Gesellschaftliche und politische Fragen in Goethes 'Werther'


Intermediate Examination Paper, 2007

31 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Gliederung

1. Einleitung

2. Die deutsche Misere
2.1 Die Klassenstruktur in Deutschland zur „Wertherzeit“
2.2 Die Kräfte verschieben sich
2.3 Die Entwicklung Deutschlands im Unterschied zu Europa

3. Sturm und Drang
3.1 Der aufgeklärte Mensch
3.2 Kulturkritik und Humanitätsideal

4. Wer ist Werther wirklich?
4.1 Der Werther als politisches Instrument
4.2 Eine Werkimmanente Interpretation

Literaturliste

1. Einleitung

In der hier vorliegenden Zwischenprüfungsarbeit werde ich mich mit der Fragestellung beschäftigen, wie man Goethes Jugendroman „Die Leiden des jungen Werther“ unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten verstehen kann. Genauer gesagt, ob sich das 1774 erschienene Werk als Ausdruck einer bürgerlichen Revolte im Prozess der Selbstbehauptung des Individuums in der Sturm-und-Drang-Periode interpretieren lässt. Hat Goethes Werther Vorbildcharakter für eine nach politischem Fortschritt strebende bürgerliche Klasse? Und kann man so weit gehen, Werther als Urrevolutionär des feudalabsolutistischen Systems zu interpretieren? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich mich im Besonderen mit den Aussagen Klaus Scherpes und Peter Müllers auseinandersetzen.

Beide Autoren neigen dazu, einen sehr deutlichen Bezug zwischen dem Scheitern Werthers und den Missständen in der aufgeklärten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts herzustellen. Hervorzuheben wäre hier zum Beispiel die 1975 erschienene Werther-Studie „Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert“ von Klaus Scherpe. Scherpe charakterisiert den Werther-Roman als gesellschaftskritische Schrift par excellence. Müller geht in seinem 1969 erschienenen Werk „Zeitkritik und Utopie in Goethes Werther“ sogar so weit, Werther als modernen Prometheus darzustellen, der sich für seine Nation opfert, um den Menschen des 18. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Missstände vor Augen zu führen und sie somit zum revolutionären Handeln zu bewegen. Doch gibt es diesen deutlichen Zusammenhang wirklich, oder sind die Sichtweisen der beiden genannten Autoren zu eindimensional?

Um jegliche Eindimensionalität in meiner Arbeit von vornherein bewusst zu vermeiden, werde ich die Werther-Interpretationen verschiedenster Autoren heranziehen, um Scherpes und Müllers Aussagen zur Diskussion zu stellen. Denn nur die Zusammenschau der verschiedenen Deutungsansätze erlaubt es, die Frage nach Werthers Vorbildcharakter für eine nach Fortschritt strebende bürgerliche Klasse zu beantworten. Zuvor werde ich jedoch die Hintergründe für Scherpes und Müllers Aussagen beleuchten. Denn um die Sichtweisen Scherpes und Müllers besser verstehen zu können, ist es wichtig, auf das historische Bild einzugehen, welches die Autoren für ihre Werther-Interpretationen bemühen. Um eine differenzierte Sicht auf das Zeitgeschehen und Werther zu ermöglichen, werde ich bereits im ersten Kapitel meiner Arbeit verschiedene Werther-Interpreten zu Wort kommen lassen. Das von Scherpe und Müller vermittelte Bild der Wertherzeit[1] setze ich dabei in Kontrast zu den Erkenntnissen der neueren Forschungsliteratur. „Die historische Gebundenheit des Kunstwerkes ist dabei nicht in Zweifel zu ziehen, wohl aber die Einförmigkeit, mit der es oft an geschichtliche Realitäten gekoppelt zu werden droht.“[2]

Während sich das erste Kapitel dieser Arbeit also mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen um 1774 beschäftigt, erläutert das zweite Kapitel die grundlegenden gesellschaftlichen Werte dieser Zeit. Deutlich wird hier, warum einige Protagonisten der Sturm und Drang Bewegung diese zum Teil so vehement kritisierten. Gleichzeitig führt das zweite Kapitel das Humanitätsideal des Sturm und Drang ein, mit einem Exkurs zu den Theorien Rousseaus. Ausführlich wird untersucht, inwiefern die Wertherfigur diesem Ideal entspricht. Im dritten und letzten Kapitel wird die Frage beantwortet, was für einen Typ Mensch Goethes Werther verkörpert. Ist er der gro3e Revolutionär, wie von Scherpe und Müller unterstellt? Die folgenden Seiten werden dahingehend Klarheit bringen.

