Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Abkurzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Handlungsfeld Drogen- und Suchthilfe
2.1 Alkoholabhangigkeit
2.2 Tragerschaft, Einrichtungsstruktur und Professionsfeld
3 Soziale Arbeit als Expertin der sozialen Dimension
4 Soziale Arbeit als Hauptakteurin in der ambulanten Suchthilfe
4.1 Angebote und Tatigkeitsschwerpunkte
4.2 Kompetenzprofil von Fachkraften der Sozialen Arbeit
5 Der gesellschaftspolitische Stellenwert von Alkohol als zentrale Herausforderung
5.1 Das Ungleichgewicht von Verhaltenspravention und Verhaltnispravention
5.2 Pravention im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Gesundheitsinteressen
5.3 Pravention im Spannungsfeld von Bevormundung und Selbstbestimmung
6 Fazit
II. Literaturverzeichnis
III. Anhangsverzeichnis
Gender-Erklarung
In dieser Arbeit wird die Verwendung einer gendersensiblen und inklusiven Sprache ange- strebt. Es ist ausdrucklich hervorzuheben, dass sofern das generische Maskulinum verwen- det wird, immer Frauen und Manner, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder konnen.
I. Abkurzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Vorlaufigen Berechnungen zufolge wurden in Deutschland im Jahr 2020 durchschnittlich 94,6 Liter Bier, 20,7 Liter Wein, 3,3 Liter Sekt und 5,2 Liter Spirituosen getrunken. Dies entspricht 8,9 Liter reinem Alkohol pro Jahr pro Kopf (BSI, 2021, S.10). Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit weit uber dem Durchschnitt und wird als Hochkonsumland klassifiziert (DHS, 2022, S. 37). Nach dem Epidemiologischen Suchtsurvey 2018 sind in Deutschland unter den 18 bis 64-Jahrigen 3,1% alkoholabhangig. 2,8% weisen einen missbrauchlichen Konsum auf, der bereits zu korper- lichen, psychischen und sozialen Schaden gefuhrt hat und weitere 12,6% trinken riskant. Schatzungen zufolge sterben jahrlich insgesamt 74.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen (Verkehrs- und Arbeitsunfalle, Gewaltdelikte) des Alkoholkonsums (Seitz et al., 2019, S.4- 9). Trotz dieser alarmierenden Zahlen erfahrt Alkohol in unser Gesellschaft eine breite Akzeptanz und wird seitens der Politik im Vergleich zu anderen Rauschmitteln immer noch bagatellisiert. Vor diesem Hintergrund und der Relevanz der Thematik begrenzt sich die Vorstellung des Handlungs- feldes Drogen- und Suchthilfe in dieser Arbeit auf die spezifische Alkoholabhangigkeit.
Seit 1968 ist Sucht in Deutschland als Krankheit anerkannt. Durch die Verankerung im Diagnose- manual der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) konnen Behandlungsanspruche abgeleitet und durchgesetzt werden. Um einer Stigmatisierung und Ausgrenzung Betroffener entgegenzuwirken, hat die WHO in der Neufassung ICD-11 in 2019 den Begriff Sucht durch Abhangigkeit ersetzt, dennoch dominiert im multidisziplinaren Suchthilfesystem die Vorstellung von einem klassischen Krankheitsbild, das vorrangig durch Arzte und Psychologen behandelt wird (Laging, 2022, S. 214). Die weitreichende Dimension der Alkoholabhangigkeit, die weit uber Diagnose und Diagnostik hinausgeht, kann damit jedoch nicht erfasst werden. Ziel dieser Arbeit ist es daher, einen ganzheitlichen Blick auf den Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft zu richten und folgender Fragestellung nachzugehen:
l Vas ist die zentrale Rolle der Sozialen Arbeit im multidisziplinaren Suchthilfesystem und welche gesellschaftspolitischen Anderungen sind erforderlich, um das Problemverhalten Alkohol zu bewal- tigen bzw. zu verandern?
