Widernatürlichkeit als ein Konstituens in der Horrorliteratur des 19ten Jahrhunderts

Untersuchung von Gotthelfs 'Die schwarze Spinne' und Stokers 'Dracula'


Dossier / Travail, 2009

26 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung zum Begriff der Horrorliteratur

Zum Begriff des Monsters

Widernatürlichkeit

Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne

Bram Stoker – Dracula

Resümee

Bibliographie

Vorbemerkung zum Begriff der Horrorliteratur

Horror- bzw. Schauerliteratur1 hat, wie fast jede andere Art von literarischem Werk im Sinne von belles lettres, zum Ziel den Leser2 zu unterhalten, ihn für kurze Zeit in eine andere Welt zu transportieren und ihn dabei in unterschiedliche Gefühlszustände zu versetzen. Diese Gefühlszustände sind durchaus verschiedenartig und können das gesamte Spektrum menschlicher Emotion umfassen. Im Falle von Horrorliteratur ist das vornehmlich angestrebte Gefühl das des Schauerns und Gruselns. Dieses ist das Resultat einer empathisch-spiegelnden Verbindung vom Leser der Schauergeschichten und den darin agierenden positiven Charakteren. BRITTNACHER merkt zum Wesen von Horrorgeschichten an, „dass sie ausführlich die Angst [und den Ekel] darstellen, von der die Opfer der abscheulichen Kreaturen ergriffen werden, dass sie diese Angst [und diesen Ekel] nach Möglichkeit an den Leser weitergeben“ (BRITTNACHER 21).

Der Begriff ‚Horror’, der hier zugrunde gelegt wird, bewegt sich innerhalb von Noel CARROLLS Konzept von art-horror geht aber auch in Teilen darüber hinaus. Er grenzt art-horror als eine von Unterhaltungsmedien – im wesentlichen Bücher und Filme – hervorgerufene Emotion von der Alltagsbedeutung von horror ab. So besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Grauen, das uns angesichts von Kriegsgräueln und anderen Schrecknissen der realen Welt befällt („ natural horror“, vgl. CARROLL 12) und dem Schauer, den ein Leser bei der Lektüre von Horrorliteratur empfindet (art-horror), wenn er Zeuge von schrecklichen fiktiven Vorkommnissen wird.

Zum Begriff des Monsters

Das Empfinden von Horror ist eng gekoppelt mit dem Auftreten von Monstern3 wie zum Beispiel Dracula oder dem Golem in Meyrinks gleichnamigem Roman. Zur Funktion des Monsters stellt CARROLL treffend fest: „monsters are a mark of horror“ (CARROLL 14). Die Eigenschaften des Monsters, sein Auftreten und seine Handlungen sind im Rahmen dieser Arbeit, besonders in Bezug auf Widernatürlichkeit, von herausragender Bedeutung. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle näher auf die Charakteristiken des Monsters i. e. der monströsen Entität eingegangen werden.

Das Auftreten eines Monsters ist eine notwendige Voraussetzung, damit Horrorliteratur funktioniert und die gewünschten Affekte im Leser hervorrufen kann. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, tales of horror deutlich von tales of terror abzugrenzen, da die letzteren nicht das Auftreten eines Monsters zwingend voraussetzen: Gefühle von Angst, Grauen, Schauder oder Schrecken entstehen in Literatur dieser Gattung ohne die Zuhilfenahme von Monstern. Zahlreiche Beispiele hierfür finden sich beispielsweise in den Geschichten von Edgar Allan Poe, in denen es die Situationen oder andere Menschen bzw. deren Gefühle von Angst sind, die den Schauder im Leser hervorrufen. Diese Affekte werden, so CARROLL, im Leser hervorgerufen durch „exploring psychological phenomena“ (CARROLL 15). So sind die Erzähler von Poes Geschichten oftmals allein mit ihren Ängsten, zwanghaften Phantasien und lassen den Leser diese nachempfinden und an ihrem Kampf gegen sie teilhaben.

