten dominant nationalen, ethnischen und kulturellen Eliten. Wie schon angeklungen können sich diese Konfliktlinien aber nicht direkt in ein Parteiensystem übersetzen. Nach Lipset und Rokkan hängt der Institutionalisierungs- und Übersetzungsprozess gesellschaftlicher Konflikte von vier Schwellen („thresholds“) ab, die je nach Land unterschiedliche Intensitäten, Wirkungen und Hürden aufweisen.13

Als erste Schwelle nennen die beiden Autoren die Legitimität, also inwieweit kann politischer Protest gegenüber der Obrigkeit eingebracht werden und in welchem Maß wird Protest abgelehnt. Zweitens wird die Schwelle der Inkorporation dargestellt. Hierbei handelt es sich um das Ausmaß der Akzeptanz und der Gewährung von Rechten von Repräsentanten des Protests im Vergleich zu den mehrheitsgesellschaftlichen Eliten. Die dritte Schwelle stellt die Repräsentation des Protests dar. Dabei stellt sich die Frage, ob sich der politische Widerstreit allein organisatorisch verfestigen und politisch institutionalisieren kann, oder ob es einer Kooperation mit einer älteren Bewegung bedarf. Als letzte Schwelle ist zudem noch die Mehrheitsstärke aufzuführen. Hier wird thematisiert, inwieweit die Wahlmehrheit aufgrund des Wahlsystems ihre Stärke auch im politischen System elektoral repräsentieren und zu politischen Veränderungen beitragen kann.14

Zudem bezieht das Cleavage-Modell auch Überlagerungen und kulturelle Überlappungen der gesellschaftlichen Konfliktstrukturen mit ein und verweist somit deutlich auf die Prägungskraft früherer Spaltungen, die auch maßgeblich die Bedeutung späterer Konfliktlinien mitgestalten können. Wie Lipset und Rokkan in ihrem Modell darstellen, betont auch Mielke in seinem Beitrag zu der Ausprägung gesellschaftlicher Konfliktlinien in Deutschland die kulturelle Dimension und akzentuiert, dass „vor allem eine kulturelle Überformung der cleavages […] bei genauerer Betrachtung die entscheidende Voraussetzung für eine längerfristige stabile Bindung von Individuen an politische Strömungen und Parteien“15 darstellen. Bezüglich des Wechselspiels und der Prägekraft der Konfliktlinien argumentieren Lipset und Rokkan, dass die ersten drei cleavages und insbesondere die Interaktion zwischen den “center-periphery“, state-church, and land-industry cleavages“16 die Ausgangssituationen für die Arbeiterparteien und die Ausgestaltung des Parteiensystems weit mehr ausgeprägt hätten als die spätere Konfliktlinie Arbeit-Kapital. Neben der Entstehungszeit von Spaltungslinien spielen somit auch Cleavage-Überlagerungen, kulturelle Überformungen und wechselseitige Verstärkungen von Konfliktlinien eine beachtliche Rolle. Diese Bedeutsamkeit politischer Spaltungsstrukturen scheint in der späteren Analyse nicht nur aufgrund der regionalen, politischen Traditionen und föderalen Struktur Deutschlands eine zentrale Rolle zu spielen.

Das Cleavage-Modell bietet darüber hinaus den Vorteil, dass es durch die Betonung der Interdependenzen zwischen Sozialstruktur, gesellschaftlichen Konflikten und dem Handeln politischer Eliten einen theoretischen Rahmen schafft, der auch rückbezüglich auf Veränderungen der Sozialstruktur Erklärungsansätze für Veränderungen im Parteiensystem bieten kann. Daneben rückt ein heuristisches Verständnis des Cleavage-Modells zusätzlich die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutsamkeit sowie Intensität historischer Konfliktlinien in den Vordergrund. Als besonders hilfreiches Konzept für derartige Analysen von Parteiensystemen ist dabei das enthistorisierte Verständnis des Cleavage-Modells von Mielke anzusehen, der die Konfliktmuster aus ihren geschichtlichen, epochenprägenden Rahmen herauslöst und auf generelle Konfliktmuster, wie Modernisierung vs. Traditionalismus, Säkularismus vs. Religiosität sowie Privilegierte vs. Nicht-Privilegierte überträgt.17 Auch hierbei steht gleichwohl wieder die Frage im Zentrum, inwieweit kulturelle und ökonomische Spannungslinien sich überlagern und somit zusätzlich für gefestigte Konfliktlinien sorgen, die sich wiederum durch Eliten politisiert im Parteiensystem niederschlagen.

Insgesamt scheint somit das Cleavage-Modell einen brauchbaren Rahmen darzustellen, die Genese, Institutionalisierung und Fortentwicklung von Spannungslinien in Parteiensystemen nachzuzeichnen und mögliche Folgerungen bezüglich der gegenwärtigen Relevanz jener cleavages für die Parteien zu entwerfen. Trotz des generalisierenden makro-soziologischen Anspruchs der Cleavage-Theorie vermag dieses Analyseraster auch besonders für die deutschen gesellschaftlichen Entwicklungslinien, Bedingungen und Herausforderungen im deutschen Parteiensystem zu sensibilisieren, die im folgenden Kapitel nun erläutert werden sollen.