2. Die deutsche Misere

2.1 Die Klassenstruktur in Deutschland zur Wertherzeit

Beschränkt man sich bei der Betrachtung des historischen Kontextes auf die historischen Quellen, die Klaus Scherpe und Peter Müller heranziehen, ergibt sich ein Bild der deutschen Gesellschaft, in dem noch immer eine klar ersichtliche Trennung zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten vorherrschte. Diese Art von Gesellschaftsstruktur bezeichnete man als Ständegesellschaft, deren scharf voneinander getrennte Gruppen in ihrer Gesamtheit die so genannte Ständepyramide[3] bildeten. Wobei absolutistische Fürsten und der Feudaladel die Spitze bildeten, dicht gefolgt vom Klerus, dessen ökonomische und politische Stellung zumeist der des hohen Adels entsprach.[4]

Das Bürgertum, zu dem sowohl die Finanz -und Handelsbourgeoisie als auch die Manufacturies gehörten, bildete die nächste Stufe der Ständepyramide. Bauern mit eigenem Grundbesitz und zünftig organisierte Handwerker, auch kleine Warenproduzenten genannt, wurden zur dritten Stufe der Ständepyramide gezählt.

Die vierte und letzte Stufe der Ständepyramide bestand aus landarmen Bauern, Land -und Lohnarbeitern, Leibeigenen, Gesellen und Lehrlingen.

Die Ständepyramide war laut Scherpe nicht nur ein Schaubild der damals vorherrschenden Gesellschaftsstruktur, sondern vielmehr Ausdruck der Ideologie des Feudalsystems. Dieser Umstand erzeugte ein Klima von Ungleichheit und Benachteiligung. So spiegelte die Ständepyramide die gesellschaftlichen und sozialen Beziehungen innerhalb der Feudalgesellschaft wieder. Die Ungleichheit der sozialen Schichten, so erklärt es Scherpe, erlaubte es den Mitgliedern einer bestimmten Schicht nicht, Kontakt zu Mitgliedern der jeweils anderen Schichten zu haben. Doch was ist mit Friedrich dem Großen und Voltaire, oder Goethe und Anna Amalia? Im Erscheinungsjahr des Werthers, also 1774, befand sich die deutsche Gesellschaft bereits in einem Wandel von der reinen Feudalgesellschaft hin zum Feudalabsolutismus[5]. Wovon das Bürgertum eindeutig profitierte. Die Ständeordnung bestimmte in weiten Teilen zwar immer noch das gesellschaftliche Leben der Deutschen, jedoch gab es durchaus Entwicklungen, die dem Bürgertum mehr und mehr Unabhängigkeit erlaubten.

„Der absolutistische Staat hatte eine gegenüber dem ständischen Territorialstaat aur3erordentlich erweiterte Verwaltungstätigkeit entfaltet, was ein starkes, zahlenmä3ig erfassbares Anwachsen der Staatsbeamten zur Folge hatte. Aus dieser Entwicklung zog das Bürgertum in erster Linie Vorteile.“[6]

Erstmalig wird es den Bürgern ermöglicht, sich selbst in den Staat einzugliedern und damit die Ständeordnung zumindest ökonomisch zu umgehen. Wobei aber deutlich gesagt werden muss, dass diese Eingliederung der Bürger in den Staat in einer bestimmten Weise beschränkt war. „Das Feudalsystem mit seinen gesellschaftlichen und politischen Schranken blieb im wesentlichen in Kraft; es fehlte an einer politischen Vertretung des Bürgers im modernen Sinn.“[7] Trotzdem ist bereits 1774 eine Entwicklung erkennbar, die es den Bürgern ermöglichte sich mehr und mehr vom Staat zu emanzipieren und ihre Individualität auszuleben. Aus heutiger Sichtweise fehlte jedoch eine ausreichende politische Vertretung der Bürger. Ob aber auch ein im Feudalabsolutismus lebender Bürger diese Politabstinenz als etwas Negatives empfand, ist fraglich. Denn eine politische Vertretung war nicht das erklärte Ziel der bürgerlichen Klasse. Die Forderung nach ökonomischer Unabhängigkeit spielte eine viel grö3ere Rolle im Emanzipationsbestreben der feudalabsolutistischen Bürger. Als weiteres Ziel steht die Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit im Fokus. Mit Blick auf den Werther Text lässt sich feststellen, dass Werther sich bereits massiv vom Feudalabsolutismus emanzipiert hat. Eine Eingliederung in das staatliche System hält er somit auch für gänzlich falsch.

„Eure Idee will noch nicht die meinige werden, dass ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, dass der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. Meine Mutter möchte mich gerne in Aktivität haben, sagst du: das hat mich zu lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv? und ist`s im Grunde nicht einerlei: ob ich Erbsen zähle oder Linden? Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft ist, sich um Geld, oder Ehre, oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.“[8]

Hier tritt ein bürgerliches Selbstbewusstsein zu Tage, dass die Unterordnung unter ein feudalabsolutistis]ches Gesellschaftssystem ablehnt und stattdessen nach Selbstverwirklichung strebt. Nach Hirsch ist Werther deshalb aber noch lange kein Vorbild für eine nach Fortschritt strebende bürgerliche Klasse, sondern ein Bürger, der ein für 1774 durchaus übliches, bürgerliches Schicksal erleidet.

