Öl, Wasser und Nationalismus - Studie zu den Kurden im Irak, Iran und der Türkei


Livre Spécialisé, 2008

134 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklärungen: „Kurde“, „Kurdisch“ und „Kurdistan“
2.1 Wer gehört zu den Kurden?
2.2 Geographische Bestimmung „Kurdistans“
2.3 Die kurdischen Sprachen

3. Die Kurden und ihre Religionen

4. Die Kurden im Osmanischen Reich
4.1 Die Situation der Kurden bis zum 19. Jahrhundert
4.2 Das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert
4.3 Die Bewertung der Aufstände im 19. Jahrhundert

5. Das Osmanische Reich und die Kurden bis zum Ende des 1. Weltkrieges
5.1 Sultan Abdulhamid II (1876 - 1909), die Jungosmanen und die Kurden
5.2 Das Osmanische Reich und die Kurden im 1. Weltkrieg

6. Die Kurden nach dem Waffenstillstandsabkommen von Mudros
6.1 Der Vertrag von Sèvres

7. Die Entwicklung der Kurden in der Türkei
7.1 Türkisch-kurdischer Widerstand gegen die alliierten Invasoren
7.2 Der Vertrag von Lausanne
7.3 Von türkisch-kurdischen Muslimen zu türkischen Staatsbürgern
7.4 Die Kemalisten und die Kurden
7.5 Scheich-Said Aufstand

8. Kurden innerhalb der Republik Türkei
8.1 Kurden und der Terrorismus
8.2 Die aktuelle Lage in der Republik Türkei

9. Kurden im Iran
9.1 Die Reformen des Schah Reza
9.2 Der Aufstand von „Simko“ (1918 - 1930)
9.3 Die Kurdische Regierung von Mahabad
9.4 Der Weg der iranischen Kurden vom Schah-Regime in die Islamische Revolution

10. Die Entwicklung der Kurden im Irak
10.1 Britisch-französischer Wettlauf um die Kolonisierung Iraks
10.2 Die Annexion Mosuls an den Irak

11. Irak bis zum 1. Golfkrieg
11.1 Bis zur Machtübernahme Saddam Husseins
11.2 Der erste Golfkrieg

12. Irak und die Kurden im 2. Golfkrieg
12.1 Beginn des 2. Golfkrieges
12.2 Der Kampf um die Meinungsbildung über den Irak
12.3 Der zweite Golfkrieg im Rückblick

13. Die Vorwände für eine dauerhafte US-Besatzung
13.1 Abrüstung als Kriegsgrund
13.2 Die Rolle der Kurden

14. Wiederaufbau als Teil des Wirtschaftskrieges

15. Wohin fließt das Öl?

16. Auf der Suche nach Demokratie

17. Ein Ausblick

18. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Kurde, Kurdisch und Kurdistan sind Begriffe, die in jüngster Zeit in der deutschen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen der Türkei in die EU erneut heftig diskutiert werden. Der Umgang mit der Minderheitenfrage ist für Deutschland ein entscheidendes Kriterium für die laufenden Verhandlungen.

In den Jahren zuvor berichteten die deutschen Medien über die Kurden zum größten Teil aus dem besetzten Irak. Schon in den ersten Monaten der US-Besatzung rückten insbesondere die kurdischen Iraker immer mehr in das Blickfeld. Der deutsche Diplomat Hans-C. von Sponeck, UN-Koordinator für Irak, trat aus Protest über die humanitäre Situation der Kurden und Araber unter dem US-Embargo von seinem Posten zurück.[1]

Die Kurden leben im wasserreichen und strategisch wichtigen Osten der Türkei, im Iran und in Nordirak als bedeutende Minderheiten und sind der Schlüssel für den Zugang zu einem der energiereichsten Regionen der Welt. Der Umgang mit den Kurden hat also eine unschätzbare Bedeutung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Region und für verschiedene strategische Überlegungen für den gesamten Nahen Osten.

Die Kurdenfrage ist schon seit einigen Jahrzehnten unentwirrbar mit dem Erdöl und den Interessen der multinationalen Konzerne verbunden. Das Erdöl, das nahezu zwei Drittel des Welt-Energieverbrauchs speist und Ausgangsmaterial für an die 30.000 verschiedene Chemikalien ist, befindet sich unmittelbar und leicht zugänglich in den kurdisch bewohnten Gebieten.[2] Ohne Öl würden die industrialisierten Volkswirtschaften, insbesondere der so genannten Ersten Welt, zum Erliegen kommen. Deshalb ist das Ölgeschäft einzigartig und mit keinem anderen Industriezweig vergleichbar.

Erdöl war und ist Gegenstand globaler politischer Auseinandersetzungen, im Krieg wie in Zeiten des Friedens. In den letzten hundert Jahren führten Industrieländer unzählige Kriege zur Sicherung der Ölversorgung. Die deutsche Invasion Russlands im Zweiten Weltkrieg war der verhängnisvolle Versuch, die Ölquellen im Kaukasus zu kontrollieren. Die militärische Intervention der USA und ihrer Alliierten in Kuwait im Jahre 1991 wäre ebenfalls kaum denkbar gewesen, besäße Kuwait nicht beträchtliche Ölreserven. Dass auch die Invasion im Irak an erster Stelle zum Zwecke der Kontrolle über das Öl geführt wird, kann heute kaum noch jemand ernsthaft bezweifeln. Das Öl ist längst ein wesentlicher Bestandteil der neueren Sozial- und Militärgeschichte.

In dieser Arbeit wird die Geschichte der Kurden vom Osmanischen Reich bis in die Gegenwart mit den wichtigsten Ereignissen in ihren Zusammenhängen erklärt. Die Schwäche des Osmanischen Reiches im letzten Jahrhundert seines Bestehens nutzten viele Völker zu Gründung unabhängiger Nationalstaaten. Spätestens nach dem endgültigen Untergang des Osmanischen Reiches entstanden zahlreiche neue Nationen. Aus welchen Gründen nahmen die Kurden diese Chance nicht wahr? Um zu verstehen, wieso kein kurdischer Nationalstaat entstehen konnte, reicht es nicht aus, auf die territorialen Ansprüche der Nachbarstaaten hinzuweisen, es ist auch zwingend erforderlich die kurdische Gesellschaft vor dem Zerfall des Osmanischen Reiches zu analysieren. Gab es zu diesem Zeitpunkt einen kurdischen Nationalismus? Was waren die Ziele der Nationalisten? Stand die Bevölkerung hinter ihren Forderungen? Im Jahre 2009 haben diese Fragen keinesfalls ihre Aktualität verloren.

