Die persönliche Erfahrung des Todes als Reifung und Befähigung sterbende Menschen zu begleiten


Redacción Científica, 1992

24 Páginas


Extracto


EINLEITUNG

Seit alters her hat der Tod die Menschen fasziniert und in Schrecken versetzt. Selbst in der Vergangenheit unseres Kulturkreises war es nicht ungewöhnlich, dem Sterbenden angemessenen Beistand und Geleit zuteil werden zu lassen(29). # Denn „Sterben und Tod in der Situation der < communitas> rufen sowohl den Beistand der Gruppe für den Sterbenden als auch den Ausdruck von Kummer und Zorn auf Seiten der Hinterbliebenen hervor, die mit ihm eine wesentliche Person in der auf mystische Weise miteinander verbundenen sozialen Gruppe verlieren.“ [i] * Und bedenken wir, daß das Individuum dort starb, wo es gelebt hatte.

Betrachtungen zur Gegenwart geben Anlaß, kulturelle Errungenschaften dieser Art zu beklagen. Eine der Neuerungen, die der westliche Mensch durch die industrielle Revolution und dem aus ihr resultierenden technologischen Fortschritt hervorgebracht hat, ist die Entfremdung seiner selbst von fundamental biologischen Aspekten seiner Existenz. Was aber das Leben betrifft, findet sich auch im Tod wieder.

Schauen wir mit unserem erkenntnisleitenden Interesse auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem sterbenden Menschen in westlichen Kulturkreisen, so wird auf erschreckende Weise deutlich, daß der heutige Mensch versucht ist, den Tod verschwinden zu lassen. Pharmakologisch und technologisch induzierte Abstumpfung haben den Menschen verführt, sich jenseits des < tremendum> und < fascinosum> zu fühlen. Der lobotomische Schnitt ist fast geglückt und zwar kollektiv.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wohin wir auch schauen, in uns und um uns herum erscheint nur noch Leere, eine sinnentleerte Leere, der wir nur allzu schnell beizukommen versuchen, indem wir sie als Raum behandeln und mit Techniken und Anleitungen zu füllen bereit sind. In den 60er Jahren bereits schrieb der britische Psychiater, Ronald David Laing folgende Sätze: „Es besteht (heute) kaum (noch eine / d.Verf.) Verbindung zwischen Wahrheit und sozialer ´Realität`. Den Pseudoereignissen um uns passen wir uns an im falschen Bewußtsein, sie seien wahr, real und sogar schön. In der menschlichen Gesellschaft liegt die Wahrheit jetzt weniger in dem, was die Dinge sind, als in dem, was sie nicht sind...“[ii]

# Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Bibliographie im Anhang.

*Anmerkungen zum Text schlagen Sie bitte am Ende dieses Aufsatzes nach

In den westlich hochentwickelten Ländern geben Staat und Bürger mittlerweile mehr Geld für die Beseitigung von Schmerz aus als für die Förderung und Anhebung des Bewußtseins in der Gesellschaft, ein Bewußtsein, das notwendig erscheint, um alternative Möglichkeiten zur Sterbebegleitung in die Betrachtung rücken zu lassen.