Was die Konzeption des Monsters angeht, ist es unabdingbar, dass das Monster bestimmte Bedingungen erfüllt, um zu gewährleisten, dass es als hinreichend angsteinflößend, bedrohlich, aber auch als abstoßend und ekelerregend empfunden wird. CARROLL formuliert dazu: „It is crucial that two evaluative components come into play: that the monster is regarded as threatening and impure“ (CARROLL 28). CARROLL adaptiert hier für seine Zwecke die sozialanthropologische Terminologie von Mary Douglas. Dass ein Monster in der Horrorliteratur generell bedrohlich sein soll, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. Für die monströse Entität gilt schließlich das gleiche, was für jede antagonistische Figur, sei es in der Literatur, im Theater oder im Film, gilt, die als Widersacher ernstgenommen werden will. Allerdings erscheint impure als ein wenig zu kurz gefasst und als tendenziell problematisch. Ebenso verhält es sich mit CARROLLS Postulat, dass die monströse Entität threatening zu sein habe.

Unreinheit als notwendige Eigenschaft der monströsen Entität impliziert, dass alle, die dem Monster sich entgegen stellen die Reinheit als eine ihrer hervorstechenden Eigenschaften besitzen; also sowohl potenzielle Opfer des Monsters als auch seine Widersacher4. Dies trifft jedoch nicht uneingeschränkt zu. So sieht der Leser beispielsweise in Gotthelfs Die schwarze Spinne, dass sich alle Bewohner von Sumiswald versündigt haben, also die Reinheit ihrer Seelen beschmutzt haben – sei es nun aktiv oder nur durch Duldung und Stillschweigen. Auch zeigt sich in E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann, dass sein Protagonist Nathanael zu Zornesausbrüchen neigt und am Ende sogar in einem Anfall rasenden Wahnsinns beinahe zum Mörder wird bevor er sich an seinem eigenen Leben versündigt. Des Weiteren ist sein Geist die meiste Zeit davor auch bereits gestört und wahrlich nicht in einem Zustand, der als intakt, geschweige denn als rein bezeichnet werden kann. Dennoch ist er der ‚Held’ von Hoffmanns Erzählung und muss sich den Nachstellungen – seien sie nun real oder imaginiert – des Bösewichts Coppelius/Coppola stellen. Wenngleich impure mehrere Merkmale des Monsters abdeckt, so bleiben dennoch einige andere außen vor. Die Idee vom Monster als ‚unreinen’ Wesen umfasst im Wesentlichen zwei Dimensionen. Unreinheit hat zum einen eine rein körperliche Dimension: Monströse Entitäten und/oder deren Begleiter erwecken einzig durch ihr Äußeres Ekel und Abscheu, sowohl beim Leser als auch in den Figuren des jeweiligen literarischen Werks. Hinzu kommt eine moralische Dimension, die in der heutigen westlichen Welt maßgeblich durch das Christentum geprägt ist. Das Monster handelt moralisch-christlichen Grundsätzen zuwider. Obgleich DOUGLAS mit ihrer Idee der Unreinheit nicht unbedingt das Christentum im Sinn gehabt haben dürfte, ist dennoch eindeutig, dass impure in direkter Relation zum moralischem Empfinden der jeweiligen Gesellschaft steht. Zugegeben, Moral, Religion, Götter bzw. Gott sind allesamt soziale, sprich menschengemachte Konstrukte. Aber das Konzept von impurity ignoriert allerdings weitere, nicht minder bedeutsame und prävalente gesellschaftliche Konstrukte des menschlichen Zusammenlebens jenseits der Religion. Das Monster in der Horrorliteratur agiert nicht nur entgegen der herrschenden Moral und den bestehenden religiösen Doktrinen, sondern es handelt auch den Naturgesetzen zuwider und setzt sich des Weiteren über alle erdenklichen anderen Gesetze, Konventionen und stillschweigend anerkannte Ordnungsprinzipien der menschlichen Gesellschaft hinweg.