Die soziopolitische Entwicklung Iraks, Irans und der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg und die kurdisch-nationalistische Bewegung in diesen Ländern haben eine wechselhafte und konfliktgeladene Beziehung von Staats- und Minderheiteninteressen hervorgerufen. In dieser Arbeit wird das Verhältnis der einzelnen Regierungen zu der kurdischen Bevölkerung und die Beziehungen zu den Nachbarländern mit ebenfalls bedeutenden kurdischen Minderheiten untersucht werden.

Die Kurden waren in der Vergangenheit wie auch heute häufig Vorwand für westliche Interventionen. Die deutlichsten Beispiele dafür sind die kurdischen Iraker und in jüngster Zeit auch die kurdischen Iraner. Die Verflechtungen der westlichen Minderheitenpolitik im Bezug auf die Kurden mit den wirtschaftlichen wie geostrategischen Interessen der so genannten Ersten Welt sollen also gleichfalls analysiert werden.

Die aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend zu beantworten ist keine leichte Aufgabe. Die Literaturlage zum Thema dieser Arbeit ist spärlich. Obwohl schon seit über 90 Jahren die so genannte „Kurdenproblematik“ existiert, wurde sie lange Zeit weder im sozialwissenschaftlichen noch im politischen Kontext gebührend beachtet. Vor 1991 wurden die Kurden im Westen nur von einer Handvoll Spezialisten thematisiert und besonders im deutschsprachigen Raum kamen immer nur wenige „Kurdenkenner“ zu Wort. Erst der Golfkrieg und die Gräueltaten an den arabischen und kurdischen Irakern und die Scharen der Flüchtlinge machten sowohl die Presse als auch die Politik auf die Kurden aufmerksam. Durch den Golfkrieg explodierte die Zahl der meist populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, wissenschaftliche Arbeiten sind dagegen rar. Insbesondere deshalb, weil die Informationen über die Ereignisse im Irak seit 1991 stark durch das US-Militär und das Monopol weniger großer Nachrichtenagenturen zensiert werden. Bis heute erhalten nur ausgewählte Journalisten eine Einreisegenehmigung und dürfen vor Ort recherchieren.

Ein Mangel des überwiegenden Anteils der bestehenden Literatur ist die losgelöste Betrachtung der Verhältnisse von Kurden von der restlichen Bevölkerung der Staaten, in denen sie leben. Es ist jedoch unerlässlich einen Gesamtüberblick über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Länder zu haben, damit man unterscheiden kann, welche Maßnahmen nur die Kurden im Speziellen und welche die ganze Bevölkerung allgemein getroffen haben.

2. Begriffsklärungen: „Kurde“, „Kurdisch“ und „Kurdistan“

Die Begriffe „Kurde“, „Kurdisch“ und „Kurdistan“ werden selbst in wissenschaftlichen Arbeiten verwendet, ohne darauf einzugehen, worauf diese überhaupt referieren. Es entsteht dadurch der Eindruck, als gebe es per se die „Kurden“, etwas sei klar „kurdisch“ und es gebe eine einzige Nation namens „Kurdistan“.

Die „Kurden“ und “das kurdische Volk” sind keine voraussetzungslos gegebenen Begriffe, die man ohne weiteres auf jeden Abschnitt der Geschichte anwenden könnte. Wie man in den folgenden Kapiteln sehen wird, ist die Frage, wer alles zu den Kurden gehört, nicht einfach mit objektiven natur- bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden verbindlich zu beantworten.

Der Ursprung des Begriffs „Kurde“ ist nicht endgültig geklärt. Es gibt verschiedene Hypothesen. Unter anderem wird vermutet, dass sich der Begriff „Kurde“ von dem sumerischen „Kur“ ableitet. „Kur“ bedeutet „Land“, von “Heimatland“, „Fremdland“ bis zu „Feindesland“. Eine andere Annahme ist die Abstammung von dem assyrischen Wort „Quti“. „Quti“ bedeutet „Einwohner von“ und ist semantisch mit dem sumerischen „Kur“ verwandt.

Die mittelalterlichen arabischen Geographen benutzten den Ausdruck „Kurd“, um nomadische bzw. halbnomadische Stämme zu bezeichnen, die weder Araber noch Türken waren. Dies schloss Stämme mit ein, welche heutzutage selbst kurdische Nationalisten nicht zu den Kurden zählen würden. Vereinzelt wurden selbst arabischsprachige Nomaden als „Kurd“ bezeichnet. Der Begriff „Kurd“ stellte also einen Sammelbegriff für jene Nomaden dar, die weder mit dem baktrischen Kamel („Türken“) noch mit dem Dromedar („Araber“) wanderten. Diese Stämme waren weit in der Peripherie des arabischen Weltreiches gelegen. Die hoch aufragenden, schnee- und regenreichen Bergketten des Taurus und Zagros, Herzstück jener Region, die die kurdischen Nationalisten heute für ihr Projekt eines Großkurdistans anstreben, war nur schwer zugänglich.

