Staatliche Lizenz zum Töten? Wenn in einem Rechtsstaat das Recht auf Leben zur Disposition steht


Bachelorarbeit, 2022

39 Seiten, Note: 5.5 (CH)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der Fall 1 BvR 357/05
1. Der zeitgeschichtliche Kontext
2. Das beanstandete Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)
3. Die Klagebegründung
4. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

III. Das komplexe Grundrechtsverhältnis Leben gegen Leben

IV. Das Recht auf Leben in der Bundesverfassung
1. Verankerung und Qualifikation
2. Schutzbereich
3. Kerngehalt
4. Fazit

V. Die Menschenwürde in der Bundesverfassung
1. Verankerung und Qualifikation
2. Schutzbereich
3. Kerngehal
4. Fazit

VI. Die Europäische Menschenrechtskonvention
1. Stellung in der Schweizer Rechtsordnung
2. Das Recht auf Leben in der EMRK und seine Ausnahmen
A. Verteidigung gegen rechtswidrige Gewalt (lit. a)
B. Festnahme oder Verhinderung der Flucht (lit. b)
C. Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstands (lit. c)
3. Fazit

VII. Die Einschränkung des Rechts auf Leben in der Schweiz
1. Überblick
2. Die Gesetzgebung
A. Die Erfordernis eines formellen Gesetzes
B. Das Zwangsanwendungsgesetz
C. Das Polizeigesetz am Beispiel des Kantons Zürich
D. Das Militärgesetz
a. Die Polizeibefugnisse der Armee
b. Der Waffeneinsatz gegen LuftfahrzeugeV
E. Fazit
3. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts
A. Überblick
B. Die Verhältnismässigkeit
C. Grundsätze zum schusswaffengebrauch
D. Die polizeiliche Generalklausel
4. Der finale Rettungsschuss

VIII. Schlussfazit

Literaturverzeichnis

Zitierweise:

Die nachstehenden Werke werden, wenn nichts anderes angegeben ist, mit Nachnamen des Autors sowie mit Seitenzahl oder Randnummer zitiert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

„Mors ultima linea rerum est.“1 Nach HORAZ ist der Tod der Schlussstrich aller Dinge. Der Tod markiert das Ende der Existenz eines jeden Individuums. Die Tötung eines Men­schen stellt folglich den gravierendsten Eingriff in die körperliche Integrität eines Indivi­duums dar.

Jede natürliche Person besitzt ein unveräusserliches Recht auf Leben. In der Schweiz wird dieses Recht durch Art. 10 Abs. 1 Satz 1 BV grundrechtlich garantiert, in Deutschland durch Art. 2 Abs. 2 GG und auf internationaler Ebene wird dieses Recht unter anderem in Art. 3 der AEMR oder Art. 2 EMRK festgehalten, um nur einige Beispiele zu nennen. Jedoch lassen die Ausnahmen in Art. 2 EMRK bereits erkennen, dass das Recht auf Leben nicht als absolut zu verstehen ist. Im Falle des Rechts der Schweizerischen Eidgenossen­schaft bedeutet dies, dass sich der Kerngehalt von Art. 10 Abs. 1 BV lediglich auf das Verbot der Todesstrafe beschränkt.2

Aus dieser Tatsache ergibt sich die schwierige Frage, wann ein Eingriff des Staates in das Recht auf Leben geboten bzw. gerechtfertigt ist, um nicht als willkürlich eingestuft zu werden.

Als Einstieg in diese Problematik wird zunächst das Urteil im Fall 1 BvR 357/05 des Ersten Senats des BVerfG vom 15. Februar 2006 kurz zusammengefasst und analysiert, in dem es um die Rechtmässigkeit einer gesetzlichen Grundlage zum Abschuss eines ent­führten Luftfahrzeuges, zur Rettung der Personen am Boden, geht.3

Auf dieser Grundlage wird anschliessend dargelegt, welche rechtsstaatlichen Schwierig­keiten sich bei der Abwägung zwischen dem Recht auf Leben verschiedener Grundrechts­träger ergeben, wie der Gesetzgeber und die Rechtsprechung damit umgeht und an wel­chen Prinzipien sich diese orientieren. Dazu werden einige bedeutende gesetzliche Rege­lungen aus dem Schweizer Recht genauer betrachtet.

Da es bei einem solch komplexen und schwierigen Grundrechtsverhältnis unerlässlich ist Einschränkungen vorzunehmen, fokussiert sich die vorliegende Arbeit vordergründig auf den Einsatz von potentiell tödlichem Zwang durch den Staat. Dabei bildet der Einsatz von Schusswaffen gegen Personen einen besonderen Schwerpunkt.

