Die Wiedergeburt des Mythos in der Postmoderne – Ovids „Metamorphosen“ in Ransmayrs „Die letzte Welt“


Trabajo Escrito, 2007

19 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Der postmoderne Rückgriff auf den Mythos
2.1 Philosophische Ansätze zum postmodernen Mythos
2.2 Der Umgang mit dem Mythos in „Die letzte Welt“

3. Ovids „Metamorphosen“ in der „Letzten Welt“
3.1 Antike Voraussetzungen zum Roman und Ransmayrs Umsetzung
3.2 Die „Metamorphosen“ der „Alten Welt“
3.3 Die „Metamorphosen“ der „Letzten Welt“ - Parallelen und Unterschiede zu Ovids Werk

4. Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Keinem bleibt seine äußre Gestalt, die Verwandlerin aller / Dinge, Natur, sie läßt aus Einem das Andere werden.“[1]

Dieses Zitat stammt aus den „Metamorphosen“ des römischen Dichters Ovid und spielt eine tragende Rolle in Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“. Schon beinahe gänzlich ins Abseits gedrängt, erlebt der Mythos in postmoderner Literatur einen enormen Aufschwung, wird sozusagen wiedergeboren. Mit Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ liegt uns ein Werk vor, das in postmoderner Umgebung das klassische Palimpsest, die „Metamorphosen“ des Dichters Ovid, wiederauferstehen lässt. Nicht zuletzt deshalb erfährt Ransmayrs „Letzte Welt“ fast ausschließlich positive Resonanz. So loben zahlreiche „Feuilletons von Frankfurter Allgemeiner, Zeit, Spiege l bis hin zur taz […] einstimmig“ den Roman, der „spielerische Umgang mit […] den Metamorphosen Ovids“[2] fasziniert die Rezensenten.

Zunächst werde ich auf das allgemeine Verständnis des Mythos in postmoderner Literatur eingehen und zeigen wie sich dieses auf Ransmayrs Roman auswirkt. Im zweiten Teil meiner Arbeit sollen dann die Ovidischen „Metamorphosen“ näher beleuchtet und ihr Einfluss auf den vorliegenden Roman erkennbar werden. Des weiteren werden die Gemeinsamkeiten der beiden Werke herausgefiltert und ihre Unterschiede klar abgetrennt.

2. Der postmoderne Rückgriff auf den Mythos

2.1 Philosophische Ansätze zum postmodernen Mythos

Vor allem während der vernunftorientierten Aufklärung wurden Mythen aufgrund ihrer Irrationalität für tot erklärt. Es herrschte ein „Absolutismus der Wirklichkeit“[3], von welchem sich die Postmoderne distanziert. Aus postmoderner Perspektive erscheint Rationalität als Unterdrückung und „die Rückkoppelung der Literatur auf eine fixierte Wirklichkeit als willkürliche Einschränkung“[4].

Der Mangel an Wirklichkeit ermöglicht eine Art Rückkehr in „die archaische Unverantwortlichkeit“[5], in der weder widersprochen noch widerstanden werden muss. Man kann sich dem Mythos sozusagen vollkommen hingeben, sich in ihm fallen lassen. Nietzsche spricht in seiner Philosophie von einer „Liebe zum Schicksal“ und meint damit das „Jasagen zu allem, auch zu den weniger angenehmen Seiten des Daseins“. Diese seien nur zu ertragen „in den beruhigenden, tröstlich schönen Bildern der Kunst“[6], bzw. des Mythos.

Die Irrationalität, die im krassen Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis steht, ist es aber gerade, die den Mythos in der literarischen Postmoderne so unentbehrlich macht. Aufgrund der abstrakten, für unser alltägliches Leben meist weitgehend unbedeutenden Wissenschaft, flüchten wir uns gerne in Geschichten, scheinen ohne Mythen nicht auskommen zu können. Die Mythologie fungiert also als eine Art Trost in einer immer fremder, technologisierter werdenden Welt – sie „bindet akute Erfahrungen, aktuelle Ereignisse in den Zusammenhang von Altvertrautheit“[7]. Man kann also sagen, dass das Befürworten des Mythos eine befreiende Wirkung hat. Daraus ergibt sich die Dialektik des Mythos: „Der Schrecken am Unverstandenen der mythischen Kräfte […] geht einher mit der Bewältigung des Schreckens durch die Kraft der Dichtung“[8].

Im Mythos wird das Subjekt vehement in den Hintergrund gedrängt. Die Wesen erfahren beispielsweise durch Verwandlungen die Strafe ihrer „angemaßten Subjektivität“. Es findet eine „Totalität der Verdinglichung“[9] statt, der das Subjekt vollkommen ausgeliefert ist; es kann sich seinem mythischen Schicksal nicht entziehen. Der Mythos spricht für sich selbst, er ist nicht Werk irgendeines Subjekts, welches nämlich gänzlich aus dem „Zentrum“ der Textproduktion verschwindet. Das Subjekt ist an die Struktur des Textes gebunden, „durch die Vorgabe des Textes geht die Welt im Mythischen auf“[10].