Die Herkunft der Kurden liegt bis heute im Dunkeln. Die wenigen Quellen sind mehr als bruchstückhaft und umstritten.[3] Bisher wurde kein Dokument in kurdischer Sprache aus vorislamischer Zeit gefunden.[4]

Der kurdisch-irakischer Führer Barzani behauptete, dass die Meder Kurden gewesen sind und die heutigen Kurden eben von diesen abstammen.[5] Die These, die Kurden würden von den Medern abstammen, ist so wenig bewiesen, wie die Behauptung die Kurden würden von den Skythen abstammen. Alle diese Thesen haben spitzfindige Diskussionen ausgelöst, die bis heute keine wissenschaftliche Klarheit geschaffen haben.[6] Die Einordnung der kurdischen Stämme unter die iranischen Völker basiert auf linguistische und nicht auf ethno-genetische Belege. Ohnehin ist es sehr schwer, die Abstammung eindeutig zu bestimmen, da sich die kurdischen Stämme über die Jahrtausende mit vielen Nachbarvölkern vermischt haben.[7] Bei seinen Reisen durch kurdische Gebiete stellte der Anthropologe von Eickstedt bei den Kurden mongolische, alpine, armenide, iranide und sogar negride Einschläge fest.[8] Für kurdische Nationalisten ist die Abstammung von besonderer Bedeutung. Sie sprechen von sich als „eine der reinsten der arischen Rassen“.[9]

Im Gegensatz zu dem Mangel an wissenschaftlichen Fakten über die Abstammung der Kurden existieren zahlreiche Mythenbildungen. Der kurdische Dichter Koyi spricht davon, dass „alle Völker der Erde von den Kurden abstammen“.[10] Ebenso existiert die Legende, nach der die Kurden das Getreidekorn entdeckt hätten.[11] Bei Mythenbildungen ist es irrelevant, ob vorgegeben wird, dass ein Volk von Romulus, Äneas oder einer indischen Göttin abstammt. Hier gilt das Interesse nicht der Verifizierbarkeit des Behaupteten. Einzig und allein die Wirkung zählt.

Letzten Endes ist der Ursprung der Kurden nicht geklärt. Die iranische Hochebene war seit Alters her Schauplatz vieler Wanderungsbewegungen von Völkern. Diese Bevölkerungsbewegungen hatten die ethnische Zusammensetzung im heutigen Irak, Iran und der Türkei entscheidend geprägt. Davon blieben auch die Kurden nicht unberührt. Größere türkische, arabische und mongolische Gruppen wurden assimiliert und zählen sich heute zu den Kurden.[12] Andererseits wurden Kurden z. B. in Aserbaidschan turkisiert. Die Bevölkerung Kurdistans stellt heute ein ethnisches Mosaik dar.

2.1 Wer gehört zu den Kurden?

Bevor man über die politisch-historische Entwicklung der Kurden schreibt, ist es unerlässlich zu klären, wer zu den Kurden gehört. Aufgrund bestimmter Merkmale sollen in der Vielzahl der Völker, die innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches gelebt haben, und heute in verschiedenen Nationen Minderheiten bilden, die Kurden lokalisiert werden. Glücklicherweise widmet der Kurdologe Jemal Nebez eine Arbeit nur zu diesem Thema. Die Monographie trägt den Titel:

„Kurdische Zugehörigkeit: Wer ist Kurde? Was bedeutet Kurde sein? Ein Beitrag zur Erforschung der Identität eines aufgeteilten staatenlosen Volkes. Vortrag – gehalten am 27.12.1985 in Kopenhagen für die kurdischen Flüchtlinge in Dänemark – im Rahmen eines Seminars über die Kurdenproblematik.“[13]

Darin stellt Nebez fest:

„Wenn wir über die Kurden sprechen, meinen wir also eine Gruppe von Menschen, deren Mitglieder einige objektive und naturgegebene Merkmale besitzen, durch die sie Angehörige einer eigenständigen, von Anderen zu unterscheidenden Gruppe sind.“[14]

Es gilt also zu prüfen, ob diese „objektiven und naturgegebenen Merkmale“ als Indikatoren für die Zugehörigkeit eines Menschen zu den Kurden tauglich sind. Bei Nebez kommt als erstes die gemeinsame Sprache, denn „diejenigen, die als ‚Kurden‘ bezeichnet werden, sprechen im Allgemeinen eine Sprache“, nämlich Kurdisch.[15]

Eindeutig sei der Zusammenhang nur in der Hinsicht, dass jeder Mensch, der sich ausdrücklich als Kurde begreife, auch Kurdisch als seine Sprache ansehe, selbst wenn er sie kaum beherrsche.

Das Merkmal „Abstammung“ sei zur Bestimmung der Kurden nicht sehr geeignet:

„Weder die tatsächliche noch die angebliche Abstammung kann eindeutig etwas zur kurdischen Zugehörigkeit aussagen.“[16]

Es gebe schließlich genügend Menschen, die trotz gegebener Abstammung von kurdischen Eltern sich selbst als „Türken“ oder „Araber“ begriffen. Ein bekanntes Beispiel ist der in Diyarbakir von kurdischsprachigen Eltern geborene Ziya Gökalp, der später zu einer der wichtigsten Vordenker des türkischen Nationalismus wurde und Wert darauf legte, türkischer Staatsbürger zu sein.[17] Umgekehrt betonte einer der bedeutendsten „kurdischen“ Führer des 20. Jahrhunderts, Scheich Mahmud Barzinci, immer seine arabische Abstammung. Sollte man Nationalität mit Abstammung bestimmen, müsste man ihn als Araber betrachten.

Auch das Merkmal „Heimat“, also territoriale Herkunft, hält einer Prüfung nicht stand. Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, wodurch die Grenzen des Heimatlandes „Kurdistan“ eigentlich bestimmt sind. Sicher ist hingegen, dass in diesem, wie auch immer umrissenen, Kurdistan viele Nicht-Kurden leben, während Kurden auch außerhalb kurdischer Gebiete leben, zum Großteil auch seit Generationen schon dort geboren wurden.

Dem Merkmal „Kultur“ gesteht Nebez hingegen schon etwas mehr Aussagekraft zu:

„Es gibt Normen und Wertvorstellungen, die in der kurdischen Gesellschaft als Ganzes existieren. Es gibt einige kulturelle Merkmale, die für fast alle Kurden zutreffen.“[18]

In seinen Ausführungen erklärt Nebez, dass die Teilhabe an der kurdischen Kultur eines der wesentlichsten Elemente bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu den Kurden sei. Die Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur zeichne „fast alle Kurden“ aus, was jedoch diese Kultur ausmache, lasse sich nicht erfassen. Er führt leider kein einziges Merkmal auf, das eben „fast alle Kurden“ verbindet.