3. Entstehung und Verfestigung der gesellschaftlichen Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem

Das deutsche Parteiensystem stellt ein Musterbeispiel für Überlagerungen und kulturelle Überformungen von gesellschaftlichen Konfliktlinien dar. Dies ist vor allem auf die fast zeitgleich aufkommende nationale und industrielle Revolution sowie die Eingliederung von Minderheiten in den Nationalstaat zurückzuführen. Dadurch ergab sich für die Schwellenzeit der politischen Akkumulation gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein mehrdimensionales Konfliktmuster. In dem sich abzeichnenden Parteiensystem scheint es demnach schwierig, die einzelnen auftretenden Spannungslinien getrennt voneinander zu behandeln, weil bestimmte Oppositions- und Koalitionsstrukturen sich auch prägend auf die Ausdifferenzierung sowie Intensität der Konfliktlinien auswirkten und die aufkommenden Parteien folglich nicht stringent nur einer Spannungslinien zuzurechnen sind.

3.1. Die Konstituierungsphase im Kaiserreich

Als Basiskonflikt der Nationswerdung prägte vor allem „die deutsche Frage“ nachhaltig den Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Spannungslinie umfasste die Frage, ob sich Deutschland unter preußischer Führung einem kleindeutschen Modell oder einem großdeutschen Bund unter Einschluss Österreichs nähern sollte.18 Die preußisch agrarischen Großgrundbesitzer forcierten dabei eine kleindeutsche Lösung zugunsten eines protestantisch- monarchischen Preußentums, das ihnen weiterhin die standesrechtlichen Privilegien sichern und jegliche gesellschaftlich sowie politisch begründeten Veränderungen verhindern sollte.19 Zum einen standen die ostelbischen Junker somit diametral zu den Vorstellungen der sich zumeist in Süddeutschland und im Westen Deutschlands befindenden katholischen Bevölkerungsgruppen, die eine großdeutsche Lösung befürworteten, um nicht in eine konfessionelle Minoritätsposition zu geraten. Folglich dominierte bei dem Konflikt zwischen preußisch dominiertem kulturellem Zentrum und südlicher Peripherie nicht nur die Konfliktlinie der nationalen Frage, sondern auch vielmehr die Spannungslinie zwischen Staat und Kirche, die sich in diesem Falle aber als Gegensatz zwischen romhörigem, traditionellen Katholizismus und rational preußisch-protestantischen Staat darstellte.20 Darüber hinaus umfasste das Konfliktmuster Zentrum-Peripherie jedoch nicht nur die nach der kleindeutschen Lösung benachteiligten Katholiken, sondern auch weitere nationale Minderheiten, wie Polen, Dänen Welfen und Elsässer, die sich gegen den preußisch dominierten Nationalstaat wandten.21 Insgesamt lässt sich die Konfliktlinie Zentrum vs. Peripherie somit nur in abgewandelter Form als Erklärungsmuster für ein parteiprägendes Konfliktmuster zu Rate ziehen. Im Vergleich zu den schon frühen zentralistisch ausgerichteten Staaten Frankreich, Spanien und Italien und deren Konzentration auf die Hauptsstadtregionen blieb dieses Konfliktmuster im historisch, föderal gegliederten Deutschland unterentwickelt.22

Auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land hat in Deutschland weit weniger Prägekraft entfaltet als zunächst vermutet werden kann. Diese Konfliktlinie ebnete sich nach ersten Spannungen zwischen städtischen Liberalen und agrarischen, ländlichen Junkern und den damit verbundenen divergierenden Lebensmuster einer demokratischen Modernisierung gegenüber einem ständischen traditionsverhafteten Konservatismus ein. Der gesellschaftliche Konflikt zwischen Stadt und Land war darüber hinaus nicht so bedeutend, weil sich Liberale und Konservative beide unter dem Dach der mehrheitlich protestantischen Nation zusammenfinden und gegenüber den „reichsfeindlichen“ Katholiken sowie der sich formierenden Arbeiterschaft als Träger des kulturellen und ökonomischen Gravitationszentrums abgrenzen konnten. Entscheidend dürfte aber auch hier die Zerrissenheit des Liberalismus gewesen sein, der nach seinem eigentlichen Ziel - der Nationsgründung - und der aufkommenden industriellen Revolution zwischen expansivem Preußentum, protektionistischem Wirtschaftsbürgertum und dem auf Freihandel ausgerichteten Linksliberalismus zerrieben wurde.23 Speziell der Nationalliberalen näherten sich nach der Nationsgründung den preußischen Konservativen weiter an.

[...]


1 Vgl. beispielhaft zum katholischen Milieu in Österreich, Niederlande und Deutschland, Franz Walter, Katholisches Milieu und politischer Katholizismus in säkularisierten Gesellschaften: Deutschland, Österreich und die Niederlande im Vergleich, in: Franz Walter, Tobias Dürr (Hrsg.): Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft. Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich, Opladen 1999, S. 43-71.

