Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorie und Methode
2.1. Kontextualisierung u. die Arten v. Kontextwissen nach Zabka u. Spinner
2.2. Theorie zum Lesebuch
3. Analysierender Vergleich
3.1. Franz Kafka: Auf der Galerie
3.2. Betrachtung der Schulbuchkapitel
3.2.1. Cornelsen: Themen, Texte und Strukturen
3.2.2. Schöningh: Deutsch in der Oberstufe
3.3. Vergleich
3.4. Diskussion und Auswertung
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Kontextualisierung ist notwendige Bedingung der Interpretation“1 - mit dieser These Zabka’s soll die vorliegende Arbeit eingeleitet werden. Das Verstehen und Interpretieren literarischer Texte stellt einen wesentlichen Bereich im Literaturunterricht der Schule dar. Schülerinnen und Schülern sollen ein autonomes Textverständnis entwickeln, das durch nahe Textargumentation Plausibilität und Kohärenz aufweist.2 Denn ein konstitutives Merkmal literarischer Texte ist ihre Mehrdeutigkeit - so lassen sich Texte aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven betrachten, was die Grundlage bietet für eine vielseitige Interpretation.3 Die verschiedenen Verstehensmöglichkeiten ergeben sich häufig aus mehreren, auf den Text angewendeten Kontexten bzw. optimalerweise deren Zusammenführung. Mit seiner Betonung der Notwendigkeit von Kontexten trifft Zabka also einen wunden Punkt im literaturdidaktischen Diskurs von Kontextwissen, in welchem sich gegenwärtig unter anderem mit der Frage nach der Korrelation zwischen literarästhetischem Verstehen und domänenspezifischem Vorwissen auseinandergesetzt wird.4
Um einen Beitrag zum didaktischen Diskurs zu leisten, beschäftigt sich diese Arbeit unter Bezugnahme des Kerncurriculums mit der Kontextualisierung eines selben Textes in zwei unterschiedlichen Schulbüchern der Oberstufe. Hierbei soll es weniger um die Qualität des verwendeten Wissens innerhalb des Literaturunterrichts gehen, als vielmehr die vielseitigen Möglichkeiten und damit den Einfluss, bzw. genauer die Gefahr und das Potenzial von Kontextualisierung aufzuzeigen. Als exemplarisches Beispiel wird mit zwei Schulbuchkapiteln gearbeitet, die beide die zum Schulkanon gehörende Kafka’sche Parabel »Auf der Galerie« behandeln und jeweils auf ihre Weise präsentieren - Wie und unter welchem Einbezug von Kontextwissen wird die Parabel präsentiert und welchen Einfluss hat dies auf das Verstehen des Textes??
Als theoretisches und methodisches Grundgerüst für die Analyse und den Vergleich der Schulbuchkapitel hinsichtlich ihrer Kontextualisierung werden zu Beginn dieser Arbeit die verschiedenen Arten von Kontextwissen nach Thomas Zabka und Kaspar H. Spinner vorgestellt. Außerdem befasst sich das Ausgangskapitel mit einem kurzen theoretischen Abriss des Gegenstands Lesebuch nach dem Grundlagentext von Karla Müller5, um hiermit ebenfalls auf die Analyse vorzubereiten.
Im nächsten Kapitel des Hauptteils werden zunächst beide Schulbuchkapitel isoliert voneinander betrachtet und es wird die jeweilige Einbettung der Parabel untersucht. Hierbei liegt der Fokus auf der Art und Weise der Kontextualisierung und auf der individuellen Auswahl des Fachwissens. Der darauffolgende Vergleich soll die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigen, um anschließend auf dieser Basis die vielen Facetten und damit den Einfluss (Gefahren und Potenziale) von Kontextualisierung auf da Verstehen und Interpretieren zu diskutieren. Zum Schluss werden die Ergebnisse kritisch bewertet und die Arbeit schließt mit einem resümierenden Fazit ab.