Bedrohlichkeit, sei sie nun konkreter oder eher abstrakter Natur, stellt zwar eine notwendige, jedoch eine nicht hinreichende Bedingung für ein ernstzunehmendes Monster dar. Sie muss eng gekoppelt sein mit der Fähigkeit des Monstrums Angst in seinen potenziellen Opfern hervorzurufen. Die Tatsache, dass eine Figur in der Literatur oder im Film ein Monster als eine Bedrohung in Bezug auf Leib und Leben ansieht, ruft in ihr sicherlich Furcht hervor, gleichwohl muss diese Furcht für den Leser oder Betrachter ernstzunehmend und nachvollziehbar sein aber gleichzeitig über die allein kognitiv wahrgenommene Kategorie von Lebensgefahr hinausgehen und an Urängste5 im Unterbewusstsein rühren. Ein Mann mit zornesrotem Gesicht, einer Schrotflinte im Anschlag und Mordlust in den Augen ist mit Sicherheit dazu geeignet in Charakteren, die ihm in Literatur oder im Film begegnen, Angst um ihr Leben hervorzurufen. Dennoch ist er im Sinne der hier verwandten Definition kein Monster. Dazu bedarf es mehr.

Um Ekel und Abscheu in den fiktiven Charakteren und auch im Leser zu erzeugen, bieten sich bei der Konzeption des Monstrums zwei unterschiedliche, aber meist zusammen verwendete Möglichkeiten an. Zum einen kann das äußere Erscheinungsbild durch seine „exzessive Abweichung von der Norm physischer Integrität“ (BRITTNACHER 183) dazu geeignet sein, Ekel hervorzurufen. Beispiele hierfür wären zerfallende Zombies, verrottende Ghuls, Chimärenwesen6 und Kreaturen ohne klar und eindeutig umrissene Form. Zusätzlich werden sie oftmals von weiterem ekelhaftem Getier wie Maden, Würmern oder Insekten begleitet. Zum anderen können Monster allem voran durch ihre Handlungen, aber auch durch die ihnen von den positiven Charakteren unterstellten Werthaltungen, Denkweisen und Ansichten Abscheu hervorrufen, wenn diese bestehende Wertesysteme zu zerstören drohen. So werden generell Töten, Blut trinken aber auch weniger drastische Handlungen oder Haltungen wie z.B. Perversionen und rücksichtloser Egoismus als widernatürlich und moralisch verwerflich angesehen.

Eindeutig menschenähnliche Monstren wie beispielsweise Mr. Hyde in R. L. Stevensons Roman Dr. Jekyll and Mr. Hyde sind zwar äußerlich deformiert, die eigentliche Abnormität und monströse Deformation ist aber unsichtbarer, weil innerer Natur. Anders ausgedrückt: Ihr Erscheinen als Monster ist lediglich fleischgewordene, sichtbar gemachte Abartigkeit. Diese seelische Entstellung oder innere Missbildung geht oftmals auf ein schuldhaftes Verhalten zurück oder lässt – wie im Falle des Dr. Jekyll – den in allen Menschen wohnenden bösen Charakterzügen ihren ungehinderten Lauf. So ist seine Existenz als Monster Physis gewordener Ausdruck innerer Verderbtheit und Deformation. In hohem Maß anthropomorphe Monstren stehen für eine ganz besonders subtile Art der Bedrohung: Durch die Tatsache, dass sie fast menschlich sind oder zumindest menschlich waren, zeigen sie, dass ihr Schicksal auch jeden anderen Menschen befallen könnte.

Hand in Hand damit geht die Vorstellung, dass eine monströse Entität innerhalb einer Horrorgeschichte von den Charakteren – und damit letztlich auch vom Leser – nicht nur als potenziell tödlich oder als abstoßend empfunden werden muss, sondern auch, dass sie als Abnormalität, als Störung der natürlichen Ordnung, angesehen wird (CARROLL 16).

Widernatürlichkeit

Doch was ist im Einzelnen unter ‚natürlicher Ordnung’ zu verstehen? Der Terminus der ‚natürlichen Ordnung’ spaltet sich in seiner Bedeutung – wie bereits das Wort ‚natürlich’ – in zwei Teile: Erstens bedeutet ‚natürlich’ ‚zur Natur gehörend’, wobei unter Natur alles Nicht-Menschengemachte und dessen Verhalten und dessen Abläufe, wie sie durch physikalische, biologische, chemische etc. Gesetze determiniert sind, zu verstehen ist. Zweitens meint ‚natürlich’ all das, was gemeinhin als innerhalb einer von der Majorität anerkannten Norm gesehen wird. Diese Norm kann religiöser oder anderweitig sittlich-moralischer Art, gesellschaftlich-konventioneller Art oder auch sozioökonomischer Art sein. So ist es z.B. naturgegeben, dass Menschen essen müssen, um sich zu ernähren. Im gesellschaftlichen Umgang ist es ein natürliches Verhalten, anderen zur Begrüßung die Hand zu reichen und jeder sähe es als vollkommen natürlich an, Gesetze zu befolgen oder dem Geist der Zehn Gebote gemäß, sich zu verhalten. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jegliche Verletzung dieser Konventionen, Regelwerke und Gesetze als widernatürlich und als eine Gefahr für die gesellschaftliche Wohlgeordnetheit empfunden wird.