Der sterbende Mensch - und dies ist nicht der opiatisierte, der narkotisierte und der von Tranquilizern ruhig gestellte Mensch, der sterbende Mensch vermag uns in die Lage zu versetzen, aus der heraus wir unsere gewohnte objektive Betrachtungsweise in Frage stellen können, vorausgesetzt, wir verspüren in uns die Fähigkeit, uns von ihm berühren zu lassen (7). Obwohl wir als Menschen, die einen sozialen Dienst versehen, berufen sind, angemessenen pflegerischen Beistand zu geben, obwohl wir medizinische und administrative Aufgaben mit aller Sorgfalt zu erledigen wissen, sind wir im Augenblick des Sterbens immer auch in unserem ontologischen Status [iii] angesprochen. Der Gültigkeitsanspruch einer solchen Aussage kann allerdings nur dann eingelöst werden, wenn der Hilfeleistende mit Mitgefühl seinen Dienst wahrzunehmen weiß.[iv] Wir wollen das Sein des Menschen also zur Voraussetzung, aber auch zum Ziel unserer Untersuchung machen. Diese Untersuchung will das Sein nicht in einem abstrakt philosophischen Sinn zu vermitteln trachten, sondern möchte sich darin bescheiden, ihm in der menschlichen Erfahrung nachzuspüren, ja noch genauer, wollen wir das menschliche Sein wie es sich im Sterbeprozeß und der Todeserfahrung preisgibt, zur Erhellung kommen lassen. Der Sinn eines solchen Vorgehens erweist sich meiner Überzeugung nach darin, daß alles, was wir brauchen, um aufrichtig und angemessen einem sterbenden Menschen zu begegnen, ein tieferes Verständnis unseres eigenen persönlichen Todes ist. Es ist meine Ansicht, daß, wollen wir über den Prozeß des Sterbens und über die Todeserfahrung wirklich etwas lernen, wir über jeden Szientismus[v] hinausgehen müssen, denn der Prozeß des Sterbens, um dies vorwegzunehmen, ist im ontologischen Sinn ein Übergang des Geistes aus seiner Objektivität in die Subjektivität - multum, non multa.

Ich möchte diesen Zusammenhang an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wenn Sie als Mann oder als Frau wissen möchten, was Sexualität ist, dann kann es sinnvoll sein, ein Lehrbuch der Anatomie und der Biologie zu studieren. So werden Sie um einige Kenntnis reicher werden, nur werden Sie ihren Wunsch nicht wirklich erfüllt finden. Wenn Sie aber sexuell werden, dann werden sie wissen, was Sexualität ist, was noch nicht heißen muß, daß Sie auch darüber sprechen oder denken können.

Ich hoffe, daß ich mit diesen einleitenden Bemerkungen Einsicht in die Notwendigkeit vermitteln konnte, alle weiteren Aussagen über das Sterben und den Tod aus den Zeugnissen menschlicher Erfahrung zu gewinnen.

DIE EXISTENTIELLE SITUATION DES MENSCHEN: DAS LEBEN ALS SEIN ZUM TODE.

Wenn Sie sich entschlossen haben, diesen Artikel über den Prozeß des Sterbens und über die Todeserfahrung zu lesen, dann müssen Sie, dies wenigstens ist für mich offensichtlich, auf die eine oder andere Weise in Ihrem Leben vom Tod berührt worden sein. Einige von Ihnen mögen selbst schon in die Nähe des Todes gekommen sein, andere haben den Tod geliebter Menschen in ihrer Nähe erfahren und viele von Ihnen sind auch im beruflichen Rahmen mit dem Tod anderer ihnen anvertrauter Menschen immer wieder konfrontiert worden.

Menschen, die in einem institutionellen Rahmen Ihren Dienst verrichten, berichten, daß große Überlastung, die durch Personalnot, finanzielle Begrenzungen und einem eingeengten Ermessensspielraum auf sie zukomme, ihnen keine andere Wahl ließe, als ihre Arbeit zur Routine werden zu lassen, um sie überhaupt bewältigen zu können. Bezüglich einer Situation mit sterbenden Menschen treten mangelnde Vorbereitung und Ausbildung und die Konfrontation mit den eigenen persönlichen Ängsten, die durch eine solche Situation geweckt werden, zu dieser allgemeinen Überlastung hinzu.

Während außerhalb des institutionellen Rahmens eine große Anzahl von Menschen sich für den Gedanken der humanen Sterbehilfe, wie sie erstmals von Cicely Saunders 1967 in London ins Leben gerufen worden war, begonnen haben zu interessieren und die sogenannte Hospizbewegung (Herberge zum Sterben) viele Freunde und Förderer gefunden hat, scheint das Dilemma in den Krankenhäusern und Heimen, in denen zur Zeit in Deutschland 8 von 10 Menschen sterben, eher noch zuzunehmen.[vi]

