Die Verschuldung westeuropäischer Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor und nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages vor dem Hintergrund der Veto-Spieler-Theorie


Hausarbeit, 2008

41 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Einführung und Fragestellung
1.2 Methodisches Vorgehen

2 Theoretischer Teil und Entwicklung der Hypothesen
2.1 Definitionen und zentrale Begriffe zur Staatsverschuldung
2.2 Die Konvergenzkriterien der Europäischen Wirtschafts- und Währungsuni- on und die Rolle der Kommission
2.3 Die Veto-Spieler Theorie nach George Tsebelis
2.4 Veto-Spieler und die ökonomische Demokratietheorie nach Anthony Downs
2.5 Interne und externe Veto-Spieler
2.6 Vetopunkte von André Kaiser und der Veto-Spieler-Index nach Manfred G Schmidt

3 Empirischer Teil
3.1 Die Staatsverschuldung vor Maastricht: 1973 bis 1992
3.2 Die Staatsverschuldung nach Maastricht: 1993 bis 2007
3.3 Vergleich der Entwicklung
3.4 Überprüfung auf Scheinkorrelationen
3.4.1 Die Variablen
3.4.2 1973 bis 1992
3.4.3 1993 bis 2006

4 Fazit

5 Verzeichnis der Abbildungen

6 Verzeichnis der Tabellen

7 Autorenversicherung

1 Einleitung

1.1 Einführung und Fragestellung

Staatsverschuldung ist ein uraltes Problem und die Folgen, die sich daraus ergeben, sind in fachwissenschaftlichen Kreisen umstritten. Für die klassische Ökonomie war die Staats-verschuldung „die schrecklichste Geißel der Nationen” (Ricardo 1951: S. 197), weil sie als Ursache für Systemzusammenbrüche galt. Zudem ermöglichte die Verschuldung den Herrschern, das Steuerbewilligungsrecht der Parlamente zu umgehen (Wagschal 1996: 76). Auch die Neoklassik steht der Staatsverschuldung ablehnend gegenüber, da sie private Nachfrage verdränge („Crowding out”). Der Staat entziehe der Wirtschaft durch die Kredit-aufnahme Kapital, das dann nicht mehr für private Investitionen zur Verfügung stehe. Mit steigendem Defizit würden zudem die Zinssätze steigen, womit sich der Verdrängungseffekt verstärke. Einzig der Keynesianismus kann der Staatsverschuldung politive Aspekte abge-winnen. Weil diese ökonomische Denkrichtung die Wirtschaft im Gegensatz zur Neoklassik als instabil begreift, müsse der Staat in ökonomischen Schwächephasen durch Kreditauf-nahme in das Wirtschaftsgeschehen intervenieren, um die Auswirkungen der Rezession zu begrenzen (so genanntes „deficit spending”). In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs solle der Staat dann die Verschuldung wieder abbauen, so die keynesianische Idealvorstel-lung (Wagschal 1996: 85).

Wie auch immer man die Wirkungen der Staatsverschuldung interpretieren mag, die Dis-kussion über mögliche institutionelle Bedingungen, die eine Verschuldung begünstigen oder begrenzen, ist relativ neu (Wagschal 1996: 13ff.). Speziell demokratischen Systemen spra-chen allerdings sehr früh viele Staatstheoretiker bis ins 20. Jahrhundert hinein die Fähig-keit ab, gemeinwohlorientierte und zukunftsfähige Entscheidungen treffen zu können (sie-he Überblick bei Schmidt 2001). Alexis de Tocqueville erkannte in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika”, dass „die Schwierigkeit in der Demokratie, die Leidenschaften zu beherrschen und die Bedürfnisse des Augenblicks zugunsten der Zukunft zu unterdrücken” (de Tocqueville 1976: 258) ein spezifisches Problem demokratischer Ordnungen ist. Auch heute noch zählt die Kurzatmigkeit bei vielen Autoren zu den Schwächen der Demokratie. So konstatiert Schmidt (2001: S. 390), dass die Politik in der Demokratie unter kurzfristi-gem Erfolgszwang stehe, vor allem auf Grund der Allgegenwart von Massenmedien, relativ kurzen Legislaturperioden und innerparlamentarischer und innerparteilicher Profilierung. Deshalb neige die Politik in Demokratien zu „short-termism”, zu Problemlösungen, die kurzfristig wirken, aber nicht weit reichen. Kurzatmige Politik neige dazu, Kosten zu La-sten Dritter zu verlagern. Zu den hiervon Betroffenen gehörten die Jüngeren und zukünfti- gen Generationen, weil die Politik in vielen Demokratien aus Gründen der Machtverteilung und des Strebens nach Wahlerfolg dazu neige, die Alterssicherung weit auszubauen und die Familien- und Kinderförderung sowie die Aus- und Weiterbildung zu vernachlässigen. Zudem neige die Politik in fast allen Demokratien dazu, die Kosten des politischen Be-triebs durch hohe Staatsverschuldung zu finanzieren, womit sie die Interessen zukünftiger Generationen vernachlässige.