Andere sekundäre Symbole wie die „kurdische“ Kleidung oder Küche sind sogar noch untauglicher zum Zwecke einer Grenzziehung was spezifisch kurdisch ist. So ist zum Beispiel in der Literatur häufig von einer „kurdischen“ oder einer „traditionellen kurdischen“ Kleidung die Rede. Es geht dabei um die Bekleidung von Bäuerinnen und Hirten, die unter harten klimatischen Bedingungen arbeiteten und daher die Kleidung den Anforderungen der zu erledigenden Arbeiten angepasst wurde. Unter den Bedingungen weitgehender Subsistenzwirtschaft produzierten die Stämme und Dörfer auch ihre Bekleidung vor Ort selbst. Die Bekleidung variierte daher von Tal zu Berg, von Hochplateau zu Flachland, aber auch von Tal zu Tal.[19]

Im Verlaufe der Arbeit stellt sich heraus, dass die von Nebez anfängliche Gleichsetzung von „Kurde-Sein“ mit „naturgegebenen Merkmalen“ eine im Fortgang der Argumentation falsifizierte Arbeitshypothese war.

Die Vielfalt unter den Menschen, die unter dem Etikett „Kurde” zusammengefasst werden, soll nicht bedeuten, dass es die Kurden nicht gibt. Nationalgesinnung ist vor allem ein politischer Prozess. Das Bekenntnis des Individuums zu einer Nation kann trotz der Zugehörigkeit zu einer anderen Ethnie, Muttersprache oder soziokulturellen Bindungen erfolgen. Am Ende ist der willentliche Entschluss des Individuums von Bedeutung, dem kurdischen Volk anzugehören. Genauso wichtig wie das Bekenntnis des Individuums ist die Fremdzuschreibung von Außenstehenden. Die Identifizierung des Einzelnen als „Kurde” ist eine geschichtliche Entwicklung, die stark mit der Nationalismusbewegung zusammenhängt. In dem Zusammenhang spielten die kolonialen Strategien der Briten nach dem Ersten Weltkrieg und die Interessen der Staaten, in den die Kurden heute leben, eine bedeutende Rolle.

2.2 Geographische Bestimmung „Kurdistans“

Eine allgemein akzeptierte geographische Definition Kurdistans gibt es nicht. Mit diesem Begriff werden ganz unterschiedliche Vorstellungen verbunden. Sie dient einerseits als politischer Kampfbegriff der kurdischen Nationalisten und den Staaten, die eigene Interessen in dieser Region verfolgen und andererseits wird der Gebrauch dieses Begriffs von den Staaten, in denen Kurden als Minderheiten leben, verleugnet.

Kurdische Siedlungsgebiete sind durch eine zerklüftete Berglandschaft gekennzeichnet. Die Berge erreichen Höhen von über 4.000 m, die höchste Erhebung ist der biblische Ararat (5.165 m).[20] Die überwiegend gebirgige und zum Teil kaum zugängliche Landschaft hat spezifische gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen hervorgebracht. Die Unzugänglichkeit der Hochgebirge führte dazu, dass die Zentralregierungen diese Gebiete nur unter großem Aufwand und Verlusten kontrollieren konnten. Sie mussten sich daher mit einer lockeren Anbindung zufrieden geben.[21]

Auf der anderen Seite bedeutete diese Abgeschlossenheit aber auch, dass soziale und wirtschaftliche Verbindungen zur Außenwelt höchst mühsam erstellt und aufrecht erhalten werden können. Ein weiteres Hindernis für Beziehungen zu anderen Regionen stellt das harte Klima dar. Infolge der Höhenlage sind viele Gipfel die meiste Zeit des Jahres schneebedeckt. In den Tälern ist das Klima kontinental und relativ trocken, während in den Ebenen gewisse Regenmengen verzeichnet werden. Die Temperaturen sind von beträchtlichen Gegensätzen gekennzeichnet. In gebirgigen Teilen sind in den langen Wintermonaten Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius unter Null keine Seltenheit. Monatelang können Schneefälle die einzelnen Ortschaften komplett voneinander abtrennen. In den Sommermonaten können wiederum über 40 Grad Celsius erreicht werden.

In früheren Zeiten waren kurdische Gebiete wohl bewaldet. Aber die Viehwirtschaft, insbesondere Schafzucht, Holzabbau für Bau- und Heizzwecke haben dazu geführt, dass z. B. die Eichenwälder im Zagros völlig verschwunden sind.[22]

Wegen des Hochgebirges und den harten klimatischen Bedingungen wurden die kurdischen Gebiete lange Zeit von den wichtigen großen Handelsströmen kaum berührt.[23] Die Wirtschaft in kurdischen Gebieten beruht daher heute wie vor hundert Jahren zum größten Teil auf Ackerbau und Viehzucht.[24] Das Straßen- und Wegenetz in kurdischen Gebieten auf höheren Bergregionen ist sehr schlecht ausgebaut.

Diese Gebiete scheinen aufgrund der Höhenlage und harten klimatischen Bedingungen zunächst wenig attraktiv zu sein. Dennoch ist diese Region zum Zankapfel verschiedener Nationen geworden. Dies hat zwei Hauptursachen. Erstens sind diese Gebiete erdölreich und damit vom größten wirtschaftlichen Interesse, zweitens und genauso wichtig ist das Wasserreichtum dieser Region. Wasser in größeren Mengen in einer sonst wasserarmen Weltregion macht dieses Gebiet zu einem strategisch wichtigen Punkt.

Die Problematik um Gebiete wird deutlich, wenn man vor Augen führt, dass es zu keiner Zeit einen größeren politischen Staat Kurdistan gegeben hat, der fest umrissene und dauerhafte Grenzen gehabt hatte.[25] Solche Grenzziehungen waren in schwer zugänglichen Hochgebirgen ohnehin nicht möglich.

Die gegenwärtig verbreiteten Karten von „Kurdistan“ weichen stark voneinander ab und formulieren letztlich nur den Anspruch, dass auf den hervorgehobenen Flächen ein souveräner Staat Kurdistan errichtet werden soll. Diese Karten werden jedoch so betitelt, als gebe es ein objektiv vorhandenes „Kurdistan“. Dabei besteht keine Einigkeit darüber, ob bestimmte Gebiete nun „armenisch“, „arabisch“ oder „kurdisch“ seien.[26] Aber auch unter den kurdischen Autoren gibt es keine Einigkeit. Selbst innerhalb Irans können sich kurdische Autoren nicht einigen, welche Gebiete nun kurdisch sind.[27]

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Begriff „Kurdistan“, auf die Vorstellungen verschiedener nationalistischer Gruppierungen referiert. Es gibt keine allgemeine politische oder geographische Definition. Kurdistan ist ein politisches und natürlich auch wirtschaftliches Konstrukt, den Nationalisten und auch Wissenschaftler aus Ermangelung an präziseren Definitionen übernommen haben.[28] In der Diskussion um Grenzen sind mittlerweile auch Vertreter der großen Ölkonzerne hinzu gekommen, die bei der aktuellen Gebietserweiterung der autonomen kurdischen Regionalregierung im Irak aktiv eine Rolle spielen.