Fur ein besseres Verstandnis der Thematik wird zunachst die Alkoholabhangigkeit definiert und der Aufbau des Suchthilfesystems vorgestellt. AnschlieBend wird im dritten Kapitel die vornehmliche Perspektive und Starke der Sozialen Arbeit spezifiziert. Im vierten Kapitel werden die wesentlichen Tatigkeitsfelder der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe vorgestellt und auch die dazu erforderlichen Kompetenzprofile der Fachkrafte hergeleitet. Den Schwerpunkt des funften Kapitels bildet der ge- sellschaftspolitische Stellenwert des Alkohols, der nicht nur die Suchtbehandlung erschwert, son- dern insbesondere fur die Suchtpravention eine enorme Herausforderung darstellt. Neben der kon- zeptionellen Ausrichtung der Suchtpravention werden MaBnahmen zur Angebotsreduzierung aufge- zeigt, die mit ausgewahlten Spannungsfeldern konfligieren. AbschlieBend wird der Alkoholkonsum ganzheitlich eingebettet und Ansatze zur Handhabung aufgezeigt.
2 Das Handlungsfeld Drogen- und Suchthilfe
2.1 Alkoholabhangigkeit
Der Freund, der ab und zu kokst, die Partnerin, die immer aufs Handy schaut, der Kollege mit der taglichen Alkoholfahne, der Sohn, der beim Computerspielen die Welt um sich herum vergisst oder die Schokolade, auf die man selbst nicht verzichten kann: Das individuelle Bild der im Alltag wahr- genommenen Suchte ist vielseitig. In der Fachwelt werden stoffgebundene und stoffungebundene Abhangigkeiten unterschieden. Erstere beziehen sich auf psychoaktive Substanzen (inklusive Medi- kamente) wie Alkohol, Cannabis oder Kokain. Zweitere betreffen Verhaltensweisen wie das patho- gene Spielen. Zwanghaftes Sexualverhalten oder Kleptomanie werden hingegen nach wie vor als Impulskontrollstorung klassifiziert (Laging, 2022, S.214).
Alkoholabhangigkeit ist die spezifische Abhangigkeit von der psychoaktiven Substanz Alkohol. Strenggenommen ist es keine Abhangigkeit vom Alkohol an sich, sondern vom veranderten Gefuhls- und Bewusstseinszustand in Folge des Alkoholkonsums (Gross, 2016, S. 6). Nach dem neuen ICD11 gilt als alkoholabhangig, wer in den vergangenen zwolf Monaten zwei der drei Kriterienpaare erfullt, wobei eine Bedingung pro Paar ausreichend ist: Verlangen zum Alkoholkonsum und beein- trachtigte Kontrolle, Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen, Alkoholkonsum als Lebensprioritat und Fortfuhrung trotz auftretender Probleme (Heinz et al., 2022, S. 51ff.). Nach der Alkoholiker-Typologie des US-amerikanischen Physiologen Jellinek werden funf Formen des Trink- verhaltens unterschieden, die sich im Schweregrad der Abhangigkeit unterscheiden und zur Sucht- diagnose genutzt werden (Abbildung 1). Jede Form der Alkoholabhangigkeit weist eine starke Komorbiditatslast auf. 64 bis 85 % sind zusatzlich von Nikotin und 0,5 bis 7,5 % von Cannabis, Kokain oder Stimulanzien abhangig. Frauen zeigen ein hohes Komorbiditatslevel bei Angststorungen, Manner hingegen bei antisozialen Personlichkeitsstorungen (Lindenmeyer, 2016, S.18f.). Manner sind mehr als doppelt so haufig von Alkoholabhangigkeit betroffen wie Frauen. Mit 46 Jahren liegt das Durchschnittsalter deutlich uber der Altersstruktur anderer Abhangigkeits- storungen (Schwarzkopf et al., 2020, S. 24).