Mitte der 1990er Jahre erlangte die von George Tsebelis in einem Aufsatz im „British Jour­nal of Political Science” vorgestellte Veto-Spieler-Theorie breite Aufmerksamkeit. Ihr Reiz besteht unter anderem darin, „in beeindruckender Sparsamkeit [...] unterschiedliche Institu-tionen zu erfassen” (Benz 2004: S. 43). Diese Arbeit untersucht die Verschuldung westeuro-päischer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vor und nach dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union (Maastrichter Vertrag) vor dem Hintergrund der Veto-Spieler-Theorie. Forschungsleitende Frage ist, inwieweit die institutionellen Verände-rungen durch den Maastrichter Vertrag, speziell der Bedeutungszuwachs der Europäischen Kommission zu einem Veto-Spieler nationaler Haushaltspolitik, die Entwicklung der Staats-verschuldung in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beeinflusst hat.

1.2 Methodisches Vorgehen

Zur Untersuchung dieser Frage wird zunächst kurz zentrale Begriffe zur Staatsverschul-dung genauer erläutert. Anschließend wird das Maastricht-System genauer vorgestellt, auch um im Hinblick auf die Fragestellung zu erklären, welche Möglichkeiten die Europäische Kommission genau hat, um Einfluss auf nationale Haushaltspolitiken auszuüben. Im darauf folgenden theoretischen Teil wird die Veto-Spieler-Theorie vorgestellt, wie sie von Geor­ge Tsebelis entwickelt wurde. Weil der analytische Rahmen, den die Theorie von Tsebelis bietet, für die Fragestellung dieser Arbeit nicht ganz passt, stelle ich anschließend den von André Kaiser entwickelten Ansatz der Veto-Punkte vor, der von Manfred G. Schmidt weiter-entwickelt und in Form eines Veto-Spieler-Indexes operationalisiert wurde. Aus dem theo-retischen Rahmen werden Hypothesen über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Veto-Spieler und dem Verschuldungsgrad der Staaten abgeleitet. Dabei wird das Forschungsdesign des „Most similar case study” angewendet. Die Anzahl der Veto-Spieler wird, wie im theoretischen Teil begründet, mit Hilfe des Veto-Spieler-Indexes von Man­fred G. Schmidt operationalisiert. Zur Kontrolle der externen Varianz beschränkt sich die Anzahl der westeuropäischen Staaten auf jene, die seit 1973 Mitglied der Europäischen Ge-meinschaften waren. Demnach werden nur die Staaten Belgien, Deutschland, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Italien, Dänemark, Irland und Großbritannien in die Untersuchung einbezogen. Die politischen Systeme dieser Staaten waren alle seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchgehend demokratisch, wobei die Mindestkriterien von Herbert Döring – Geltung von Grund- und Freiheitsrechten, freie Wahlen und Institutionen, die die Handlun-gen der Regierenden an die Präferenzen der Wähler koppeln – die politischen Systeme als demokratisch definieren (Döring 2003: 8ff.).