Durch die Wiedergeburt des Mythos werden intertextuelle Bezüge hergestellt, was für die postmoderne Literatur äußert charakteristisch ist. Dem Rückgriff auf Mythologien aus dem Altertum liegt immer ein bereits existierender Text zugrunde, aus dem der Mythos „immer aufs neue Motive, Fetzen und Reste […] aufhebt und neu rekonstruiert“[11]. Solch ein Verfahren ist unerschöpflich und kann immer wieder neu erfunden werden. Eine „ewige Wiederkehr des Immergleichen“[12] findet statt. Ziel dieser intertextuellen Bezugnahmen ist das Finden der „imaginären Ur-Schrift“, die über bestimmte Chiffren das richtige Verstehen eines Textes garantieren soll.[13] Die „Ur-Schrift“ wird nie gänzlich entschlüsselt und bleibt hinter dem eigentlichen Text im Verborgenen. Aufgrund der Nichtgreifbarkeit ist sie somit ebenfalls Mythos.

Zudem sei es Aufgabe des Textes „vermeintlich Unvereinbares wie beispielsweise Realität und Mythos, Historie und Neuzeit, Intellektualität und Unterhaltung (zu) verbinden, ohne in die Beliebigkeit bloßen Zitierens zu verfallen.“[14] Der Text soll somit das Kriterium der Mehrsprachigkeit erfüllen, er muss auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden können.

Die Funktion des Mythos, speziell des antiken, bestehe laut Heinrich Dörrie darin, „Aussagen über das Menschliche, insbesondere über die Deformation des Menschlichen durch Trieb und Leidenschaft möglich zu machen.“[15] Der Mythos funktioniert somit als eine Art Metapher. Durch die Verwendung mythischer Geschichten soll die „Unbegreiflichkeit von Natur- und Lebensvorgängen […] durch Zuhilfenahme von Übernatürlichem plausibler“[16] gemacht werden.

Durch das Schwinden der Wirklichkeit wird noch eine weitere Funktion des Mythischen sichtbar: Der Leser distanziert sich bei der Lektüre vom Werk; er kann sich „beruhigend sagen, dass alles nur – schöne – Kunst“[17], nur Mythos sei.

2.2 Der Umgang mit dem Mythos in „Die letzte Welt“

Folgt man der Interpretation Harbers so ist der „Ausgangspunkt“ zu diesem Roman „eine starke (romantische) Kritik an der rational-wissenschaftlichen, technischen Zivilisation, die dem Menschen zwar eine behagliche Existenz ermögliche, sie letzten Endes aber der wesentlichen Dinge entfremde.“[18] Dieser kritischen Haltung zum Fortschritt des 20. Jahrhunderts verleiht Ransmayr Ausdruck, indem er den Mythos neu aufleben lässt.

Ebenso wie die Diskrepanz zwischen vernunftorientierter, wirklichkeitsnaher Aufklärung und dem postmodernen, realitätsfremden Mythos, stehen sich in Ransmayrs Roman die Vernunftwelt Roms und das mythische Tomi gegenüber. Tomi ist ein Ort, wo vor allem Irrationalität herrscht und sich scheinbar alles der Metamorphose unterwirft, sich ständig verwandelt. In Tomi ist der Mythos noch lebendig, in Rom ist er längst „zu Denkmälern und Museumsstücken erstarrt“[19].

Die Bewohner Tomis, die beinahe alle der griechischen Mythologie zu entnehmen sind, widersetzen sich diesen Metamorphosen jedoch nicht nur nicht, sie reagieren ihnen gegenüber sogar fast gleichgültig, wie dies nicht nur bei der Verwandlung des Battus in Stein zu sehen ist: Nach anfänglichem Entsetzen rückte „das Schicksal des Fallsüchtigen allmählich zurück ins Gewöhnliche, in die Blässe der Erinnerung, wurde zur Erinnerung, wurde zur Legende und dann ebenso vergessen wie das Schicksal aller Bewohner dieser Küste.“[20] Die Menschen gehen hier gänzlich in Verantwortungslosigkeit auf, leben in einer wachen Ohnmacht und geben sich der „grenzenlose(n) Erleichterung in diesem Nachlassen und Zurücksinken“[21] hin.