Ungeachtet dieser Situation scheint die existentielle Situation des Menschen zu allen Zeiten unverändert gewesen zu sein. Im Mittelalter wußten die Menschen dies besonders schön mit dem lateinischen Sprichwort auszudrücken: Mors certa hora incerta - „Nichts im Leben ist so sicher wie der Tod, und nichts ist so ungewiß wie der Zeitpunkt, wann er eintreten mag.“ Die sogenannte Ars moriendi Literatur (29), die Sterbeliteratur des Mittelalters, wußte sich diesen Leitspruch zunutze zu machen. Sie gab den Lebenden einen Leitfaden, indem sie betonte, daß es wichtig sei, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, einerseits um im Augenblick des Todes angemessen vorbereitet zu sein, andererseits aber, um das Leben in seiner ganzen Tiefe und im Einklang mit der Wahrheit zu leben.

Glücklicherweise finden wir auch heute in den verschiedensten Bereichen der Wissenschaften und in den sozialen Institutionen ein erhöhtes Interesse an echter Information und authentischen Erfahrungswerten, um den Tod menschlicher zu machen, um dem sterbenden Menschen wieder mit Würde entgegentreten zu können und die Überlebenden von ihrer tiefsitzenden Angst vor dem Tode zu befreien.

In den verschiedensten Fachkreisen findet sich die einhellige Überzeugung, daß die unterschiedlichsten Bemühungen für einen bewußteren Umgang mit dem Tod in der Arbeit und Person von Frau Dr. Elisabeth Kübler-Ross, die bis vor einigen Jahren als Psychiater todkranke Menschen in der Universitätsklinik in Chicago begleitete, seine Krönung gefunden hat.

In ihrem ersten Buch Interviews mit Sterbenden (19), das als bahnbrechend angesehen werden kann, faßte Frau Kübler-Ross ihre Erfahrungen hinsichtlich der psychotherapeutischen Arbeit mit Schwerkranken, Sterbenden, aber auch bezüglich der Resultate und Schwierigkeiten, die sich in den von ihr durchgeführten Schulungsseminaren mit Angehörigen der Heilberufe auftaten, zusammen. Sie hob hervor, daß die Sterbenden echten menschlichen Kontaktes und psychotherapeutischer Hilfe bedürfen, daß eine ehrliche und offene menschliche Kommunikation notwendig sei, und daß kein Sterbender als ein Todgeweihter aufgegeben werden darf. „Unter einem theoretischen Gesichtspunkt hat Frau Dr. Kübler-Ross fünf aufeinanderfolgende Stufen skizziert, die durch spezifische emotionelle Reaktionen und Einstellungen charakterisiert sind, welche die Sterbenden mit der Verflechtung ihres körperlichen Zustandes durchlaufen.“[vii] Obwohl diese Phasen nacheinander aufgeführt werden, dürfen sie jedoch nicht als linear in ihrer Abfolge betrachtet werden, einfach deshalb, weil das Leben sich nicht linear verhält.

Die Phasen sind:

- die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens und der Isolation
- die Phase des Zorns
- die Phase des Verhandelns
- die Phase der Depression
- die Phase der letztendlichen Zustimmung

In den letzten Jahren hat sich Frau Kübler-Ross, wie aus ihren Büchern hervorgegangen ist, vermehrt mit den subjektiven Erfahrungen von Sterbenden beschäftigt, auf die ich jetzt näher eingehen möchte.

1977 veröffentlichte der Arzt und Philosoph, Raymond D. Moody, sein Buch Leben nach dem Tod (25). Er hatte in den 70er Jahren ein lebhaftes Interesse an den subjektiven Erfahrungen von Menschen entwickelt, die in die Nähe des Todes gekommen waren. Er sammelte mehr als 400 Berichte, die ihm Personen gegeben hatten, die entweder selbst in die Nähe des Todes gekommen waren, oder denen ein solcher Bericht von nahen Verwandten oder Freunden erzählt worden war. Moody erkannte bei der Durchsicht dieses Materials, daß bei aller Verschiedenheit im Detail diesen Berichten ein gemeinsamer Nenner zugrunde lag. In den gleichen Zeitraum fiel die Veröffentlichung einer Untersuchung, die völlig unabhängig von der Forschung Moodys von den zwei Parapsychologen Karlis Osis und Erlendur Haraldsson gemacht worden war (28). Osis und Haraldsson hatten 10 000 Fragebögen an Krankenschwestern und Ärzte in verschiedenen Kontinenten geschickt. 640 dieser Fragebögen kamen beantwortet zurück. Sie enthielten insgesamt 35540 Beobachtungen, die sich für das Thema: „Was erleben Menschen, wenn sie sterben“, als relevant erwiesen.