II. Der Fall 1 BvR 357/05

1. Der zeitgeschichtliche Kontext

Nach dem Terroranschlag vom 09. September 2001, bei dem in den Vereinigten Staaten von Amerika vier Flugzeuge von Terroristen entführt worden und als tödliche Waffe ge­gen rund 3000 Zivilisten eingesetzt worden sind, stieg weltweit das Bewusstsein dafür, dass zivile Luftfahrzeuge als Instrumente des Terrors und der Vernichtung zweckentfrem­det werden können. Als Folge davon wurden weltweit Massnahmen zur Prävention sol­cher Attentate diskutiert und umgesetzt. So wurden beispielsweise die Sicherheitsvorkeh­rungen an Flughäfen massiv verschärft. Darüber hinaus drängte sich die Frage auf, welche Mittel und gesetzlichen Grundlagen man zur Verfügung hat, um solche Anschläge im eigenen Land abzuwehren. Im Zuge dieser Ereignisse wurde in Deutschland am 11. Sep­tember 2005 das LuftSiG verabschiedet, welches die deutschen Streitkräfte ermächtigt Luftfahrzeuge abzuschiessen, welche als Waffen gegen Menschenleben eingesetzt wer­den (sog. Renegade-Flugzeuge).4

2. Das beanstandete Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)

Der umstrittenste Teil dieses 5 Gesetzes fand sich in den §§ 13-15 LuftSiG6 unter dem Titel „Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte“.7 Folgend wird primär der § 14 LuftSiG näher betrachtet, da dieser die Abschusserlaubnis von Luftfahrzeugen zum Inhalt hatte. Auf die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern, bezüglich der Be­fugnisse der Streitkräfte im unterstützenden Polizeieinsatz, und auf die formelle Recht­mässigkeit des Gesetzes wird nicht weiter eingegangen.8

§ 14 Abs. 1 LuftSiG hält zunächst die milderen Alternativen zum Abschuss des Luftfahr­zeuges fest. Bevor der Abschuss in Betracht gezogen werden darf, müssen die milderen Mittel ausgeschöpft bzw. ohne Aussicht auf Erfolg sein. Diese milderen Mittel sind: Ab­drängen und/oder zur Landung zwingen des Luftfahrzeugs, die Androhung von Waffen­gewalt oder das Abfeuern von Warnschüssen.9

§ 14 Abs. 2 LuftSiG verankert explizit den Verhältnismässigkeitsgrundsatz. Es ist jeweils die Massnahme zu wählen, welche den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigen. Die Dauer und Intensität der Massnahme ist so gering wie möglich zu halten. Der herbeigeführte Nachteil und der beabsichtigte Erfolg müssen verhältnismäs­sig sein.10

Die Ermächtigung der Streitkräfte zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt ge­gen Luftfahrzeuge war konkret in § 14 Abs. 3 LuftSiG verankert. Die unmittelbare Ein­wirkung mit Waffengewalt sei nur zulässig, wenn das Luftfahrzeug als Waffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll. Zudem müsse diese Massnahme das einzige erfolgsversprechende Mittel zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr sein.11

§ 14 Abs. 4 LuftSiG regelte, wer die Kompetenz zur Anordnung der Massnahme nach Abs. 3 inne hatte. Dieser Absatz muss hier nicht weiter thematisiert werden.12

3. Die Klagebegründung

Die Beschwerdeführer machen mittels Verfassungsbeschwerde geltend, dass das LuftSiG nicht verfassungsmässig sei. Dies begründen sie damit, dass dem Staat erlaubt werde, Menschen, welche nicht Täter, sondern Opfer eines Verbrechens geworden sind, vorsätz­lich zu töten. § 14 Abs. 3 LuftSiG verstosse somit gegen Art. 1 Abs. 1 GG13 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG14 i.V.m. Art. 19 Abs. 2 GG15.16

Die Passagiere und die Besatzung eines Renegade-Flugzeuges würden durch das bean­standete Gesetz zu blossen Objekten staatlichen Handelns gemacht werden. Der Staat würde unerlaubter Weise Menschenleben quantitativ gegeneinander abwägen, m.a.W. eine Minderheit für eine Mehrheit opfern. Zudem stufe er die Leben der Flugzeuginsassen als wertlos oder minderwertig ein, da sie sowieso nur noch sehr kurz zu leben hätten. Diese Abwägungen seien beide unzulässig und liessen sich nicht dadurch rechtfertigen, dass die Flugzeuginsassen als Teil der Waffe eines Anschlages anzusehen seien. Diese Begründung missachte die menschliche Qualität und Würde der Passagiere und der Be- satzung.17

4. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Auch die Betrachtung des Urteils des BVerfG beschränkt sich auf die Vereinbarkeit von § 14 Abs. 3 LuftSiG mit dem Schutz der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und der Wesensgehaltsgarantie. Die Vereinbarkeit mit Art. 87a Abs. 2 GG18 und Art. 35 Abs. 2 und 3 GG19 wird nicht miteinbezogen.