„Dieses selbstbewusste bürgerliche Pochen auf Unabhängigkeit, auf das Recht, das eigene Leben nach der ihm gemä3en Bestimmung zu leben, kündet den Individualismus des « Sturm und Drang » an, den Individualismus einer neu heraufkommenden Generation, deren Selbstbewusstsein in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf Grund der wirtschaftlichen und kulturellen Aufwärtsbewegung des Bürgertums zu voller Entfaltung gekommen war.“[9]

2.2 Die Kräfte verschieben sich

Klaus Scherpes Aussagen zur deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts in seiner 1975 erschienenen Werther-Studie „Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert“ werden hauptsächlich gestützt durch die im Jahr zuvor veröffentlichte Textsammlung „Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Materialien“. Überraschenderweise stellt Scherpe hier sogar selber fest, dass sich durch die Veränderungen in der Produktionsweise von Konsum- und Gebrauchsgütern bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein Strukturwandel in Gesamteuropa vollzog.

”Mit dem zahlenmä3igen Wachstum der Manufakturen (besonders der zerstreuten) nahmen die Vertreter des produktiven Kapitals zu. Ihrer sozialen Herkunft nach setzten sich die Manufakturkapitalisten mit zeitlichen und gebietlichen Unterschieden aus Handelskapitalisten (zwischen 25 und 50 Prozent), gewerblichen Produzenten in Stadt und Land (zwischen 25 bis 40 Prozent) und aus Beamten zusammen.”[10]

Durch die Verbreitung der Manufakturen und der damit einhergehenden ökonomischen Unabhängigkeit von Fürsten und Feudaladel entstand in vielen europäischen Städten eine stetig breiter werdende Schicht bürgerlicher Intelligenz. Immer deutlicher begann sich neben der herrkömmlichen Feudal-Ideologie eine neue Denkart zu etablieren - die bürgerliche Ideologie. Aus Gesamteuropäischer Sicht etablierte sich diese neue Ideologie in einem rasanten Tempo, die besonders seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges[11] immer mehr an Fahrt gewann.

2.3 Die Entwicklung Deutschlands im Unterschied zu Europa

Dann jedoch schränkt Scherpe die zuvor gemachte Aussage ein. Er macht deutlich, dass sich, sobald man die Analyse der damaligen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf den deutschen Sektor beschränkt, schnell erkennen lässt, dass die Entwicklung hier viel langsamer verlief als in den übrigen Teilen Europas. Was zum einen laut Scherpe daran lag, dass das Handels- und Manufakturbürgertum territorial zersplittert war, und zum anderen an der weiterhin vorherrschenden ökonomischen Abhängigkeit von den bestehenden Feudalgewalten[12].

[...]


[1] Zeitalter der Aufklärung

[2] Schmiedt, Helmut: Woran scheitert Werther?. In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Wie froh bin ich, daI3 ich weg bin! – Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther in literaturpsychologischer Sicht. Verlag Königshausen und Neumann. Würzburg 1989. S. 171.

[3] Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft Europas gliederte sich in mehrere Stände (lat. statos, Singular status). Das Ständesystem war ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, wie es für spätere Zeiten die von Marx beschriebenen Klassen oder die von Ralf Dahrendorf, Karl Martin Bolte und anderen in die Gesellschaftslehre eingeführten sozialen Schichten wurden.

[4] Vgl. Scherpe, Klaus: Zur Klassenstruktur Deutschlands im 18. Jahrhundert. In Klaus Scherpe und Gert Mattenklott: Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Materialien. Kronberg 1974. S. 27.

[5] Gesellschaft des Übergangs zum Kapitalismus.

[6] Hirsch, Arnold: Die Leiden des jungen Werthers. Ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat. In: Etudes Germaniques. Librairie Marcel DIDIER. Paris 1958. S. 236.

[7] Hirsch (1958): 236-237.

[8] Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. Durchgesehene Ausgabe. Verlag Phillip Reclam jun. GmbH & Co. Stuttgart 2001. S. 46.

[9] Hirsch, Arnold: Die Leiden des jungen Werthers. Ein bürgerliches Schicksal im absolutistischen Staat. In: Etudes Germaniques. Librairie Marcel DIDIER. Paris 1958. S. 236.

[10] Scherpe, Klaus: Zur Veränderung im Kräfteverhältnis der Klassen. In Klaus Scherpe und Gert Mattenklott: Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert.Materialien. Kronberg 1974. S. 28-29.

[11] 1756 bis 1763, auch Dritter Schlesischer Krieg genannt.

[12] Vgl. Scherpe, Klaus: Zur Veränderung im Kräfteverhältnis der Klassen. In: Klaus Scherpe und Gert Mattenklott: Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Materialien. Kronberg 1974. S. 29-30.

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Details

Title
Gesellschaftliche und politische Fragen in Goethes 'Werther'
College
University of Duisburg-Essen  (Germanistik - Literaturwissenschaft)
Course
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
31
Catalog Number
V129282
ISBN (eBook)
9783640356454
ISBN (Book)
9783640356812
File size
606 KB
Language
German
Keywords
Gesellschaftliche, Fragen, Goethes, Werther
Quote paper
Magister Artium Sebastian Podwojewski (Author), 2007, Gesellschaftliche und politische Fragen in Goethes 'Werther', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129282

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