Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" - Ein politischer Roman?


Term Paper, 2006

22 Pages, Grade: 1,7

Anonymous


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Gliederung

1 Einleitung

2 Berlin Alexanderplatz als ‚Die Geschichte vom Franz Biberkopf’
2.1 Charakteristik des Protagonisten
2.1.1 Biberkopf versucht „anständig“ zu sein
2.1.2 Biberkopfs (un)politische Haltung
2.1.3 Drei „Schläge“ gegen Biberkopf und dessen Reaktion
2.2 Bekehrung Biberkopfs durch den ‚Tod’ – Geburt des ‚neuen Menschen’
2.3 Lebensrezepte für den ‚neuen Menschen’
2.3.1 Notwendigkeit des Zusammenschlusses Gleichgesinnter
2.3.2 Kritische Prüfung aller kollektiver Ansprüche

3 Berlin Alexanderplatz – ein politischer Roman?
3.1 Alfred Döblin als politischer Schriftsteller
3.2 Das Verhältnis zwischen Erzähler und Leser

4 Der ‚Mehrwert’ für den Leser – Kritik an der politischen Dimension des Romans
4.1 Identifikation mit dem Protagonisten
4.2 Problem der kritischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus
4.3 Unbeantwortete Fragen

5 Literatur

1 Einleitung

Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin – das ist wirklich nicht nur „einfach eine Bahnstation“, wie der S.-Fischer-Verlag anfangs kritisierte! – Dennoch ergänzte Alfred Döblin zum besseren Verständnis für den Leser und vor allem für den Seelenfrieden seines Verlegers den Untertitel ‚Die Geschichte vom Franz Biberkopf’, und das Buch avancierte nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1929 zum bekanntesten Werk des Autors.1

Allein das Hinzufügen des Untertitels sagt bereits viel über die Konstellation im Roman aus: Der Protagonist und vermeintliche ‚Held’ Franz Biberkopf steht lediglich als Beispiel für den modernen Einzelmenschen in der Großstadt. Die Großstadt selbst aber gibt den Ton an; sie bestimmt den Rhythmus des Buches. Auf diese Weise werden der tägliche ‚Lebenskampf’ Biberkopfs und dessen Folgen beschrieben.

Doch das Hauptthema reicht noch weiter: Gerade vor dem geschichtlichen Hintergrund der ausklingenden 20er Jahre erhält der Inhalt neue Brisanz. Auf der einen Seite werden die süßen Verführungen der Stadt gezeigt, dem gegenüber auf der anderen Seite jedoch auch die grausame Brutalität und Kriminalität, die damals herrschte. Und mittendrin: Franz Biberkopf. Das Buch beginnt damit, dass Biberkopf nach Verbüßen einer vierjährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis Tegel entlassen wird. Paradoxerweise sieht er seine Befreiung allerdings als Strafe. Schnell wird deutlich, warum: Er befindet sich nun in der Großstadt, die erbarmungslos mit ihren Anforderungen an den Einzelnen aufwartet. Nun muss Biberkopf nicht mehr ausschließlich das tun, was ihm im Gefängnis vorgegeben wurde, sondern eigenständig Entscheidungen treffen, die sein eigenes Leben und auch das seiner Mitmenschen beeinflussen.

Biberkopf empfindet dabei die Großstadt schnell als ‚Gegenspielerin’. Dies äußert sich vor allem in einem falschen Schicksalsglauben und in einer starken Ich-Bezogenheit des Protagonisten. Naiv und überheblich versucht er sich immer wieder seinen Mitmenschen und vor allem der Stadt gegenüber zu behaupten, „seinen Mann [zu] stehen“. Dennoch – und das muss Franz Biberkopf erst lernen – ist die Großstadt dem Einzelnen gegenüber gleichgültig. Die Odyssee des Franz Biberkopf, sein Weg zu begreifen, dass er allein für sein Schicksal verantwortlich ist, ist dabei zentral.

Inwiefern der ‚Lebenskampf’ Biberkopfs aber nicht nur als individuelle sondern als allgemeine Erfahrung aufgefasst werden kann, wird im Folgenden untersucht. Dabei spielt vor allem die gesellschaftlich-politische Kritik eine Rolle, die Döblin mit seinem Werk zum Ausdruck bringt. Um diese Kritik besser zu verstehen, werden des Weiteren Positionen Döblins als politischer Autor mit herangezogen. Ebenfalls wird auf das besondere Verhältnis zwischen Erzähler und Leser eingegangen.