Das BVerfG stellte fest, dass die Verfassungsbeschwerde begründet sei, da § 14 Abs. 3 LuftSiG mit den Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig sei.20

Das Gericht hält zwar fest, dass auch das Recht auf Leben von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch ein förmliches Parlamentsgesetz eingeschränkt werden könne. Dieses dürfe aber den Wesensgehalt des Grundrechtes (Art. 19 Abs. 2 GG) nicht berühren und dürfe dar­über hinaus den Grundentscheidungen der Verfassung nicht zuwiderlaufen.21

Dabei sei auch die Menschenwürdegarantie von Art. 1 Abs. 1 GG immer mitzudenken, da das menschliche Leben die Basis der Menschenwürde darstelle. Die Menschenwürde sei ein tragendes Konstitutionsprinzip und überdies der oberste Verfassungswert. Sie kommt jedem Menschen voraussetzungslos zu und kann keinem genommen werden. Es sei hierbei auch völlig unerheblich, wie lange das konkrete Leben voraussichtlich noch Bestand haben wird. Der Staat hat die Menschenwürde nach Art. 1 Abs.1 Satz 2 unbe­dingt zu achten und zu schützen und dürfe daher nicht unter Missachtung derselben in das Grundrecht auf Leben eingreifen. Was dies für das staatliche Handeln genau bedeute, lässt das BVerfG offen, da es sich nicht statisch definieren lasse. Der Mensch dürfe aber nie zum blossen Objekt des Staates gemacht werden. Dies sei der Fall, wenn der Staat mit seiner öffentlichen Gewalt so auf den Menschen einwirkt, dass seine Subjektqualität bzw. sein Status als Rechtssubjekt grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wann diese Grenze überschritten ist, kann nicht abstrakt, sondern nur am konkreten Einzelfall beurteilt wer- den.22

Weiter sei § 14 Abs. 3 LuftSiG mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dahin­gehend unvereinbar, dass beim Abschuss eines Luftfahrzeuges mit an Sicherheit gren­zender Wahrscheinlichkeit auch unbeteiligte Dritte, in Person der Besatzung, der Passa­giere und unter Umständen der Menschen am Boden, getötet werden würden. Diese Dritt­personen befänden sich in einer ausweglosen Situation und können selbst keinen Einfluss auf das Geschehen mehr nehmen. Dadurch würden sie vorderhand zum Objekt der Täter­schaft, aber bei einem allfälligen Abschuss durch den Staat auch zum blossen Objekt der Rettungsaktion. Durch diese Verdinglichung werden die betroffenen Menschen, wie oben bereits aufgezeigt, ihrer Würde beraubt. Erschwerend komme hinzu, dass eine solche Si­tuation in ihrer Komplexität und zeitlicher Dringlichkeit kaum völlig überblickt werden könne und somit Fehlinterpretationen möglich seien.23

Das BVerfG fasst abstrakt zusammen, dass es im Lichte von Art. 1 Abs. 1 GG grundsätz­lich unvorstellbar sei, unschuldige Menschen in einer hoffnungslosen Situation, gestützt auf eine gesetzliche Ermächtigung, vorsätzlich zu töten. Der Gesetzgeber dürfe mit Blick auf die Verfassung prinzipiell keine Tötungen von Unschuldigen erlauben.24 25 Auch der etwaige Ausweg über die Rechtfertigung, man habe eine Schutzpflicht gegenüber den Menschen, denen der Anschlag gilt, wird vom Gericht versperrt. Der Staat dürfe zur Er­füllung dieser Schutzpflicht nur zu Mitteln greifen, die mit der Verfassung vereinbar 25 seien.