2.2 Tragerschaft, Einrichtungsstruktur und Professionsfeld
Das multidisziplinare Handlungsfeld Drogen- und Suchthilfe, welches im Arbeitsfeld Gesundheit zu verorten ist, besteht aus einer Vielzahl von Einrichtungen und Diensten. Da diese sich in unter- schiedlicher Tragerschaft befinden und ungleichen sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und Finanzierungsstrukturen unterliegen, ist eine klare Abgrenzung nahezu unmoglich. Die Strategie der nationalen Drogen- und Suchtpolitik basiert seit 2012 auf den vier Ebenen Pravention, Beratung und Behandlung, MaBnahmen zur Schadensreduzierung sowie Repression (Bundesregierung, 2012, S. 9). Aufgrund der fortwahrenden Ausdifferenzierung, die mit Uberschneidungen der Angebote, Tatig- keitsfelder und Adressaten einhergeht, wurde dieser Arbeit eine primare Klassifizierung des Hand- lungsfeldes in die beiden Segmente Suchthilfe und Suchtpravention zugrunde gelegt. Die offentlichen Trager des Staates sind durch gesetzliche Regelungen dazu verpflichtet, Hilfe- suchende zeitnah mit bedarfsgerechten Angeboten zu versorgen. Als Leistungs- und meist auch Kostentrager unterliegen sie einer Gewahrungs-, aber keiner Ausfuhrungspflicht. Diese ubertragen sie gemaB dem Subsidiaritatsprinzip vorrangig auf private Trager. Die institutionelle Differenzierung von ambulanten und (teil-)stationaren Einrichtungen ist dabei relevant. Die Leistungserbringung in ambulanten Einrichtungen erfolgt fast ausschlieBlich durch die freien Wohlfahrtsverbande und die ihnen angeschlossenen Fachverbande sowie andere gemeinnutzige Trager wie Kirchen, Stiftungen, Jugendverbande und Selbsthilfeorganisationen (Bieker / Niemeyer, 2022, S. 17ff.). In stationaren Einrichtungen belauft sich der Anteil gemeinnutziger Trager auf 61 % und privatwirtschaftlicher auf 25 % (Schwarzkopf et al., 2020, S. 46). Ambulante Suchtberatungs- und Behandlungsstellen, die auch Fachstellen fur Pravention unterhalten, werden primar kommunal aus Steuereinnahmen und staatlichen Zuwendungen finanziert und unterliegen damit den Schwankungen der Finanzlage (Laging, 2018, S. 114). Stationare Angebote werden durch die Sozialversicherungstrager finanziert, die sich wiederum durch die Pflichtbeitrage ihrer Versicherten refinanzieren (Bieker / Niemeyer, 2022, S. 54ff.). Der qualifizierte Entzug erfolgt in psychiatrischen Abteilungen von Krankenhausern. Die Kosten ubernimmt die gesetzliche Krankenversicherung. Die medizinische Rehabilitation erfolgt meist in stationaren Rehabilitationseinrichtungen oder Suchtkliniken. Die Rentenversicherungs- trager fungieren hier sowohl als Kostentrager als auch Leistungserbringer (Bieker / Niemeyer, 2022, S. 29.). MaBnahmen der sozialen Rehabilitation werden in teilstationaren Tageskliniken, Nachsorge- einrichtungen und betreuten Wohngruppen erbracht (Gross, 2016, S. 144f.).
Die Arbeit in der Suchthilfe erfolgt in multidisziplinaren Teams. Wesentliche Berufsgruppen stammen aus der Medizin, Psychologie, Sozialarbeit und Sozialpadagogik, aber auch aus der Gesundheits- und Krankenpflege sowie Ergotherapie. Der Anteil der jeweiligen Professionen variiert je nach Ein- richtungstyp. Die Soziale Arbeit ist sowohl insgesamt als auch in der ambulanten Suchthilfe (61,3 %) die am starksten vertretene Berufsgruppe (Leune, 2013, S. 16). Suchtpravention als „gesamtge- sellschaftliche Querschnittsaufgabe“ ist groBtenteils in Institutionen auBerhalb des Gesundheits- wesens verankert. Daher agieren neben der Sozialen Arbeit u.a. auch Tatige aus Lehramt, Erziehung, Personalabteilung oder Polizei als Multiplikatoren (Sting / Blum, 2003, S. 92).
3 Soziale Arbeit als Expertin der sozialen Dimension
Soziale Arbeit ist fur die ganzheitliche Begleitung im Feld der Suchthilfe unerlasslich. Basierend auf einer systematischen Denkweise koordiniert die Soziale Arbeit den gesamten Hilfeprozess von An- fang bis Ende. Unter Einbeziehung aller sozialen Umweltbedingungen vermittelt sie Bedurftige zwischen den Institutionen und vernetzt die jeweiligen Professionen (Gremminger, 2021, S. 17).