Charakteristisch für Ransmayrs „Letzte Welt“ ist die Übertragung des Mythos in den Alltag, er ist somit unmittelbar greifbar und existiert nicht nur in irgendeiner Geschichte wie den „Metamorphosen“. Der alltägliche Mythos ist gekennzeichnet durch die Gleichgültigkeit, mit der die Bewohner Tomis auf ihn reagieren, wird also „entmystifiziert“.[22] Andererseits schreibt die Dorfgemeinde Dingen eine mythische Funktion zu, die eigentlich vollkommen realistisch sind. So sehen sie in einem Episkop, einem realen, technischen Werkzeug, ein „Wunderwerk, […] das […] die wertlosesten Dinge des Lebens heraushob und zu einer solchen Schönheit verklärte, dass sie kostbar und einzigartig wurden.“[23] Das Episkop dient auch als Ersatzmythos, den sich die Bewohner schaffen, nachdem der Filmvorführer Cyparis nicht mehr nach Tomi kommt, um dort seine verfilmten Mythen zu zeigen. Die Menschen, die zunächst immun dagegen zu sein scheinen, brauchen den Mythos „um eine Art von Hoffnung in diesem ‚Durchgangslager’ Tomi schöpfen zu können“[24]. Eine rationale Erklärung, wie sie der Branntweiner abgibt, nämlich dass das „Flackern der Bilder […] allein vom unrunden Lauf jenes Generators“[25] herrühre, wird strikt abgelehnt. Die Bejahung des Mythos gewährleistet den Bewohnern offensichtlich ein befreiendes Moment, aus welchem sie Trost gewinnen können. Und Trost bedarf es in Tomi zweifelsfrei: Die Menschen halten sich an diesem Ort des Zerfalls allesamt unfreiwillig auf, haben die Hoffnung auf eine Alternative jedoch längst aufgegeben. Auch persönliche Schicksale, wie Famas fallsüchtiger Sohn Battus oder die unglückliche, von Gewalt geprägter Beziehung zwischen Procne und dem Schlachter Tereus, erklären die Flucht in den Mythos.

[...]


[1] Naso, Publius Ovidius: Metamorphosen (zitiert nach der Übertragung in deutsche Hexameter von Erich Rösch, München 1961), Buch XV, V. 252f

[2] Epple, Thomas: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt, In: Oldenbourg Interpretationen, hrsg. v. Bernhard Sowinski und Reinhard Meurer, Bd. 59, 1. Aufl., München 1992, S. 9

[3] Bachmann, Peter: Die Auferstehung des Mythos in der Postmoderne: Philosophische Voraussetzungen zu Christoph Ransmayrs Roman ‚Die letzte Welt’. In: Diskussion Deutsch, Bd. 21/1990, S. 639-651. hier S. 642

[4] Epple: Christoph Ransmayr…, S. 95

[5] Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, S.15

[6] Harbers, Henk: „Die Erfindung der Wirklichkeit“: Zu Christoph Ransmayrs Die letzte Welt, In: The German quarterly, Bd. 67/1994, N.1, S. 58-72. hier S.67

[7] Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 109

[8] Bornemann, Christine, Kiedaisch, Petra: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, In: „Keinem bleibt seine Gestalt“, hrsg. v. Helmuth Kiesel und Georg Wöhrle 1990, S. 13-21, hier S. 18

[9] Bachmann: Die Auferstehung des Mythos…, S. 644

[10] Ebd., S. 649

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 646

[13] Vgl. Ebd.

[14] Wanke, Andrea, Sieber, Armin : Die letzte Welt – Konsumartikel, Kalligraphie oder einziger Trost? In: „Keinem bleibt seine Gestalt“, hrsg. v. Helmuth Kiesel und Georg Wöhrle 1990, S. 29-38, hier S. 31

[15] Harbers: Die Erfindung der Wirklichkeit., S. 67

[16] Bernsmeier, Helmut: Keinem bleibt seine Gestalt – Ransmayrs Letzte Welt, In: Euphorion, Bd. 85/1991, H.2, S. 168-181, hier S. 176

[17] Harbers: Die Erfindung der Wirklichkeit, S. 67

[18] Ebd. S.66

[19] Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt, Nördlingen 1988, S. 94

[20] Ebd., S. 217

[21] Ebd., S. 98

[22] Vgl. Mallad, Heike: Und ist es auch Mythos – so hat es doch Methode: der Umgang mit dem Mythos in Ransmayrs Letzter Welt, In: „Keinem bleibt seine Gestalt“, hrsg. v. Helmuth Kiesel und Georg Wöhrle 1990, S.23-28, hier S. 23f

[23] Ransmayr; Die letzte Welt, S. 209

[24] Mallad: Und ist es auch Mythos, S. 25

[25] Ransmayr: Die letzte Welt, S.209

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
Die Wiedergeburt des Mythos in der Postmoderne – Ovids „Metamorphosen“ in Ransmayrs „Die letzte Welt“
Universidad
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg
Calificación
1,0
Autor
Año
2007
Páginas
19
No. de catálogo
V129922
ISBN (Ebook)
9783640359233
ISBN (Libro)
9783640359585
Tamaño de fichero
474 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Wiedergeburt, Mythos, Postmoderne, Ovids, Ransmayrs, Welt“
Citar trabajo
Jessica Mohr (Autor), 2007, Die Wiedergeburt des Mythos in der Postmoderne – Ovids „Metamorphosen“ in Ransmayrs „Die letzte Welt“, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129922

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