2. Theorie und Methode
2.1 Kontextualisierung und die Arten von spezifischem Kontextwissen nach Zabka und Spinner
Der curricular vorgegebene Kompetenzbereich des „Lesen[s] - Umgang mit Texten und Medien“6 formuliert verbindlich, dass bei der Analyse und Interpretation „pragmatische [r] und literarische [r] Texte und Medienprodukte [...] formale und inhaltliche Strukturen, sprachliche Mittel, Aussage und Autorintention“7 untersucht werden sollen, um diese „unter Anwendung von Kontextwissen in einen größeren Zusammenhang ein [zuordnen]“8. Diese explizite Formulierung unterstützt erneut das Forschungsinteresse dieser Arbeit. Für ein tieferes Verständnis dafür, was mit Kontextwissen gemeint ist, bedient sich dieser theoretische Abschnitt der Definitionen von Thomas Zabka und Kaspar H. Spinner.9
Zabka unterscheidet in seinem Lexikonartikel ganz allgemein intratextuelle und infratextuelle Kontexte von intertextuellen Kontexten. Letztere sind im Rahmen dieser Arbeit besonders relevant. Sie lassen sich in drei Arten unterscheiden: Klassifikationskontexte (Epochen, Richtungen, Gattungen), Produktions- und Entstehungskontexte (biographisch, kulturell, geistesgeschichtlich, politisch, ...) und Rezeptionskontexte (Wie rezipiert bspw. das Theater den Text? Wie wird intertextuell zitiert? Aktuelle politische, gesellschaftliche Situation?).10 An dieser Definition orientierend unternimmt Spinner eine Aufteilung in fünf primäre und spezifische11 12 13 Arten von Fachwissen und zeigt zudem damit einhergehende Gefahren auf. Als erste Kategorie nennt er das Gattungswissen, hierzu zählen Informationen zu Gattung und Genre. Das Kerncurriculum legt beispielsweise fest, dass Schülerinnen und Schüler zwischen entscheidenden Merkmalen verschiedener Gattungen, wie beispielsweise Gedicht, Drama und Parabel unterscheiden können sollen.12 Jedoch stellt Spinner fest, dass Gattungswissen von Schülerinnen und Schülern meistens nicht “flexibel-historisch”13, sondern “formalisiert-schemaorientiert”14 angewendet wird, worunter die Qualität von Interpretation leidet. Das heißt, dass die meisten Schüler_Innen bspw. kein Verständnis dafür haben, dass es keine eindeutige Trennung zwischen den Gattungen gibt, sondern dass es sich um theoretische Konstruktionen handelt.
Als zweites benennt Spinner das Textanalysewissen. Zu diesem Bereich werden die Prinzipien eines Sprachstils, Erzähltextes oder der Verslehre gezählt.15 Wird die Analyse der sprachlichen Mittel zu sehr in den Vordergrund gestellt, besteht die Gefahr, dass Schüler_Innen explizit nach Auffälligkeiten und rhetorischen Figuren suchen und diese auch finden und erkennen. Ohne eine Wirkungs- und Funktionsableitung unterstützen die Figuren jedoch nicht bei einem besseren Verständnis des Textes, sondern laufen ins Leere.16
Das literaturgeschichtliche (Epochen)-Wissen stellt die dritte Kategorie der fünf Arten von Fachwissen dar. Genau wie bei den anderen Wissensarten bedingt die Anwendung von literaturgeschichtlichem Wissen die Gefahr, es schablonenartig anzuwenden und es herrscht kein differenziertes Verständnis darüber, dass es sich bei Epochen um nachträglich entworfene Kategorien handelt, die sich nicht wie ein Raster auf literarische Texte drücken lassen.17 Auch die vierte Art, das Autorenwissen, birgt die Gefahr, je nach Informationen zum Autor und seiner Biografie, einen Text unter einem bestimmten Deckmantel zu lesen und zu verstehen.18 Verschiedene biografische Interpretationsansätze sind beispielsweise besonders beliebt bei Kafka-Texten.19
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als letztes nennt Spinner das Intertextuelle Wissen, womit beispielsweise Mythen oder andere zusammenhängende Bezüge zwischen unterschiedlichen Texten gemeint sind. Die Wissensarten, von denen Spinner und Zabka sprechen, sind deklarative und ermöglichen werktranszendente Interpretationsansätze und eine Erweiterung des Verstehenshorizontes. Bei jeder Art von Fachwissen besteht jedoch gleichzeitig die Gefahr einer einseitigen, eindimensionalen Textbetrachtung durch Schwerpunktsetzung nur eines Kontextes. Außerdem können Informationen, beispielsweise im Bereich von Gattungswissen, schablonenartig auf literarische Texte angewendet, wodurch inkohärente Schlüsse gezogen werden und das Verstehen nicht erweitert wird. Zabka spricht zudem von dem Phänomen einer „Ritualbildung“20 als möglichem Problem im Kontext von Analyse und Interpretation.