2.3 Die kurdischen Sprachen

Die Sprache ist zweifelsohne eines der wichtigsten Faktoren, die die Identität eines Menschen bestimmen. Auch im Falle der Kurden wird der Sprache ein hoher Stellenwert eingeräumt. So schreibt Franz:

„Die Kurden sind ein Volk im Vorderen Orient mit einer eigenen iranischen Sprache, die sie von anderen Völkern und Bevölkerungsgruppen abhebt.“[29]

Auch Kanjori definiert die Zugehörigkeit zu „Kurdistan“ über die Sprache:

„Kurdistan wird als Heimat jener angesehen, die ein- und dieselbe Sprache und Kultur besitzen.“[30]

Die Definition über die Sprache hat den Vorteil, dass es ein vergleichsweise sicher zu verifizierendes Merkmal ist, da nur wenige Menschen in mehr als einer Sprache volle Kompetenz vorweisen können. Im Falle der Kurden findet man allerdings eine komplizierte Situation vor. Obwohl die meisten Autoren ohne nähere Erläuterungen vom „Kurdischen“ reden, zeigt die Realität deutlich voneinander abweichende Sprachen. Diese konnten bis heute, also selbst 90 Jahre nach dem Untergang des Osmanischen Reiches, nicht unter dem Dach einer Einheitshochsprache zusammengefasst werden.

Kurdische Nationalisten behaupten, ihre heutigen Sprachen würden sich von den Medern ableiten.[31] Als der Linguist McKenzie in den 60er Jahren in Fachpublikationen darauf hinwies, dass eine Rückführung des Kurdischen auf die Sprache der Meder eher spekulativ sei, wurde diese These von kurdischen Wissenschaftlern farbenreich verdammt und McKenzie als ein Lakai des Imperialismus beschimpft, der durch böswillige Verfälschung der Wahrheit die kurdische Nation als Ganze in ihrer Existenz verleugnen wolle.[32]

Das was als die „kurdische Sprache“ tituliert wird, unterteilt sich sprachwissenschaftlich in drei Hauptgruppen: Kurmanci, Sorani und Zazaki.

Kurmanci wird in der Türkei, in Syrien, im Libanon, in den nördlichen Landesteilen von Iran und Irak, sowie in kleineren Teilen Aserbaidschans, Armeniens und Georgiens gesprochen. Kurmanci unterteilt sich wiederum in zahlreiche regionale und lokale Dialekte.[33] Sprecher der Kurmanci-Dialekte aus größeren Entfernungen können sich durchaus verstehen, aber schon mit einiger Mühe.[34] Sorani dagegen wird hauptsächlich im Iran und Irak gesprochen. Und Zazaki wird, abgesehen von Migranten, ausschließlich in der Türkei gesprochen. Die Eigenständigkeit dieser Sprache wird immer mehr von den Iranisten betont.[35] Zazaki ist räumlich innerhalb der Kurmanci-Sprecher angesiedelt, weicht von dieser jedoch so stark ab, dass zwischen Zazaki- und Kurmanci-Sprechern eine Kommunikation unmöglich ist. Hier handelt es sich um zwei komplett eigenständige Sprachen.

Aber auch von Sorani ist das Kurmanci durch markante Unterschiede getrennt. Das zeigt sich vor allem im Wegfall von Kasus und Genus bei Substantiven und Pronomina im Sorani-Dialekt, Formen, die in Kurmanci jedoch enthalten sind. Man unterscheidet dort zwischen Femininum und Maskulinum und verzichtet auf die im Sorani geläufigen Pronominal-Suffixe, wie auch auf eine gesonderte Passivkonjugation der Verben. Dafür existiert im Kurmanci zumindest eine Futurform, eine Zeitstufe, die im Sorani vollständig fehlt. Unter Kurmanci und Sorani entwickelten sich die verschiedenen regional akzeptierten Schriftsprachen „Jeziri“ bzw. „Slemani“.

Zusätzlich kompliziert wird die Lage der Sprachen durch die Existenz einer weiteren Sprache, die sich keiner der drei Hauptgruppen zuordnen lässt. Diese Sprache heißt Gorani. Aus diesem Gorani ging eine Literatursprache hervor, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Iran verbreitet war. Heute ist Gorani aber nahezu ausgestorben, hat daher als Verkehrssprache keine wichtige Stellung mehr, ist aber immer noch von Bedeutung, weil es die heilige Sprache der Ahl-i Haqq ist, einer heterodoxen religiösen Gemeinschaft.

Alle drei Hauptsprachen gehören zu der Gruppe der iranischen Sprachen, die einen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie darstellen. Dazu zählen auch Farsi, die Staatssprache Irans, Belutschisch und Tadschikisch. Die iranischen Sprachen unterscheiden sich grammatikalisch erheblich vom Arabischen oder Türkischen. Auf der lexikalisch-semantischen Ebene jedoch gibt es eine Annäherung, da sowohl Kurmanci, Sorani und Zazaki als auch Türkisch im Laufe der Jahrhunderte eine enorme Anzahl von Lehnwörtern aus dem Persischen (Farsi) und aus dem Arabischen entnommen haben. Diese Lehnwörter dominieren nicht nur die Fachsprachen (Medizin, Jura, Literatur, Religion) sondern wirken insbesondere durch die Religion selbst in den Grundwortschatz und damit in das Alltagsleben hinein. Abgesehen von gemeinsamen arabisch-persischen Entlehnungen fanden im Laufe der Zeit auch türkische Lehnwörter Einlass in Kurmanci, Sorani und Zazaki. Trotz dieses eingegrenzten gemeinsamen lexikalisch-semantischen Bereichs bleiben die Unterschiede groß.