Bezogen auf das Monster in der Schauerliteratur bedeutet dies wiederum, dass es in vielfacher Hinsicht bedrohlich und gefährlich sein kann: Es kann durch seine schiere Kraft oder seine kräftigen Klauen oder seine scharfen Reißzähne physisch äußerst gefährlich und letztlich auch tödlich sein. Aber es gibt darüber hinaus noch weitere Dinge wie Moral, Glaube, gesellschaftliche Ordnung, Besitz, die den Menschen ein wertvolles und schützenswertes Gut sind und die durch ein Monster bedroht und nachhaltig erschüttert werden können. Monster, deren definierendes Charakteristikum die Widernatürlichkeit, die Widrigkeit ist, bedrohen in beiden Kategorien von ‚natürlich’ die einzelnen Menschen und u. U. die Gesellschaft als Ganzes. Als ein gutes Beispiel dient hierzu Bram Stokers Figur des Grafen Dracula, die in mehrfacher Hinsicht bedrohlich als auch widernatürlich ist. So besitzt der Graf die außerordentliche Körperkraft von zehn Männern und ist somit von großer physischer Gefährlichkeit; gleichzeitig stellen auch seine Bestrebungen zur „reverse colonisation“7 (GELDER 12) eine Gefahr für die Gesellschaft als Ganzes dar; daher ist er nicht nur gefährlich für das individuelle Leben oder Gesundheit eines einzelnen Charakters wie z.B. Lucy Westenra, die durch ihn zum Vampir wird, sondern stellt auch eine Bedrohung der bestehenden und als gut angesehenen Gesellschaftsordnung dar – und ist insofern auch wider die Natur, d.h. widernatürlich. Von weiteren Ausprägungen seiner Bedrohlich- und Widernatürlichkeit wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein.

Im weiteren Verlaufe der Arbeit soll ergründet werden, inwieweit die hier untersuchten literarischen Werke die Anforderungen an Horrorgeschichten erfüllen. Ausgehend von der Prämisse, dass eine Horror- oder Schauergeschichte unabdingbar eine monströse Entität benötigt und dass die monströse Entität – oder kurz das Monster – bestimmten Kriterien gerecht werden muss, sollen eben diese ausgewählten literarischen Werke einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Neben der Bedrohlichkeit ist es vor allem die Widernatürlichkeit in ihren beiden oben beschriebenen Dimensionen, die sich in hinreichendem Maße für das jeweils auftretende Monster konstatieren werden lassen müssen.

Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne

Die romantische Erzählung Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf wird das erste der beiden Werke sein, das näher untersucht werden wird. Gleich zu Beginn der Rahmenhandlung wird das, was als die natürliche, hier vielleicht sogar als die göttliche Ordnung gilt, etabliert. So erscheint das friedliche Gefüge von Gott, Mensch und Natur versinnbildlicht in Beschreibungen und Metaphern pastoraler Harmonie. So „glänzte die durch Gottes Hand erbaute Erde und das von Menschenhänden erbaute Haus im reinsten Schmucke“ (GOTTHELF 4) und wenig später wird beschrieben wie die „ganze Pflanzenwelt dem Himmel entgegenwächst und blüht [...], dem Menschen ein alle Jahre neu werdendes Sinnbild seiner eigenen Bestimmung“ (ibid.). Die sehnsüchtige Wachtel singt ein „Minnelied“ (GOTTHELF 3) und über dem idyllischen Tal schwebt der Klang der Kirchenglocken. In diesem Eingangstableau entwirft Gotthelf eine gottgefällige Welt in der Mensch, Tier und Pflanze in Einverständnis und Eintracht leben. Nur wenig später wird diese Idylle noch weiter idealisiert und eine Bauersfrau spricht ihren Gedanken oder Wunsch aus, dass „wenn wir so eins [ein Haus] haben könnten, ich wäre im Himmel“ (GOTTHELF 25). Dieses Haus ist der Punkt, an dem das äußerste Glück erreicht wäre; zuerst kommt die dörfliche Gemeinschaft der Gläubigen, ehrliche Arbeit, Gottesfurcht und dann das Haus, um das Glück perfekt zu machen. Doch dieser Himmel auf Erden wird bedroht.