Die Hypothesen werden im empirischen Teil mit einer bivariaten Regressionsanalyse über-prüft, die in drei Teilen durchgeführt wird. Im ersten Teil wird die Anzahl der Veto-Spieler in Beziehung zur Staatsschuldenquote im Zeitraum von 1973 bis 1992 gesetzt. Für jeden Staat werden aggregierte Durchschnittswerte ermittelt und mit dem Veto-Spieler-Index in Beziehung gesetzt. Des Weiteren wird die durchschnittliche Veränderung der Staatsschul-denquote für jeden Staat im Zeitraum von 1973 bis 1992 ermittelt. Die selbe Regression wird im zweiten Teil für den Zeitraum 1993 bis 2006 durchgeführt, wobei für alle Staaten die Europäische Kommission als zusätzlicher Veto-Spieler hinzu addiert wird. Zum Schluss werden die Ergebnisse verglichen und mit Kontrollvariablen auf Scheinkorrelationen über-prüft. Als Quelle dienten die jährlich erscheinenden Wirtschaftsberichte der OECD und die Datenbank von Eurostat.1

Die Regressionsanalyse ist, wie das Design der Arbeit vermuten lässt, Mittel zum Zweck und nicht Zweck seiner selbst. Die relativ geringe Fallzahl von der in die Untersuchung einbezogenen Staaten (n=9) hat Folgen für die Bewertung der statistischen Signifikanz des errechneten Korrelationskoeffizienten. Die Entscheidung, zur Kontrolle der externen Vari-anz die Zahl der in die Untersuchung einbezogenen Fälle zu begrenzen, legt nahe, die in der quantitativen Analyse errechneten Werte nicht überzubewerten und zum anderen die Schwelle der statistischen Signifikanz des Korrelationskoeffizenten relativ hoch zu legen,2 wobei darauf verzichtet wird, sich auf einen Wert, ab dem der Korrelationskoeffizient als statistisch signifikant angesehen wird, explizit festzulegen.3

2 Theoretischer Teil und Entwicklung der Hypothesen

2.1 Definitionen und zentrale Begriffe zur Staatsverschuldung

Staatsverschuldung entsteht, wenn die der Staat weniger Geld einnimmt als er ausgibt und er zur Schließung der Finanzierungslücke der bereitgestellten öffentlichen Güter anstatt die Einnahme- oder Ausgabeseite zu verändern, das heißt entweder die Steuern zu erhöhen oder die Ausgaben zu senken, Kredite aufnimmt.4 Zur Messung der Staatsverschuldung existie-ren unterschiedliche Indikatioren. Von Bedeutung ist zunächst der Schuldenstand, der die Verbindlichkeiten eines Staates zu einem bestimmten Zeitpunkt angibt (hierzu wie im fol-genden Wagschal 1996: 24ff.). Die Nettoneuverschuldung gibt die Differenz zwischen den Staatsausgaben und den Einnahme innerhalb eines Haushaltsjahres an. Als Bruttokreditauf-nahme wird die Summe aller innerhalb eines Jahres von der öffentlichen Hand aufgenom-menen Kredite bezeichnet. Substrahiert man von der Bruttokreditaufnahme die Tilgungen früher aufgenommener Kredite, erhält man die Nettokreditaufnahme. Die Nettokreditauf-nahme wird häufig auch als „Schuldenzuwachs” bezeichnet, weil die Nettokreditaufnahme angibt, um wieviel die Staatsverschuldung innerhalb eines bestimmten Zeitraums anwächst. Die Begriffe Nettokreditaufnahme und Finanzierungssaldo werden häufig analog verwen-det, weil sich das Finanzierungssaldo nur durch Finanzierungsvorgänge von der Nettokre-ditaufnahme unterscheidet.5

Die für diese Arbeit zentralen Größen zur Bestimmung der Staatsverschuldung sind die Staatsschuldenquote und die Defizitquote, weil diese beiden Indikatoren im Vertrag von Maastricht als die zentralen Bestimmungsgrößen für die Höhe der Staatsverschuldung her-angezogen werden. Die Staatsschuldenquote setzt den Schuldenstand des Gesamtstaates in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Defizitquote beschreibt die Nettokredit-aufnahme in Relation zum BIP. Weil die Entwicklung der Staatsschuldenquote kausal mit der Defizitquote zusammenhängt, beschränkt sich die Arbeit im weiteren Verlauf auf die Staatsschuldenquote. Im Folgenden wird kurz das im Vertrag von Maastricht implementier-te supranationale System der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vorgestellt.