2.2 Theorie zum Lesebuch
In ihrer Arbeit „Das Lesebuch und andere printbasierte Lehr- und Lernmittel für den Lese- und Literaturunterricht”21 schlüsselt Karla Müller die verschiedenen Ebenen zur Theorie des Lesebuchs auf. Mithilfe ihrer Differenzierung sollen in diesem Absatz ausgewählte Kategorien und Leitfragen zur Untersuchung der beiden Lehrwerke „Deutsch in der Oberstufe“ (Schöningh)22 und „Texte, Themen und Strukturen“ (Cornelsen)23 aufgestellt werden. Vorangestellt wird eine grobe Untersuchung des Primärtextes, dem das Forschungsinteresse gilt: Welchen Stellenwert hat der Text in der Literaturwissenschaft, worum geht es inhaltlich, welche Auffälligkeiten gibt es? Danach folgt die tatsächliche Analyse des Lehrwerks.
Als erstes ist nach dem behandelten Thema und Titel des untersuchten Kapitels zu fragen und inwiefern dies bereits richtungsweisend ist. Als nächstes sind die Medien zu betrachten: Welche Medien gibt es, beispielsweise Bilder oder Texte und weiter: Welche Arten von Texten sind vorhanden? Hierbei sollte beachtet werden, ob es sich um eine originale Primär- oder eine Sekundärquellen handelt. Hinsichtlich der Forschungsfrage dieser Arbeit soll der Fokus der Analyse besonders auf dem Untersuchungsanteil der Präsentation liegen. Wie ist der behandelte Primärtext eingebettet, mit welcher Medienauswahl wird er kombiniert, welche Ziele werden mit der Auswahl des Textes verfolgt (beispielsweise Orientierung an Kultur oder didaktisch-methodisch, bezogen auf den Lehrplan24 )? Besonders wichtig ist die Frage danach, wie der Text in einen Kontext eingebettet wird und welche Kontexte und Wissensarten dabei herangezogen und berücksichtigt werden. Interessant für diese Untersuchung sind ebenfalls besonders die Aufgabenkonzeption und deren Position im Verhältnis zum Primärtext: Besteht diese aus Fragen, Aufforderungen/Arbeitsaufträgen mit Operatoren oder sind es Impulse?25 Im vergleichenden Kapitel sollen dann die Unterschiede bzw. Vor- und Nachteile erörtert werden. Fördert die jeweilige Kontextualisierung wirklich das Verstehen? Ist ein Sinn in der Auswahl, Einsetzung etc. erkennbar und wird die Qualität der Interpretation dadurch positiv oder negativ beeinflusst?
3. Analysierender Vergleich
3.1 Franz Kafka: Auf der Galerie
Die Kafka’sche Parabel »Auf der Galerie« von 1916/17 ist ein bekannter und häufig vertretener Text in den Lehrwerken zum Deutschunterricht in den höheren Unterrichtsstufen.26 Er lässt sich in das Rahmenthema „Literatur und Sprache um 1900 - neue Ausdrucksformen der Epik“27 des nds. Kultusministeriums einordnen. Es handelt sich um eine Parabel bestehend aus zwei komplexen Sätzen, die jeweils auf unterschiedliche Weise (und aus unterschiedlicher Perspektive?) die Situation einer Kunstreiterin im Zirkus beschreiben. Der kurze Text biete sich als „literarischer Rorschachtest“28 an, denn er eröffne die Ermittlung und Demonstration unterschiedlicher Rezeptions- und Verstehensmöglichkeiten:29 „Wer den Text isoliert rezipiert und nur ,werkimmanent‘ interpretiert, wird weit mehr offen lassen müssen als derjenige, der durch Einbezug von Kontext den Text aus dem Vorstellungshorizont Kafkas zu sehen versucht.“30 31 So ist das Kafka’sche Werk Teil des schulischen Lektürekanons und durch seine parabolische und dadurch mehrdeutige Struktur exemplarisch wertvoll für diese Arbeit über unterschiedliche Kontextualisierungen desselben Werkes.