Die Bedrohung erscheint in der Binnenerzählung zuerst in der Gestalt des Teufels, des Geists, der stets verneint. Er verkörpert das Prinzip des Widernatürlichen, die Bedrohung der bestehenden Ordnung und ist eines der zwei auftretenden Monster in Die schwarze Spinne. Seine äußere Erscheinung gibt in Gotthelfs Erzählung zwar kaum Anlass zur Furcht, sein ausgemergelter und ‚dürrer’ (GOTTHELF 32) Körper steht jedoch in deutlichem Gegensatz zu den wohlgenährten, ‚stattlichen’ (GOTTHELF 5) Körpern der Dorfbewohner. Bedrohlicher hingegen ist seine Macht, entgegen allen Gesetzen der Natur und der Moral zu handeln, die Menschen zu verderben und das Böse in ihnen hervorzubringen. So ist er zwar physisch nicht besonders bedrohlich, allerdings umso mehr auf kognitiver, kultureller und moralischer Ebene. Nachdem er den verzweifelten Dorfbewohnern den Preis (ein Kind jenseits der schützenden göttlichen Ordnung, weil ungetauft) für seine Dienste genannt hat, fliehen diese „blass und zitternd an der Seele und an allen Gliedern“ (GOTTHELF 35). „Verstört“ (GOTTHELF 36) hasten sie „wie Tauben vom Vogel gejagt“ (ibid.) nach Hause. Nicht nur das rein körperliche Leben der Sumiswalder wird als bedroht empfunden, sondern zugleich auch die Reinheit ihrer Seelen. Der Frieden der göttlichen und gesellschaftlichen Ordnung8, der Moral und der Seelenfrieden der gottesfürchtigen und tugendhaften Leute, ausgedrückt durch das Bild der Taube, ist nachhaltig bedroht. Der Teufel erfüllt somit, ebenso wie die schwarze Spinne später, die Kriterien für ein Monster.

Die Spinne, vormals Christine, ist als fusion figure (CARROLL 43) ebenso angsteinflößend wie hässlich und widernatürlich. CARROLL definiert eine fusion figure als die Zusammensetzung eines Furcht einflößenden Wesens aus Teilen oder anderen Wesen, das kategoriale Grenzen überschreitet. Dies beinhaltet oft die Konstruktion von Kreaturen, die verschiedenartige Kategorien wie innen/außen, lebendig/tot, Insekt/Mensch, Fleisch/Maschine usw. überschreiten. Eine fusion figure ist ein Kompositum, welches Eigenschaften zu einer einzigen, raum-zeitlich uneindeutigen Einheit vereint, die üblicherweise für kategorial verschieden gehalten werden und/oder wider kulturelle Zuordnungen von Dingen sind (CARROLL 43). Christine ist ein durch den Teufelspakt entstandenes Chimärenwesen, bestehend aus Spinne und Mensch und überdies von über- bzw. unnatürlicher Größe. Sie ist nicht nur von augenscheinlicher Scheußlichkeit, sondern „knüpft ausschließlich an negative, grauenerregende Vorstellungen an“ (COSENTINO 45), da die Spinne schon seit jeher „als verderbenbringendes Hexentier und giftiger Krankheitsdämon ausschließlich negativ bewertet wurde“ (ibid.). Auch CARROLL sieht Spinnen als bereits angstbehaftete Objekte an und konstatiert weiter: „The spider [...] exceeds in horribleness not only because of its supernatural provenance and unearthly abilities but especially because of its increase in size beyond the normal“ (CARROLL 49). Christines Widernatürlichkeit allerdings wird schon vor ihrer Verwandlung in die Spinne angedeutet. So wird sie beschrieben als

„nicht von den Weibern, die froh sind, daheim zu sein, in der Stille ihre Geschäfte zu beschicken, und die sich um nichts kümmern als um Haus und Kind. Christine wollte wissen, was ging, und wo sie ihren Rat nicht dazu geben konnte, da ginge es schlecht, so meinte sie.“ (GOTTHELF 39)

[...]