Auch in der Schrift gibt es erhebliche Differenzen.[36] So wird im Irak und Syrien das arabische Alphabet, im Iran das Persische gebraucht. Seit 1930 verwenden in der Türkei die Kurmanci- und Zazaki-Sprecher im Zusammenhang mit den türkischen Sprachreformen das lateinische Alphabet. In den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion benutzen Kurmanci-Sprecher das Kyrillische. Und Sorani wird mit einem vom arabischen abgeleiteten Alphabet geschrieben.

Eine gemeinsame Schriftsprache ist auch bis heute nicht entwickelt. Einer der Gründe ist, wie oben dargestellt, dass nur nach außen hin der Schein einer gemeinsamen Sprache existiert. Sorani-, Kurmanci- und Zazaki-Sprecher können sich untereinander nicht verständigen.[37]

Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich die Kurden nicht über eine gemeinsame Sprache ausmachen lassen, zumal wenn sich die historische Perspektive über etliche Jahrhunderte erstrecken soll. Wichtig ist, dass Außenstehenden als „Kurdisch“ bekannte Sprachen keine logische Einheit bilden. Dafür sind die grammatikalischen und semantischen Unterschiede zu groß. Diese drei Sprachen unter dem Prädikat “Kurdisch” zusammenzufassen ist das Ergebnis der nationalistischen Politik eines ganzen Jahrhunderts. Es soll hier nicht der Eindruck vermittelt werden, diese Sprachen seien nicht eigenständig oder vollwertig, sondern dass der Prozess, bei dem eben diese drei vollwertigen Sprachen per Definition als eine, nämlich „Kurdisch“, festgelegt wurden, ein von Interessen geleiteter Willkürakt ist. Ebenso gut hätte man den Sorani-Sprechern eine politische Eigenständigkeit zuweisen können oder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Zazaki-Sprecher von den Kurmanci-Sprechern, die heute im vollen Gange ist, unterstützen können. Bedauerlicherweise widmen die meisten Autoren heute noch sprachwissenschaftlichen Arbeiten keine nähere Beachtung und gehen weiterhin von einer Sprache Kurdisch aus.

3. Die Kurden und ihre Religionen

Vor den modernen Formen des Nationalismus war die Religion vielleicht der stärkste gemeinschaftsbildende Faktor der Menschheit. Auch wenn die Religiosität heute tendenziell abnimmt, bleibt der Einfluss der Religionen weiterhin enorm.

Es wird geschätzt, dass mit 98 % die überwältigende Mehrheit der Kurden dem islamischen Glauben angehört.[38] Allerdings sind diese auf verschiedene Konfessionen gespalten. Abgesehen von den Kurden in den iranischen Provinzen Kermanshahan und Ilam, die mehrheitlich der Zwölfer Schia angehören, bekennt sich die Mehrheit der Kurden zum sunnitischen Islam.[39] Die Glaubensvorstellung und die Praktiken von sunnitischen Kurden, Arabern oder Türken sind dieselben.

Die Einzelheiten der theologischen Grundlagen, die die Alltagspraxis bestimmen sind von Gelehrten des islamischen Rechts im 8. und 9. Jahrhundert festgelegt worden. Sie sind in vier Einheiten zusammengefasst und jeweils nach einem Gelehrten benannt worden. Im Unterschied zu den Muslimen in der Türkei und im Irak, die der hanafitischen Rechtsschule des Islams angehören, folgen die Kurden in der Mehrzahl der schafiitischen Rechtsschule.

Eine besondere Ausprägung der Schia ist der Alevismus. Der Name leitet sich von dem arabischen Begriff Alavi (Anhänger Alis) ab. Der Alevismus hat sich von den anderen schiitischen Richtungen weit entfernt. Aleviten machen schätzungsweise etwa 15 % der Bevölkerung in der heutigen Türkei aus. Nicht nur Kurden, sondern auch Türken gehören dem Alevismus an. Die meisten kurdischen Aleviten zählen zu den Zazaki-Sprechern.[40]

Eine weitere weniger bekannte Glaubensgemeinschaft, denen die Kurden, aber auch Iraner und Iraker angehören, ist die Ahl-i Haqq (Anhänger der Wahrheit). Im Irak werden die Ahl-i Haqq auch Kakai genannt. Sie verweben den Islam mit synkretischen und esoterischen Elementen. Im Zentrum des Glaubens steht die extreme Schia, Ali wird als göttliche Manifestation verehrt. Die Ahl-i Haqq glauben an Reinkarnation und führen eine Reihe von mystischen Riten und Praktiken durch. Insbesondere gehören Nomaden dieser Glaubensrichtung an. Hauptverbreitungsgebiete sind Iran, insbesondere um Kermanschah, und Nordirak.[41]

Neben diesen Glaubensgemeinschaften gibt es eine weitere, der ausschließlich Kurden angehören. Sie heißen Yeziden und führen ihre Abstammung allein auf Adam zurück und beanspruchen eine exklusive Stellung, die sie über den Rest der Menschheit erhebt.[42] Sie haben höchste “Reinheitsgebote” für die Glaubensgemeinschaft. Man kann nur als Yezide geboren werden. Es besteht nicht die Möglichkeit, zum Yezidentum zu konvertieren, man muss von beiden Elternteilen als Yezide geboren werden. Nach der Vorstellung der Yeziden habe Gott die Welt aus einer Perle erschaffen und dann sieben gottähnlichen Engeln die Vollendung der Schöpfung übertragen. Heiligenkult ist ein weiterer Aspekt des Yezidentums. Einer der wichtigsten Heiligen ist Scheich Adi, dessen Grab ein bedeutender Wallfahrtsort ist.[43] Dieser Scheich Adi führte im 11. Jahrhundert das Kastensystem im Yezidentum ein. Die Kasten sind unterteilt in das einfache Volk (Murid) und die Kaste der Geistlichen, die sich dann noch in zwei weitere Kasten unterteilt, nämlich die Kaste der „Scheichs“ und die der „Pirs“. Die Zuordnung der Kasten erfolgt nach dem Vererbungsprinzip. Die Kinder von einfachen Eltern sind ebenfalls nur Murids, sowie die Kinder von Scheich-Eltern Scheiche und die Kinder von Pir-Eltern Pirs sind. Jeder Scheich- und Pir-Familie sind von Geburt Murids untergeordnet.[44]

Es gibt unter den Kurden auch Christen, die sich jedoch stärker über die Religion definieren. Die Christen unter den kurdischen Stämmen bilden wiederum keine Einheit. Die Einen sind monophysitisch, d. h. sie erkennen das Dogma der zwei Naturen Jesus nicht an. Die anderen haben das Dogma verinnerlicht, stehen jedoch der katholischen Kirche differenziert gegenüber. Eine dritte Gruppe hat sich der katholischen Kirche angenähert.