Die im Folgenden beschriebenen Lehrwerke eignen sich für einen Vergleich der Kontextualisierung des Textes »Auf der Galerie«, denn beide Bücher sind im Jahr 2015 erschienen und ausgelegt für das Fach Deutsch in der Oberstufe.
[...]
1 Zabka, T.: Kontext. In: Burdorf, D. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., neu bearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart 2007, S. 398.
2 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium - gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule - gymnasiale Oberstufe, das Fachgymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Deutsch. Hannover 2016, unter: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/de_gym_go_kc_2016.pdf (11.10.2018), S. 70.
3 Vgl. Sekretariat d. Ständigen Konferenz d. Kultusminister d. Länder i. d. BRD (Hrsg.): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. Wolters Kluwer Deutschland GmbH, Köln 2014, unter: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/2012_10_18-bildungsstandards-deutsch-abi.pdf (11.10.2018), S. 13.
4 Vgl. bspw. Pieper, I/ Wieser, D. (Hrsg.): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Peter Lang GmbH, Frankfurt a.M. 2012.
5 Müller, Karla (2010): Das Lesebuch und andere printbasierte Lehr- und Lernmittel für den lese- und Literaturunterricht. In: Kämper-van den Boogaart, Michael/Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Lese- und Liuteraturunterricht. Teil 2, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 243-272.
6 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium - gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule - gymnasiale Oberstufe, das Fachgymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Deutsch. Hannover 2009, unter: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_deutsch_go_i_2009.pdf (11.10.2018), S. 18.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ein Hinweis darauf, dass es weitere Wissenschaftler_Innen gibt, die sich mit der gleichen Thematik unter der Einbeziehung anderer Bezeichnungen und feineren oder gröberen Definitionen von ,Kontextwissen‘ beschäftigen.
10 Vgl. Zabka, T.: Kontext. In: Burdorf, D. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., neu bearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart 2007, S. 398.
11 Vgl. Stark, Tobias: Zur Verwendung von Kontextwissen beim Interpretieren.
12 In: Möbius, T./ Steinmetz, N. (Hrsg.): Wissen und literarisches Lernen. Grundlegende theoretische und didaktische Aspekte. Band 4, Peter Lang, Frankfurt a.M. 2016, S. 87.
13 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2016, S. 19.
14 Spinner, Kaspar H.: Wie Fachwissen das literarische Verstehen stört und fördert. In: Pieper, I/ Wieser, D. (Hrsg.):
15 Vgl. Spinner 2012, S. 57, Z. 6 f.
16 Vgl. Spinner 2012, S. 57, Z. 9.
17 Vgl. Spinner 2012, S. 59-60.
18 Vgl. Spinner 2012, S. 60-61.
19 Vgl. Stark 2016, S. 89.
20 Zabka, T.: Analyserituale und Lehrerüberzeugungen. Theoretische Untersuchung vermuteter Zusammenhänge. In: Pieper, I/ Wieser, D. (Hrsg.): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Peter Lang GmbH, Frankfurt a.M. 2012, S. 35 - 52, S. 37, Z. 20.
21 Müller, Karla (2010): Das Lesebuch und andere pnntbasierte Lehr- und Lernmittel für den lese- und Literaturunterricht. In: Kämper-van den Boogaart, Michael/Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Lese- und Liuteraturunterricht. Teil 2.
22 Kohrs, P. (Hrsg): Deutsch in der Oberstufe. Ein Arbeits- und Methodenbuch. Schöningh Verlag, Paderborn 2015.
23 Mohr, D./ Schurf, B./ Wagener, A. (Hrsg.): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Cornelsen Schulverlage GmbH, Berlin 2015.
24 Vgl. Müller 2010.
25 Vgl. Ebd.
26 Vgl. verschiedenste Lehrwerke, bspw. Deutsch.kompetent 10 (Klett), Texte, Themen, Strukturen (Cornelsen), Deutsch in der Oberstufe (Schöningh) und weitere.
27 Niedersächsisches Kultusministerium 2016, S. 36.
28 Bogdal, K-M./ Kammer, C. (Hrsg.): Franz Kafka, Erzählungen: Interpretation von Reinhard Meurer, 2., überarb. und erg. Auflage, Oldenbourg Verlag GmbH, München 1988, S. 89, Z. 5.
29 Vgl. ebd.
30 Bogdal/ Kammer 1988, S. 96, Z. 11-15.
31 Mohr/ Schurf/Wagener 2015, S. 3. Vgl