2.2 Die Konvergenzkriterien der Europiischen Wirtschafts- und Wihrungsunion und die Rolle der Kommission

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichten sich mit dem Vertrag von Maas­tricht, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden. (Art. 104c Abs. 1)6 Des Weiteren heißt es in Art. 104, dass die Kommission „die Entwicklung der Haushaltslage und die Hö-he des öffentlichen Schuldenstandes in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler” überwacht. Nach dem „Protokoll über das Verfahren bei übermä-ßigen Defizit” darf die Staatsschuldenquote der Mitgliedstaaten 60 Prozent und die Defizit-quote drei Prozent nicht überschreiten. Ausnahmen sind nach Art. 104 möglich, wenn die Staatsverschuldung „erheblich oder laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nä-he des Referenzwertes erreicht hat” oder wenn „der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird”. Verstößt ein Mitgliedstaat gegen eines der beiden Krite-rien, erstellt die Kommission einen Bericht und legt diesem den Rat vor. Der Rat entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt und beschließt Maß-nahmen, wobei der betroffene Staat kein Stimmrecht besitzt. Die Maßnahmen reichen von Empfehlungen, um die Staatsverschuldung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes abzu-bauen, bis zu Geldbußen „in angemessener Höhe”.

Die Kommission ist also nicht die letztlich entscheidende Instanz, ob ein übermäßiges Haus-haltsdefizit vorliegt oder nicht. Sie spricht auch keine Sanktionen gegen den betroffenen Mitgliedstaat aus. Aber sie überwacht die Entwicklung der Haushaltsdefizite der Mitglied-staaten und leitet ggf. Verfahren ein. Damit ist die Kommission die zunächst maßgebliche Instanz für die nationalen Regierungen. Auch ohne direkte Sanktionsmacht kann die Kom-mission daher als ein Veto-Spieler in der nationalen Haushaltspolitik angesehen werden, weil die Einleitung eines Defizitverfahrens als ein „Veto” interpretiert werden kann, wenn die Regierungen in der Folge unter Rechtfertigungsdruck vor der nationalen Öffentlichkeit geraten und gegebenenfalls sogar Legitimationsentzug droht. Die Sanktionierung durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit ist hingegen theoretisch nicht unproblematisch, weil zu be-fürchten ist, dass „Defizitsünder” eine Sperrminorität bilden, um sich gegenseitig vor Sank-tionen zu schützen.7

Beim Europäischen Rat 2005 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Mitglied-staaten, die Auslegung der Konvergenzkriterien, insbesondere des Defizitkriteriums, zu „fle-xibilisieren”. Mehrere Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien verlangten eine flexiblere Auslegung der Kriterien, bei deren Verstoß die Kommission ein Defizitverfahren eröffnete (Belafi, Mahrun 2005: S. 2ff.). De jure blieben die Konvergenz-kriterien erhalten, jedoch sollte sich die Auslegung und Interpretation insbesondere des Defizitkriteriums stärker an den jeweils nationalen Gegebenheiten orientieren. Demnach werden seit 2005 Ausgaben für Forschung, Nettozahlungen an die EU, negative Salden im Rahmen von Rentenreformen und Kosten für die Vereinigung Europas8 beim Defizitkrite-rium berücksichtigt.9

2.3 Die Veto-Spieler Theorie nach George Tsebelis

Da ich die Europäische Kommission im vorigen Teilabschnitt als Veto-Spieler nationaler Haushaltspolitik identifiziert habe, möchte ich nun die Veto-Spieler-Theorie vorstellen, wie sie von George Tsebelis entwickelt wurde. Tsebelis reduziert die Entscheidungsfähigkeit politischer Systeme auf diejenigen individuellen oder kollektiven Akteure, deren Zustim-mung für das Zustandekommen einer Entscheidung notwendig ist (Tsebelis 1995: S. 293). Diese Akteure nennt Tsebelis Veto-Spieler. Tsebelis unterscheidet weiter zwischen „insti­tutional veto player” und „partisan veto player”. Institutionelle Veto-Spieler finden sich Tsebelis zufolge vor allem in präsidentiellen Regierungssystemen wie den USA, wo der Kongress einen institutionellen Veto-Spieler der Regierung darstellt. „Partisan veto player” findet man hingegen vor allem in parlamentarischen Systemen und bezeichnet letztlich die an der Regierung beteiligten Parteien (Tsebelis 1995: S. 289).10 Die Wahrscheinlichkeit, ob in einem spezifischen Politikfeld eine Entscheidung in Form einer Policy-Änderung zu Stande kommt, hängt Tsebelis zufolge von drei Faktoren ab:

- die Anzahl der Veto-Spieler,
- die Policy-Distanz zwischen den Veto-Spielern,
- die interne Kohäsion der Veto-Spieler, sofern es sich um kollektive Akteure handelt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Winset bei zwei, drei und vier Veto-Spielern.