Die kurdischen religiösen Führer hatten insbesondere ab dem 19. Jahrhundert größeren Einfluss auf die Stämme als die Fürsten. Fürsten, die sich in Aufständen versuchten, konnten durchaus von kurdischen Geistlichen gestürzt werden.[45]

Auch heute noch spielt die Religion eine enorme Rolle im Alltag und in der Politik. Insbesondere seit der Invasion der USA im Nahen Osten dient die Religion vor allem dazu zu teilen und zu herrschen. Durch massive Unterstützung der CIA wuchsen im Irak sunnitische und schiitische separatistische und fundamentalistische Gruppierungen heran, die sich heute gegenseitig bekämpfen. Somit wird ihre gemeinsame Linie durchbrochen und der Freiheitskampf gegen die Besatzer beinahe zum Erliegen gebracht. Während die schiitischen und sunnitischen Iraker gegeneinander kämpfen, schaffen sie Ablenkung von dem wahren Skandal, nämlich dem Ausverkauf des Landes an internationale Öl- und Rüstungskonzerne unter dem Schutz der USA und Großbritanniens. Die Besatzungsmächte und ihre weitläufig eingespannten Medien geben sich große Mühe, die Situation unter der Besatzung insbesondere für die westlichen Industrieländer als ethnisch-religiösen Konflikt darzustellen. Die scheinbar religiös motivierten Auseinandersetzungen schaffen eine perfekte Nebelwand, hinter der die Bodenschätze aber auch das Jahrtausende alte Kulturerbe des Landes den Eigentümer wechseln.

[...]


[1] Sein Fazit lautete, dass die Sanktionspolitik der USA eine massive Verelendung und eine hohe Kindersterblichkeit verursachte. Sponeck bestätigte, dass bis 1999 über eine Million Menschen von Beginn der US-Besatzung bis 1999 wegen verschmutztem Wasser, fehlender Medikamente und Unterernährung gestorben sind. Während die Bevölkerung durch die Sanktionspolitik an Hunger starb, kam eine kleine Oberschicht durch Geschäfte mit den Besatzern zu erheblichem Luxus. Vgl.: FR, 07.02.02.

[2] Erdöl ist ein in der Erdkruste eingelagertes, hauptsächlich aus Kohlenwasserstoffen bestehendes, lipophiles Stoffgemisch. Bei der Erzeugung von Elektrizität, als Treibstoff fast aller Verkehrs- und Transportmittel und auch in der chemischen Industrie zur Herstellung von Kunststoffen und anderen Chemieprodukten ist Erdöl unverzichtbar. Erdöl ist der wichtigste Rohstoff der Industrieländer. In der Erdöl-Förderung sind die Qualität und die Produktionskosten entscheidend. Das irakische Öl weist eine außerordentlich gute Qualität auf und lässt sich leicht fördern.

[3] Strohmeier, M.; Yalcin-Heckmann, L.: Die Kurden. Geschichte - Politik - Kultur, München 2000, S. 25.

[4] Shalmani, H.: Betrachtungen über die ethnische Identität der iranischen Kurden. Dissertation. Köln 1985, S. 49. Vgl. auch: Asadi, A.: Der Kurden-Konflikt im Irak 1917 - 1990. Analyse verpasster Lösungsmöglichkeiten, Bonn 2004, S. 11.

[5] Als Beleg für diese Abstammungsgeschichte wird u. a. die inoffizielle Nationalhymne angeführt, welches jedoch erst in den 40-ern des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Die Meder selbst sind ohne historische Belege geblieben. Vgl.: Kanjori, J.: Die sozialen Umwälzungen im iranischen Kurdistan. Dissertation. Münster 1992, S.12.

[6] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 26.

[7] ebenda.

[8] Freiherr von Eickstedt, E.: Türken, Kurden und Iraner seit dem Altertum. Probleme einer anthropologischen Reise, Stuttgart 1961, S. 84.

[9] Die Betonung der arischen Abstammung als Hinweis auf „eine der reinsten Rassen“ hängt auch mit den Entwicklungen in der Zwischenzeit der beiden Weltkriege zusammen. Der Mythos arischer Überlegenheit war nicht nur auf den Nationalsozialismus in Deutschland beschränkt. Andere Völker, die sich ebenfalls zu den „Ariern“ zählten, adaptierten diese Ideologie. Der iranische Schah sympathisierte mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten. Diese Haltung hatte sicherlich auch Einfluss auf die kurdischen Nationalisten. Vgl.: Shalmani (1985), S. 102.

[10] Küchler, H.: Öffentliche Meinung. Eine theoretisch-methologische Betrachtung und seine exemplarische Untersuchung zum Selbstverständnis der Kurden. Dissertation. Berlin 1978, S. 132.

[11] Aziz, N.: Kurdistan und die Probleme um Öcalan. Mit einem Beitrag von Abdullah Öcalan, München 1999, S. 19. Die Gebiete, in denen Kurden und Araber leben, gehören zu den ältesten menschlichen Siedlungen. Die Entdeckung des Getreidekorns in dieser Region ist durchaus denkbar.

[12] Es gibt heute noch sehr viele mongolische Ortsbezeichnungen in kurdischen Gebieten. Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 58f.

[13] Überarbeitete Online-Ausgabe von 2003: http://www.kurdbun.com/nebez/kurdisch.pdf

[14] ebenda, S. 8f.

[15] ebenda. Die Postulierung einer Sprache „Kurdisch“ als Muttersprache der Kurden ist äußert problematisch und wird in folgenden Kapitel dieser Arbeit näher erläutert.

[16] ebenda, S. 20.