2 Vgl. Ulrich Eith, Zur Ausprägung des politischen Wettbewerbs in entwickelten Demokratien. Zwischen gesellschaftlichen Konflikten und dem Handeln politischer Eliten, in: Ulrich Eith, Gerd Mielke (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder und Regionalstudien, Opladen 2001, S. 17-33, hier S. 17.

3 Vgl. Karl Rohe, Entwicklungen der politischen Parteien und Parteiensysteme in Deutschland bis zum Jahre 1933, in: Oscar Gabriel, Oskar Niedermayer, Richard Stöss (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, 2.Aufl., Bonn 2002, S. 39-58, hier S. 40.

4 Ebd., S. 40.

5 Vgl. Ulrich Eith, Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme: Möglichkeiten und Grenzen eines überregionalen Vergleichs, in: Ulrich Eith, Gerd Mielke (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder und Regionalstudien, Opladen 2001, S. 322-335, hier S. 322.

6 Vgl. Martin S. Lipset, Stein Rokkan, Party systems and Voter Alignments: An Introduction, in: Martin S. Lipset, Stein Rokkan (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives, New York, S. 1-64.

7 Cleavages werden hierbei im Sinne Franz U. Pappis verstanden, der cleavages als „dauerhafte politische Konflikte, die in der Sozialstruktur verankert sind und im Parteiensystem ihren Ausdruck finden“ definierte. Franz U. Pappi, Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierung und Wahlabsicht. Ergebnisse eines Vergleichs des deutschen Elektorats 1953 und 1976, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 18 (1977), S. 195. Der Begriff cleavage wird in dieser Arbeit synonym für gesellschaftliche Konfliktlinien und Spannungslinien verwendet.

8 Vgl. Lipset, Rokkan (wie Anm. 6), S. 50

9 Sozialmoralisches Milieu wird dabei im Sinne von Lepsius aufgefasst. Er definierte diesen Begriff für das deutsche Parteiensystem des 19. Jahrhunderts als „[…] Bezeichnung sozialer Einheit, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet […]“ wird. Rainer M. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80, hier S. 68.

10 Das ostdeutsche Parteiensystem wird dabei erst ab 1990 eine bedeutende Rolle in dieser Ausarbeitung spielen.

11 Vgl. Lipset, Rokkan (wie Anm. 6), S. 14.

12 Vgl. Gerd Mielke, Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan, in: Ulrich Eith, Gerd Mielke (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder und Regionalstudien, Opladen 2001, S. 77-94, hier S. 78.

13 Vgl. Lipset, Rokkan (wie Anm. 6), S. 26f.

14 Vgl. Ebd., S. 27.

15 Mielke (wie Anm. 12), S. 78.

16 Lipset, Rokkan (wie Anm. 6), S. 35.

17 Vgl. Mielke (wie Anm. 12), S. 80.

18 Vgl. hierzu genauer Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 778ff.

19 Vgl. Richard Stöss, Entstehung und Entwicklung des deutschen Parteiensystems 1933, in: Dietrich Staritz (Hrsg.): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1976, S. 24.

20 Ähnlich argumentiert auch Best, der vor allem darauf verweist, „dass der großdeutsch-kleindeutsche Konflikt eine konfessionelle Komponente hatte“. Heinrich Best, Politische Regionen in Deutschland: Historische (Dis-) Kontinuitäten, in: Dieter Oberndörfer, Karl Schmitt (Hrsg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 39-64, hier S. 55.

21 Vgl. Gerhard A. Ritter, The Social Base of the German Parties, in: Karl Rohe (Hrsg.): Elections, Parties and Political Traditions, Social Foundations of German Parties and Party Systems, 1867-1987, Oxford 1990, S. 27.52, hier S. 31.

22 Vgl. Hans-Georg Wehling, Föderalismus und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Herbert Schneider, Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Landespolitik in Deutschland, Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, S. 87-107, hier S. 99.

23 Vgl. zum Wandel des Liberalismus, Heinrich August Winkler, Vom linken zum rechten Liberalismus, Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 5-28. Vgl. auch zu der organisatorischen Schwäche und zu den Spaltungen des Liberalismus, Peter Lösche, Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993, S. 48.

Fin de l'extrait de 36 pages

Résumé des informations

Titre
Gesellschaftliche Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem
Sous-titre
Enstehung, Fortentwicklung und gegenwärtige Bedeutung von Cleavage-Strukturen für das Parteiensystem der BRD
Université
University of Göttingen  (Seminar für Politikwissenschaft)
Cours
Regieren und politische Willensbildung im Vergleich
Note
1,0
Auteur
Année
2008
Pages
36
N° de catalogue
V128968
ISBN (ebook)
9783640351657
ISBN (Livre)
9783640351251
Taille d'un fichier
783 KB
Langue
allemand
Mots clés
Gesellschaftliche, Konfliktlinien, Parteiensystem, Enstehung, Fortentwicklung, Bedeutung, Cleavage-Strukturen, Parteiensystem
Citation du texte
Jens Gmeiner (Auteur), 2008, Gesellschaftliche Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128968

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