Quelle: Tsebelis 1995a

Abbildung 1 verdeutlicht die theoretischen Argumente von Tsebelis anhand einer geometri-schen Darstellung. Um den für die Fragestellung interessanten Zusammenhang zu verdeut-lichen, sind lediglich die Punkte B, C, D sowie SQ und A2 von Interesse. Das Dreieck ABC ist für unseren Zusammenhang irrelevant. Der Punkt SQ stellt den Status Quo in einem be-liebigen Politikfeld dar. Nehmen wir an, dass die Punkte B und C Parteien darstellen, die zusammen eine Regierung stellen. Für Tsebelis sind in parlamentarischen Regierungssy-stemen nur die an der Regierung beteiligten Parteien Veto-Spieler. Die Zusammensetzung des Parlaments ist für Tsebelis nur bei Minderheitsregierungen relevant. Die die Regierung stützenden Mehrheitsfraktionen im Parlament sind für ihn bei „minimum winning coaliti-ons”11 keine selbstständigen Veto-Spieler, obwohl ihre Zustimmung formal benötigt wird. Sie sind Teil der kollektiven Veto-Spieler und mögliche Differenzen zwischen Regierungs-mitgliedern und den Mehrheitsfraktionen sind demnach eine Frage der internen Kohäsion der Vetospieler (Tsebelis 1995b: S. 89f.).

Die geometrische Position der Punkte B und C stellt die Idealpunkte der Parteien für einen aus ihrer Sicht idealen Status Quo dar. Sie streben also danach, den Status Quo möglichst so zu verändern, dass der Status Quo ihrem eigenen Idealpunkt möglichst nahe kommt. Die Kreise um die Idealpunkte, Indifferenzkurven genannt, definieren die Kompromissfähigkeit der Veto-Spieler, also den Bereich um den eigenen Idealpunkt, den die Veto-Spieler noch zustimmen können. Der Bereich außerhalb der Indifferenzkurven ist für die jeweiligen Veto-Spieler inakzeptabel und gegen eine Veränderung des Status Quo in diesem Bereich würde der entsprechende Veto-Spieler seine Zustimmung verweigern. Wenn also die Spieler B und C eine Koalition bilden und eine gemeinsame Regierung bilden, dann ist die einfach schraf-fierte Schnittmenge WBC, „Winset” genannt, der beiden Indifferenzkurven von B und C der Bereich, in dem eine Policy-Veränderung stattfinden kann. Kommt nun mit D ein weite-rer Veto-Spieler hinzu, reduziert sich das Winset auf die doppelt schraffierte Schnittmenge WBCD. Tritt mit A2 noch ein zusätzlicher Veto-Spieler der Koalition bei, ist das Winset leer, das heißt eine Policy-Veränderung ist überhaupt nicht möglich, da der Status Quo den Schnittpunkt der Indifferenzkurven aller Veto-Spieler darstellt.

Tsebelis folgert daraus, dass mit der Zunahme der Veto-Spieler das Winset niemals vergrö-ßert werden kann (Tsebelis 1995a: S. 297). Im Besten Fall bleibt das Winset gleich groß. Dies ist dann der Fall, wenn die Position eines Vetospielers sowie dessen Indifferenzkurve sich innerhalb der Indifferenzkurve eines anderen Veto-Spielers befindet. Mit der Zunahme der Veto-Spieler steigt also die Policy-Stabilität, das heißt, die Möglichkeiten zu Ände-rung des Status Quo verringern sich bis zu dem Punkt, das eine Veränderung überhaupt nicht möglich ist, sofern alle für das Zustandekommen einer Policy-Änderung notwendigen Veto-Spieler bei ihren Idealpunkten bleiben beziehungsweise ihre Indifferenzkurven nicht verändern.12

Tsebelis folgert daraus, dass politische Systeme mit vielen Veto-Spielern größere Probleme haben, auf „externe Schocks” zu reagieren, als Systeme mit wenigen Veto-Spielern (Tsebe-lis 2002: S. 205f.).