[17] Der kurdische Autor Ziya Gökalp (1876-1924) unterstützte die Gründung der Türkischen Republik aktiv und wurde zum Theoretiker des türkischen Nationalismus.

[18] ebenda.

[19] Vgl.: Barth, F.: Principles of Social Organization in Southern Kurdistan, Oslo 1953, S. 13. Autoren, die sogar eine „kurdische Nationaltracht“ gesichtet haben wollen, meinen damit zumeist die Uniform, die von den Aktivisten der kurdischen Bewegung im Irak (1961 - 1975) getragen wurde. Die einheitliche Bekleidung in den 70-er Jahren war ein Ausdruck des Widerstandes gegen die irakische Zentralregierung. Erst die staatlichen Verbote und Repressionen führten zu einer stärkeren Vereinheitlichung der Kleidung. Wie viele andere Begebenheiten wird auch die „traditionell kurdische Kleidung“ zeitlich in das Osmanische Reich zurückversetzt.

[20] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 22.

[21] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 23.

[22] ebenda.

[23] ebenda.

[24] ebenda.

[25] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 20.

[26] Während kurdische Nationalisten fest der Überzeugung sind, dass bestimmte Gebiete schon seit Urzeiten kurdisch seien, erheben Araber, Türken, Armenier, Luren oder Perser ebenso Ansprüche auf diese Gebiete. Insbesondere bei den Verhandlungen zu dem Vertragswerk von Sèvres, auf den später näher eingegangen wird, werden Interessenkonflikte deutlich.

[27] Während einige Autoren von West-Aserbaidschan bis zum Persischen Golf alle Gebiete als kurdisch definieren, sind andere der Meinung das Gebiet der Kurden würde nur die Provinzen Kordestan,West-Aserbaidschan, Kermanshahan umfassen. Andere wiederum sehen Kordestan, West-Aserbaidschan, Kermanshahan, Ilam, Khoromabad und Shar-e Kord als kurdische Gebiete an. Vgl.: Kanjori (1992), S. 14.

[28] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 20.

[29] Vgl.: Franz, E.: Kurden und Kurdentum. Zeitgeschichte eines Volkes und seiner Nationalbewegungen, Hamburg 1986, S. 11.

[30] Vgl.: Kanjori (1992), S. 15.

[31] Vgl.: Kanjori (1992), S. 12.

[32] Nebez, J.: Kurdistan und seine Revolution, München 1972, S. 33.

[33] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 31.

[34] ebenda.

[35] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 32.

[36] Vgl.: Shalmani (1985), S. 63.

[37] Diese Sprachbarriere innerhalb der „kurdischen Sprachen“ hat für die kurdischen Nationalisten in der Türkischen Republik zu der paradoxen Situation geführt, dass sie selbst die Propaganda für einen kurdischen Staat vorwiegend auf Türkisch betrieben. Bis heute hat sich daran nichts geändert. In den 60-er Jahren konnten kurdische Publikationen in der Türkei erscheinen. Diese wurden jedoch zweisprachig herausgegeben, weil ausschließlich in „Kurdisch“ abgefasste Publikationen von den Kurden nicht verstanden wurden. Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann, (2000) S. 33.
Selbst der frühere Anführer der Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, erklärte, dass in einem (noch zu gründenden) Kurdistan die Amtssprache Türkisch sein und lange Zeit Türkisch bleiben würde. Es gibt scheinbar auch den Unwillen, sich einem der anderen „kurdischen“ Sprachen zu unterwerfen. Im Irak, wo seit den englischen Mandatszeiten (1919 - 1932) in den vorwiegend kurdischbewohnten Landesteilen auch Schulunterricht in kurdischer Sprache erteilt wurde, aber Lehrbücher in Sorani existierten und verwendet wurden, weigerte sich die Mehrheit der kurmancisprachigen Eltern, ihre Kinder in Sorani unterrichten zu lassen und meldete ihre Kinder dem arabischen Unterricht an.. Vgl.: Behrendt, G.: Nationalismus in Kurdistan. Vorgeschichte, Entstehungsbedingungen und erste Manifestationen bis 1925. Dissertation. Hannover 1992, S. 26ff.

[38] Kanjori (1992), S. 20.

[39] ebenda.

[40] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 46.

[41] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 46.

[42] Vgl.: Strohmeier; Yalcin-Heckmann (2000), S. 47.

[43] ebenda.

[44] Vgl.: http://www.yezidi.org/yeziden_in_de.0.html
Über die Jahrhunderte ist die Zahl der Yezidi geschrumpft. Die Yeziden warfen in der Vergangenheit christlichen und muslimischen Stämmen vor, ihre Religion zu verdrängen. Die andersgläubigen Nachbarn können jedoch nur bedingt ein Grund für das Schrumpfen der yezidischen Gemeinschaft sein. Vielmehr ist eine der Ursachen die yezidische Heiratsregel. Bei den Yeziden gibt es nur die Möglichkeit als Yezide geboren zu werden, und ein Yezide, der nicht verstoßen werden will, muss seinen Lebenspartner innerhalb der Religionsgemeinschaft aussuchen. Das heißt also: Ein Yezide kann nur eine Yezidin heiraten - und umgekehrt. Eins der größten Yezidi-Gemeinschaften lebt heute in Deutschland, im Raum Hannover.

[45] Nebez, J.: Der kurdische Fürst Mir Muhammed-i Rawandizi genannt Mir-i Kora im Spiegel der morgenländischen und abendländischen Zeugnisse. Ein Beitrag zur kurdischen Geschichte. Dissertation. Hamburg 1970, S. 136.

Fin de l'extrait de 134 pages

Résumé des informations

Titre
Öl, Wasser und Nationalismus - Studie zu den Kurden im Irak, Iran und der Türkei
Auteur
Année
2008
Pages
134
N° de catalogue
V130582
ISBN (ebook)
9783640361342
ISBN (Livre)
9783640361526
Taille d'un fichier
870 KB
Langue
allemand
Mots clés
Wasser, Nationalismus, Studie, Kurden, Irak, Iran, Türkei
Citation du texte
Kadir Özdemir (Auteur), 2008, Öl, Wasser und Nationalismus - Studie zu den Kurden im Irak, Iran und der Türkei, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130582

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