Vor der Herleitung der politischen Botschaft des Romans müssen jedoch, ausgehend von einer Charakteristik, die Kernprobleme des Protagonisten Biberkopf analysiert werden.

2 Berlin Alexanderplatz als ‚Die Geschichte vom Franz Biberkopf’

2.1 Charakteristik des Protagonisten

Das Buch zeigt die Zeitspanne zwischen Biberkopfs Entlassung aus dem Gefängnis bis zu seiner symbolischen Wiedergeburt in Person des ‚neuen’ „Franz Karl Biberkopf“.

Dabei fällt ein symmetrischer Aufbau ins Auge: Das erste und das letzte Buch2 bilden den Rahmen der Geschichte, denn zu Beginn wie auch am Ende des Romans steht Biberkopf vor einem Neuanfang. In den Büchern II, IV und VI versucht Biberkopf nach einer Niederlage, einem „Schlag“, jeweils sein Gleichgewicht wiederherzustellen. Dazwischen, in den ebenfalls parallel geführten Büchern III, V und VII, zeigt sich Biberkopf dreimal ohne Einsicht, worauf jedes Mal ein härterer „Schlag“ als direkte Strafe für seine Sturheit folgt: der Betrug von Lüders, der Verlust seines Armes und der Tod Miezes.

2.1.1 Biberkopf versucht „anständig“ zu sein

Eingeführt wird Franz Biberkopf als „ehemalige[r] Zement- und Transportarbeiter“ (S. 11). Über seine geistigen Qualitäten äußert er sich eher abfällig: „viel Grips zum Nachdenken hast du nicht, bei uns Transportarbeitern steckt es mehr in den Muskeln und in den Knochen“ (S. 53).3 Zu Beginn des Romans steht er vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses in Berlin, aus dem er gerade entlassen wurde. Er hatte dort vier Jahre gesessen, weil er seine ehemalige Geliebte Ida im Affekt erstochen hatte (vgl. S. 99). Dies zeigt, dass er zu triebhafter Gewalt neigen kann. Dennoch ist er im Grunde gutmütig und naiv.4 Darauf deutet schon sein Name „Biberkopf“ hin, der an das harmlos-naive Tier erinnert. Im Grunde ist er nach seiner Entlassung frei und glaubt, seine Strafe verbüßt zu haben. Doch in Wirklichkeit beginnt für ihn „die [eigentliche] Strafe“ (S. 15). Sein Credo, das ihn hinein in die Stadt Berlin begleitet, lautet, er wolle von nun an „anständig sein“ (vgl. S. 11).

Nachdem er vier Jahre lang von der Großstadtrealität abgeschnitten war, erlebt er diese zunächst als „beängstigendes Pandämonium“, das mit all seinen Eindrücken und Reizen auf ihn einprasselt. Er versucht daher, auch geprägt durch Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, der Großstadt mit der Manier eines kriegerischen Eroberers entgegenzutreten. Dies wird besonders an immer wieder eingebauten Marschmusik-Passagen deutlich. Biberkopf ist dabei durch Blindheit vor der Gefahr und naive Selbstüberschätzung gekennzeichnet; er scheint besessen von dem Gedanken, „seinen Mann stehen [zu] müssen“.

Außerdem verfügt Biberkopf nicht gerade über ein gesundes Maß an Menschenkenntnis, wodurch er immer wieder an falsche ‚Freunde’ gerät. Echte freundschaftliche Beziehungen hingegen bleiben auf der Strecke und führen auch immer wieder zu Enttäuschungen, wie die Beispiele Lüders und Reinhold anschaulich belegen. Ebenso sind auch Biberkopfs Liebesverhältnisse zu Frauen stark gestörter Natur. Diese werden von einer „latenten Aggressivität“ begleitet, die sich insofern äußert, als Biberkopf immer wieder Angst vor einer Wiederholung des an Ida begangenen Totschlags bekommt. Seine innere Unsicherheit will Biberkopf auf der anderen Seite durch Imponiergehabe und Prahlsucht kompensieren.5