Verbindet man Tsebelis’ Ansatz mit der Theorie der Politikverflechtungsfalle von Fritz Scharpf, haben Akteure in verflochtenen Politikstrukturen jedoch die Möglichkeit über Kop-pelgeschäfte und Ausgleichszahlungen zu Entscheidungen zu gelangen (Scharpf 2006: S. 217ff.). Bei beiden Annahmen, also die geringere Handlungsfähigkeit politischer Systeme mit vielen Veto-Spielern, als auch die Möglichkeit mittels Ausgleichszahlungen und Kop- pelgeschäften zu politischen Entscheidungen zu gelangen, kann jedoch unterstellt werden, dass diese zu ökonomisch suboptimalen Ergebnissen führen, weil nach der Veto-Spieler-Theorie das politische System mit vielen Veto-Spielern nicht die notwendige Flexibilität besitzt (Tsebelis 2002: S. 2005f.), um auf ökonomische Veränderungen in angemessener Weise zu reagieren und nach Scharpf politische Entscheidungen in einem Politikfeld mögli-cherweise zuungunsten eines anderen Politikfeldes getroffen werden. Nicht unwahrschein-lich wäre es nach Scharpf, dass die Zustimmung der notwendigen Veto-Spieler schlicht „erkauft” wird.13 Das würde bedeuten, dass politische Systeme mit vielen Veto-Spielern dazu neigen Entscheidungskosten in die Zukunft zu externalisieren, um überhaupt entschei-dungsfähig zu sein. In diesen Fällen würde die Staatsverschuldung strukturbedingt anstei-gen. Daraus folgere ich meine erste Hypothese, die demnach lautet:

Hypothese 1:

Westeuropäische Staaten mit vielen Veto-Spielern neigen zu einer höheren Staatsverschul-dung als Staaten mit wenigen Veto-Spielern.

2.4 Veto-Spieler und die ökonomische Demokratietheorie nach Anthony Downs

Nach der Veto-Spieler Theorie von George Tsebelis sind Regierungen primär policy-orientiert. Wie gezeigt, wird die Entscheidungsfähigkeit maßgeblich von der Anzahl der Veto-Spieler sowie deren Policy-Distanzen bestimmt.14 Die ökonomische Theorie der Politik, die maß-geblich von Anthony Downs mitbestimmt wurde, geht von einer anderen Handlungsmaxime aus. Demnach handeln Regierungen ähnlich wie Wirtschaftsakteure nutzenmaximierend, das heißt die Regierung richtet ihre Policy auf die Maximierung der Stimmen aus. Regie-rungen handeln nicht gemeinwohlorientiert,15 sondern die maßgebliche Handlungsmaxime ist das institutionelle Eigeninteresse in Form des Machterhalts (Downs 1974: S. 107).

[...]


1 An dieser Stelle sei der freundlichen Unterstützung des Statistischen Bundesamtes gedankt, das fehlende Daten für den Zeitraum von 1973 bis 1992 zügig und unbürokratisch zur Verfügung stellte.

2 Zum Zusammenhang zwischen Zahl der untersuchten Fälle und der Signifikanz des Korellationskoeffizien-ten, siehe Eder (2003)

3 Grundsätzlich werde ich mich jedoch an Herbert Döring orientieren. Demnach wird eine statistische Korre-lation „interessant”, wenn sie den Wert 0,5 erreicht. Siehe Döring 2003: S. 40.

4 Insbesondere mobiles Kapital kann in offenen Kapitalmärkten nicht beliebig besteuert werden, weil die An-reize zur Kapitalflucht erhöht werden. Siehe hierzu die Überblicksdarstellung bei Plümper/Schulze (1999): 445ff. Ob die Besteuerung mobilen Kapitals das effektive Steueraufkommen eines Staates erhöht oder nicht, hängt also in nicht unerheblichen Maße von der Steuerpolitik anderer Staaten ab. Theoretisch bedeutet das, dass der Erfolg von Egos Handlung im Sinne von Parsons doppelter Kontingenz von Alters Reaktion ab-hängt, wodurch die Entscheidungsunsicherheit steigt, siehe Schimank (2005): 81f.