1 Die Begriffe ‚Horrorliteratur’ und ‚Schauerliteratur’ werden im Folgenden synonym für literarische Werke, verwandt, die von ihrer Konzeption her dazu geeignet sind, beim Leser Abscheu, Angst oder Entsetzen und Schock hervorzurufen.

2 Sofern dies nicht zwingend erforderlich ist, wird im Folgenden darauf verzichtet werden, Menschen explizit als dem einen oder dem anderen Geschlecht zugehörig auszuweisen. Begriffe, die sich auf Menschen beziehen wie z.B. ‚Leser’, werden als rein generisch aufgefasst und treffen keinerlei Aussage über etwaiges Geschlecht.

3 Ein Monster, Monstrum oder eine monsterartige Kreatur im hier verwendeten Sinne, ist ein Wesen, das gemäß der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht existiert (CARROLL 27) und dazu geeignet ist, Abscheu hervorzurufen und Angst auszulösen. Alle weiteren Benennungen von Figuren mit dem Terminus ‚Monster’ folgen dieser Definition.

4 Dies ergibt sich aus der Natur des Wortes und der Figurenkonstellation bzw. aus deren dichotomischer Anordnung. So steht denn der Begriff ‚rein’ dem von ‚un-rein’ gegenüber, genau wie die Monster den Helden einer Geschichte gegenüberstehen. Daraus ergibt sich der Antagonismus von Reinheit, Gut, Helden vs. Unreinheit, Böse, Monster. Eine Seite verkörpert somit immer das Gegenteil der jeweils anderen Seite.

5 Urängste werden vor allem in Schauerliteratur der psychologischen Art, d.h. in tales of terror, explizit thematisiert. Darunter fallen die Angst lebendig begraben zu werden, zu ertrinken, zu ersticken, vor der Dunkelheit, vor Unbekanntem und Ähnliches mehr. In der Horrorliteratur schwingen diese Ängste meist nur unterschwellig mit.

6 CARROLL kategorisiert in Anlehnung an DOUGLAS, Wesen dieser Art als interstitiell, d.h. in der Schwebe zwischen zwei oder mehr unterschiedlichen Kategorien, z.B. Untote, die weder eindeutig tot noch eindeutig lebendig sind oder Werwölfe, welche weder eindeutig Mensch noch eindeutig Tier sind.

7 Vgl. ARATA.

8 Göttliche Ordnung ist gleichbedeutend mit der natürlichen Ordnung. Dies wird deutlich an dem sich immer wieder in schweren Unwettern objektivierenden Zorn „aus Gottes selbsteigener Hand“ (GOTTHELF 57), der über das Tal der Dorfbewohner hereinbricht, kurz nachdem Christine den Teufelspakt geschlossen hat. Weitere gewalttätige Wettervergleiche folgen jeder Annäherung Christines an die teuflische Sache.

Fin de l'extrait de 26 pages

Résumé des informations

Titre
Widernatürlichkeit als ein Konstituens in der Horrorliteratur des 19ten Jahrhunderts
Sous-titre
Untersuchung von Gotthelfs 'Die schwarze Spinne' und Stokers 'Dracula'
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (Deutsches Seminar)
Cours
Hauptseminar
Note
1,3
Auteur
Année
2009
Pages
26
N° de catalogue
V130528
ISBN (ebook)
9783640363834
ISBN (Livre)
9783640364237
Taille d'un fichier
615 KB
Langue
allemand
Annotations
Der Text enthält auch zahlreiche englischsprachige Zitate.
Mots clés
Widernatürlichkeit, Konstituens, Horrorliteratur, Jahrhunderts, Untersuchung, Gotthelfs, Spinne, Stokers, Dracula, Thema Die schwarze Spinne
Citation du texte
Patrick Ludwig (Auteur), 2009, Widernatürlichkeit als ein Konstituens in der Horrorliteratur des 19ten Jahrhunderts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130528

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