Auf seinem Weg, „anständig“ zu sein, versucht sich Biberkopf in den ersten Kapiteln in verschiedenen Berufen (Schlipshalter-Verkäufer, Zeitungshändler, Hehler, Zuhälter und Einbrecher). Doch mangels Ausdauer und aufgrund einiger Rückschläge verfällt er der Trunksucht und driftet in kriminelle Kreise ab.6 Dass Biberkopfs unkontrollierter Alkoholkonsum ihm gegen die ‚Sorgen’ helfen soll, macht das Trinklied deutlich, das immer wieder in den Text montiert ist: „Trink, trink, Brüderlein trink, lasse die Sorgen zu Haus [...].“7 – Übrigens stellt seine Geliebte Mieze (auch „Emilie Parsunke“ oder „Sonja“ genannt) ebenfalls besorgt fest: „Der hat so ein eingeborenes Bedürfnis zu saufen, [...] das steckt in ihm und kommt immer wieder raus.“ (S. 260) Hieran wird deutlich, dass es in Biberkopfs Natur liegt, sich lieber von den ‚Sorgen’ ‚freizusaufen’, als sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dieses Charakteristikum spielt für ihn eine wichtige Rolle. Denn auch psychisch und politisch-ideologisch betrachtet ist er ohne Halt.8

2.1.2 Biberkopfs (un)politische Haltung

Wie aus dem Kontext des Romans zu erfahren ist, gehört Biberkopf zu den zahlreichen Enttäuschten der Weimarer Republik. Auf die vier Jahre des Ersten Weltkriegs folgte für ihn, wie für viele andere, die Weimarer Republik mit Inflation und Lebensmittelknappheit.9

Vielfach wirken die Eindrücke des Krieges nach (vgl. S. 36), auch ist die Armut der Menschen immer wieder wahrzunehmen (vgl. S. 53).

Unter den vielen zeitgeschichtlich bedeutsamen Passagen, die Döblin in den Roman montierte, finden sich auch einige Einwürfe, die Auskunft über Biberkopfs politische Haltung geben. Dabei ist klar festzuhalten: Biberkopf versucht zwar, unpolitisch zu sein, muss sich aber immer wieder politisch positionieren.

Einerseits ist so zu erfahren, dass Biberkopf am liebsten „friedlich die Mottenpost [liest] und dann die Grüne Post, die ihm am besten gefällt, weil da nichts Politisches drinsteht.“ (S. 232) Andererseits verkauft er aber auch den „Völkischen Beobachter“. Dies geschieht jedoch nicht etwa aus Überzeugung, sondern aus finanziellen Erwägungen. Der Kommentar dazu (S. 82): „Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung.“ Auch als eine politische Diskussion über die Parteibinde Biberkopfs aufkommt, die er zum Verkauf der völkischen Zeitungen trägt, reagiert er recht indifferent: „Ob einer ne rote Bauchbinde hat oder ne goldene oder ne schwarzweißrote, davon schmeckt die Zigarre auch nicht besser.“ (S. 83) – Das Höchstmaß Biberkopf’scher Naivität bezüglich Politik wird schließlich spürbar, wenn dieser versucht, den „Völkischen Beobachter“ an seine jüdischen Freunde zu verkaufen (S. 170).

Genauso unbewusst wie Biberkopf an rechtsideologisches Gedankengut gerät, so ereignet es sich auch, dass er mit politisch linksorientierten Bürgern in Berührung kommt. Doch auf deren Aufforderung, die Internationale mitzusingen, antwortet er stattdessen: „Ich eß lieber. Wenn ich fertig bin mit Essen, sing ich mit oder singe auch was.“ (S. 89) Dies unterstreicht, wie viel wichtiger die Befriedigung der Grundbedürfnisse für Biberkopf im Vergleich zur politischen Positionierung ist. – Eine ähnliche Stelle findet sich hinsichtlich der Passage über Henschkes Stieglitz: Wichtiger als die ganze politische Diskussion ist für Biberkopf die Frage, ob der Vogel nicht unter dem Rauch leide (S. 89). Als am Nebentisch die Internationale angestimmt wird, ist Biberkopf beruhigt: „Wenn sie singen, rauchen sie nicht, das schadet dem kleinen Tier.“ (S. 89)

Unabsichtlich muss sich Biberkopf aber trotzdem immer wieder politisch einordnen, wobei er selbst durchgehend vielmehr um seine primären Bedürfnisse bekümmert ist. Deutlich ist dabei des Öfteren zu lesen, worauf es ihm wirklich ankommt, nämlich auf die finanzielle Absicherung: „Ick pfeife auf den ganzen Marxismus, uff Lenin und Stalin und die ganzen Brüder. Ob mir eener Kredit gibt, Pinke und wie lange und wie viel – siehste, darum dreht sich die Welt.“ (S. 281)