5Eine vollständige Liste aller Indikatoren der Staatsverschuldung siehe bei Wagschal (1996): 27.

6 alle Artikel nach dem Vertrag von Maastricht in der Fassung von 1992 (92/C 224/01)

7 so haben die Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich während ihrer Defizitverfahren gemeinsame Posi- tionen im Rat vertreten, siehe Belafi, Mahruhn (2005): S. 2.

8 Darunter fallen im Falle Deutschlands auch die Kosten der deutschen Wiedervereinigung (Belafi, Mahrun (2005): S. 5ff.

9 Improving the implementation of the Stability and Growth Pact, Council Report to the European Coun­cil, 7423/05, published by the Council of the European Union, Brüssel, 21. März 2005, online unter: http://www.eu2005.lu/en/actualites/documents_travail/2005/03/21stab/stab.pdf

10 Diese Unterscheidung werde ich zukünftig nicht weiter verwenden. Sie sei hier nur der Vollständigkeit hal-ber erwähnt. Stattdessen werde ich die Typologie von Arthur Benz verwenden, der zwischen internen und externen Veto-Spielern unterscheidet. Interne Veto-Spieler sind demnach die Veto-Spieler, die direkt an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, da sie Teil des zu entscheidenden Gremiums sind. Externe Veto-Spieler können hingegen Entscheidungen von Institutionen oder Akteuren verhindern, ohne an der Ausarbeitung beteiligt zu sein. Benz 2003: S. 213ff.

11Tsebelis unterscheidet zwischen „Minimum Winning Coalitions”, „Oversized Majority Governments” und „Minority Governments”. Im Folgenden werde ich in der Regel von Minimum Winning Coalitions ausge-hen. Bei Minderheitsregierungen unterscheidet sich die Logik der Politikproduktion von der einer Mini­mum Winning Coalition, weil jede im Parlament vertretene Partei ein Veto-Spieler der Regierung bzw. der Regierungspartei darstellt. Das ist aber für die hier interessierte Fragestellung nicht relevant. Zu den unter-schiedlichen Koalitionsmöglichkeiten und den daraus resultierenden Folgen für die Entscheidungsfindung siehe Tsebelis 1995b: S. 96ff.

12Dem ist hinzuzufügen, dass eine Änderung des Status Quo auch mit der Policy-Distanz der Veto-Spieler zusammenhängt. Eine Veränderung des Status Quo ist demnach auch bei der Existenz vieler Veto-Spieler möglich, wenn diese ähnliche Policy-Präferenzen haben.

13 Prominentes Beispiel ist die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000. Bundesländer, die auf den Kurs der Bundesregierung einschwenkten, erhielten vom damaligen Bundesfinanzminister Eichel zusätzliche Finanzmittel für den Aufbau ihrer Infrastruktur. Da die Zustimmung der von Rot-Grün regier-ten Länder als gesichert galt, profitierten zunächst nur Länder mit Regierungen anderer parteipolitischer Färbung beziehungsweise Länder mit gemischten Koalitionen vom Angebot des Finanzministers. Um den Missmut in den eigenen Reihen abzudämpfen, kam die Bundesregierung letztlich auch den rot-grünen Bun-desländern mit einigen Millionen Mark entgegen und „vergütete” damit auch Ländern mit eigener parteipo-litischer Färbung die Zustimmung zum rot-grünen Prestigeprojekt. Kropp 2007: S. 71f.

14Die interne Kokäsion kollektiver Veto-Spieler sei hier außer Acht gelassen.

15was man bei Tsebelis noch annehmen könnte, nur haben die Veto-Spieler mitunter andere Vorstellungen vom „Gemeinwohl”.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Die Verschuldung westeuropäischer Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor und nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages vor dem Hintergrund der Veto-Spieler-Theorie
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
Demokratietheorie
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
41
Katalognummer
V130253
ISBN (eBook)
9783640362035
ISBN (Buch)
9783640362363
Dateigröße
746 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Maastricht, Vertrag, Verschuldung, Vetospieler, Veto, Spieler, Europa
Arbeit zitieren
Pascal Hugo (Autor:in), 2008, Die Verschuldung westeuropäischer Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor und nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages vor dem Hintergrund der Veto-Spieler-Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130253

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