Die Arbeit in der Suchthilfe und -pravention geht mit einer Vielzahl an Problemstellungen einher, da Abhangigkeit auf einer bio-psycho-sozialen Wechselwirkung basiert. Medizin und Psychologie sind auf die bio-(medizinische) bzw. psychologische Dimension spezialisiert, die Soziale Arbeit hingegen hat die Expertise in der sozialen Dimension. Anders als Medizin und Psychologie, die vorrangig Anpassungen auf individueller Ebene (Mikroebene) anstreben, nimmt die Soziale Arbeit auch die Lebenswelt (Makroebene) als Ursache fur das Krankheitsbild in den Blick. Es ist empirisch belegt, dass soziale Ungleichheit mit hoherer Morbiditat und Mortalitat einhergeht. Insbesondere ein geringeres Einkommen steht in Verbindung mit einer Anfalligkeit fur psychische Erkrankungen ein- schlieBlich Abhangigkeit. Um dem entgegenzuwirken, setzt sich die Soziale Arbeit unentwegt fur Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit ein, indem sie politische, rechtliche und gesell- schaftliche Rahmenbedingungen mitgestaltet (Liel, 2020, S. 70). Soziale Arbeit fokussiert jedoch nicht nur suchtfordernde, sondern auch suchtaufrechterhaltende Faktoren. Neben Risikofaktoren wie die staatlich tolerierte Alkoholwerbung oder gesetzliche Regelungen zur Verfugbarkeit spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkohol eine wesentliche Rolle. Aufgrund der immensen Bedeutung dieser Faktoren, die mit diversen Spannungsfeldern verbunden sind und insbesondere fur die Suchtpravention eine zentrale Herausforderung darstellen, wird dieser Thematik spater ein eigenes Kapitel gewidmet.
Die bio-psycho-sozialen Faktoren wirken nicht nur ursachlich, sondern die Abhangigkeit selbst wirkt sich auf nahezu alle Bereiche des taglichen Lebens aus. Die erweiterten Problembereiche (Abbildung 2) erstrecken sich von Verschuldung und Rechtsstreitigkeiten, uber Probleme mit der Arbeits- und Wohnsituation bis hin zu Gewalterfahrungen (Schwarzkopf et al., 2020, S. 147). Die Soziale Arbeit leistet in diesen sozialen Problembereichen umfangreiche Unterstutzung. Aufgrund der auffallig haufigen Storungen in den sozialen Beziehungen ist die Einbeziehung der Angehorigen besonders bedeutsam, da diese unmittelbar von den Auswirkungen der Sucht betroffen sind. Nicht selten werden sie zu Co-Abhangigen, indem sie die Verantwortung fur alles ubernehmen, die Sucht im Umfeld verleugnen oder dem Betroffenen sogar seinen Alkohol beschaffen. Dadurch bleibt die Abhangigkeit lange unentdeckt, was die Suchtbehandlung erschwert (Gross, 2016, S. 130f.).
Soziale Arbeit hat auch immer gesellschaftliche Veranderungsprozesse und damit einhergehende Problemlagen im Blick. Das Verstandnis von Sucht wandelt sich fortwahrend. Galt einst nur Substanzkonsum als Sucht, werden mittlerweile auch einige Verhaltenssuchte anerkannt. In den spaten 1960er Jahren stieg der Konsum von Cannabis und LSD plotzlich drastisch an und Heroin erschien als neues Suchtmittel auf dem Drogenmarkt (Franzkowiak / Schlomer, 2003, S. 175). Mit der Einfuhrung der Alkopops und Biermixgetranke durch die Alkoholindustrie, um dem rucklaufigen Alkoholkonsum entgegenzuwirken, ruckte die Zielgruppe der Jugendlichen starker in den Fokus der Suchthilfe und -pravention. Die Soziale Arbeit reagiert auf diese veranderten Anforderungen an Hilfe- leistungen, indem sie Anpassungen auf struktureller, politischer und rechtlicher Ebene initiiert (Bieker / Niemeyer, 2022, S.21).
[...]
- Arbeit zitieren
- Anonym, 2022, Soziale Arbeit und Sucht. Darstellung des Handlungsfeldes Drogen- und Suchthilfe am Beispiel der spezifischen Alkoholabhängigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1290047
Kostenlos Autor werden
Kommentare