Zwar erscheint Biberkopf äußerst politisch uninteressiert. Gerade deshalb braucht er aber in dem chaotischen Großstadtleben klare Orientierungspunkte. Durch die Diskrepanz zwischen einerseits allgemeiner Indifferenz aber andererseits Suche nach Orientierungspunkten passiert es, dass Biberkopf dem Gewaltprinzip Reinholds verfällt. So gelingt es ihm auch nicht, seinen guten Vorsatz, „anständig sein“, umzusetzen und sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen.10 Damit Biberkopf – und auch der Leser – lernt, dass dies nicht der richtige Lebensweg ist, widerfahren ihm im Laufe seiner vom Roman erfassten ‚Geschichte’ drei „Schläge“.

2.1.3 Drei „Schläge“ gegen Biberkopf und dessen Reaktion

Da von vornherein festgelegt wird, dass Biberkopf von seinem geradlinigen, „anständigen“ Weg abgebracht wird, ist es eigentlich nicht überraschend, wenn ihn die drei „Schläge“ ereilen.

Die erste Enttäuschung trifft ihn durch den Verrat Lüders’. Biberkopf reagiert zunächst trotzig, flüchtet sich ins Saufen, aber hält doch prinzipiell am „Anständigsein“ fest.11

Durch Reinhold dann erfolgt der zweite „Schlag“: Biberkopf verliert seinen Arm. Daraufhin will er nicht mehr „anständig“ sein und meint, es sei die falsche Strategie gewesen, um es mit dem Schicksal aufzunehmen. – Ein Kernproblem Biberkopfs wird hieran sichtbar: Er glaubt, seine „Anständigkeit“, mit der er sich immer wieder selbst beschwört, könne ihn vor Unheil bewahren. Dabei verzichtet Biberkopf aber auf eine Analyse seiner Situation, auf eine genauere Betrachtung seiner Umwelt und seiner Möglichkeiten in ihr. Er setzt also das Ich absolut, statt seine Eingebundenheit in die Umwelt zu bedenken.12 – Sein Zorn geht, nachdem er seinen Arm verloren hat, schließlich so weit, dass er der ‚Welt’ den Kontrakt aufkündigt und höhnisch dem „Anständigsein“ den Laufpass gibt, weil ihm dieses nicht honoriert worden ist. Stattdessen verkrampft er sich jetzt ganz in seine Stärke, die er auch Reinhold beweisen will.13 Dies fordert jedoch sogleich den dritten „Schlag“ heraus: Nachdem Biberkopf vor Reinhold mit seiner Geliebten Mieze geprahlt hat, dieser würde sie niemals bekommen, bringt Reinhold Mieze um.14

[...]


1 Schwimmer, Helmut: Alfred Döblin‚ Berlin Alexanderplatz. Interpretation. 2. Aufl., unveränd. Nachdruck. München / Oldenburg 1985, S. 153.

2 in Anlehnung an den Roman steht ‚Buch’ hier für ‚Kapitel’

3 Schwimmer, Helmut: Interpretation, S. 63.

4 Sander, Gabriele: Alfred Döblin. Stuttgart 2001, S. 177.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. 43. Aufl., München 2003, vgl. S. 282: „Trink, trink, Brüderlein trink, lasse die Sorgen zu Haus, meide den Kummer und meide den Schmerz, dann ist das Leben ein Scherz, meide den Kummer und meide den Schmerz, dann ist das Leben ein Scherz.“

8 Sander, Gabriele: Alfred Döblin, S. 177.

9 Müller-Salget, Klaus: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung. In: Bonner Arbeiten zur Literatur, Bd. 22 (1976), 2. Aufl., Bonn 1988, S. 346.

10 Sander, Gabriele: Alfred Döblin, S. 177.

11 Müller-Salget, Klaus: Döblin. Werk und Entwicklung, S. 307.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 308.

14 Sander, Gabriele: Alfred Döblin, S. 177.

Excerpt out of 22 pages

Details

Title
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" - Ein politischer Roman?
College
University of Brussel  (Langue et Littérature Germanique)
Course
Histoire approfondie de la littérature allemande
Grade
1,7
Year
2006
Pages
22
Catalog Number
V129535
ISBN (eBook)
9783640361663
ISBN (Book)
9783640361748
File size
489 KB
Language
German
Keywords
Alfred, Döblins, Berlin, Alexanderplatz, Roman
Quote paper
Anonymous, 2006, Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" - Ein politischer Roman?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129535

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