Um es abzukürzen, die Ergebnisse der Untersuchung von Osis und Haraldsson konnten die Forschungsresultate Moodys im allgemeinen bestätigen. Anfang der 80er Jahre dann entwickelte sich aus diesen ersten thanatologischen [viii] Schritten heraus ein eigenständiger Wissenschaftszweig, der unter dem Namen ´Nahtodes - Studien` bekannt geworden ist. Ein Institut wurde gegründet und der Universität Connecticut zugeordnet. Der bekannteste Vertreter dieser Forschergruppe ist der amerikanische Psychologieprofessor Kenneth Ring, dessen Bücher (31/ 32) mittlerweile auch in Deutschland schon ein breites Publikum gefunden haben. Rings´ Forschungsergebnisse bestätigen ebenfalls die Ansichten seiner Vorgänger. Überdies war es ihm möglich zu zeigen, daß Erfahrungen dieser Art, wie wir sie sogleich kennenlernen werden, nicht nur bei vereinzelten Individuen auftreten, sondern dem Menschen eigen zu sein scheinen. Hierfür sprechen auch Zahlen, die das bekannte Gallup Institute in New York vorgelegt hat. Laut wissenschaftlicher Befragung (9) ist es belegt, daß von 160 Millionen Amerikanern schon 8 Millionen eine Nahtodes - Erfahrung gehabt haben. Diese Zahl dürfte sich über die Jah Jahre noch weitaus erhöht haben, bedenken wir, daß die Wiederbelebungstechniken in der Medizin sich immer weiter verbessert haben und noch weiter verbessern werden. Auf diesem Hintergrund sollte uns erlaubt sein, durchaus von einem allgemein bezeugten Phänomen zu sprechen, das gerade auch deshalb unser ganzes Interesse verdient.

[...]


[i] (14) S. 18

[ii] (20) S. 9

[iii] Der Begriff Ontologie ist hier nicht in einem abstrakt philo- sophischen Sinn gemeint, sondern bezieht sich eher auf einen empirischen Bestand von sein, wie ihn wohl Ronald D. Laing im Auge hatte, als er von einem adjektivistischen Derivat sprach (vergl. 21/ S.47), siehe auch (22).

[iv] Steve Levine (23) zeigt sehr schön, welche konkrete Bedeutung der Begriff „Mitgefühl“ in der Situation des sterbenden Menschen haben kann.

[v] hierzu siehe Laing (22), insbesondere 1. Teil (1-4).

[vi] Die Vereinigung <Omega>, die das Ziel humanen Sterbens verfolgt, gibt reichhaltiges Material an die Öffentlichkeit über soziale, rechtliche, pflegerische und existentielle Probleme zur konkreten Sterbesituation. Siehe auch (27).

[vii] (14) S.24

[viii] griech. Thanatos = der Tod; Thanatologie ist die Wissen -

schaft vom Tode.

Final del extracto de 24 páginas

Detalles

Título
Die persönliche Erfahrung des Todes als Reifung und Befähigung sterbende Menschen zu begleiten
Autor
Año
1992
Páginas
24
No. de catálogo
V130085
ISBN (Ebook)
9783640362820
ISBN (Libro)
9783640363186
Tamaño de fichero
493 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Erfahrung, Todes, Reifung, Befähigung, Menschen
Citar trabajo
Meinolf Schnier (Autor), 1992, Die persönliche Erfahrung des Todes als Reifung und Befähigung sterbende Menschen zu begleiten, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130085

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