Mit der Verfassung vereinbar wäre hingegen der Abschuss eines unbemannten oder nur mit der Täterschaft besetzten Luftfahrzeuges. Dieser Fall wäre mit der Menschenwürde der Täter vereinbar und sie würden nicht zum blossen Objekt des Staates gemacht. Dies liegt daran, dass dem Täter die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zu­gerechnet werden könne, was seiner Subjektstellung entspräche. Der schwere Eingriff in das Recht des Lebens des Täters wird mit der Rettung des Lebens von Unbeteiligten ge­rechtfertigt. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu wahren.26

Das BVerfG hat das LuftSiG schliesslich aufgrund der mangelnden Gesetzgebungskom­petenz des Bundes in vollem Umfang als verfassungswidrig und somit als nichtig er- klärt.27 Wie aber an den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, besteht nach deutschem Recht nur sehr wenig Spielraum für eine gesetzliche Ermächtigung zur unmit­telbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug. Nur wenn sich niemand oder lediglich der bzw. die Täter an Bord befinden, ist eine Abschussermächtigung ver­fassungsmässig. Diese Einschränkung macht eine solche Regelung im Hinblick auf Re- negade-Flugzeuge, welche im Fokus des neuen Gesetzes standen, unmöglich, da bei ge­kaperten Flugzeugen nahezu immer unbeteiligte Dritte involviert sind.

III. Das komplexe Grundrechtsverhältnis Leben gegen Leben

Der behandelte Fall hat ein komplexes Grundrechtsverhältnis aufleuchten lassen. Der Staat hat einerseits die verfassungsmässige Pflicht das Leben aller Menschen zu schützen. Andererseits kann es zu Situationen kommen, in denen der Staat zum Schutz von Men­schenleben das Leben eines oder mehrerer Menschen vernichten muss. Dieses Span­nungsverhältnis wirft verschiedene Fragen und Probleme auf.

Folgend wird zunächst das Recht auf Leben und die Menschenwürdegarantie in der Schweizerischen Bundesverfassung, inklusive der sich daraus ergebenden Schutzpflich­ten des Staates, dargestellt. Weiter wird das Recht auf Leben in der EMRK und die Aus­nahmen davon genauer betrachtet, da diese Reglungen für die Schweiz massgebend sind. In einem letzten Schritt kann mit der erworbenen Erkenntnis untersucht werden, wie die Schweizer Gesetzgebung und Rechtsprechung mit der Grundrechtskollision «Leben ge­gen Leben» umgeht.

IV. Das Recht auf Leben in der Bundesverfassung

1. Verankerung und Qualifikation

Wie bereits erwähnt, ist das Grundrecht auf Leben in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 BV verankert. Dieses Recht kommt, wie am Wortlaut des Artikels erkennbar, jedem Menschen zu, un­abhängig seiner Nationalität oder sonstigen Voraussetzungen. Es handelt sich somit um ein Menschenrecht und nicht um ein Bürgerrecht.28

2. Schutzbereich

Das geschützte Gut ist das Leben des Individuums, m.a.W. sein Lebendigsein.29 Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung bedeutet dies, dass alle biologischen und psychi­schen Funktionen den verfassungsrechtlichen Schutz von Art. 10 Abs. 1 Satz 1 BV ge­niessen, die den Menschen als Lebewesen charakterisieren.30

Das Recht auf Leben ist primär ein präventives Abwehrrecht und soll den Grundrechts­träger vor vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung schützen.31 Bereits bei einer blossen Ge­fährdung des Lebens greift das Abwehrrecht.32 Aufgrund von Art. 35 Abs. 2 BV besteht das Abwehrrecht nicht nur gegenüber von staatlichen Behörden, sondern auch gegenüber jedem anderen, der staatliche Aufgaben wahrnimmt.33

Art. 35 Abs. 1 und 3 BV weist auf die ebenfalls wichtige Schutzfunktion des Rechts auf Leben hin. Der Staat hat die Menschen auch vor Eingriffen Privater in das Grundrecht zu schützen, ebenso vor objektiven Gefahren für das Leben.34 Aus der Schutzpflicht des Staates fliessen unter anderem die Untersuchungspflicht und die Bestrafungspflicht bei gewaltsamen Tötungen.35

3. Kerngehalt

Wie Eingangs erwähnt, erstreckt sich der Kerngehalt von Art. 10 Abs. 1 nur auf Satz 2, das Verbot der Todesstrafe. Ein Eingriff in das Recht auf Leben ist hingegen keine Ver­letzung des Kerngehaltes.36

4. Fazit

Nach der kurzen allgemeinen Betrachtung von Art. 10 Abs. 1 Satz 1 BV kann festgehalten werden, dass der Staat das Leben aller Menschen zu schützen hat, auch vor Angriffen Dritter. Zur Erfüllung dieser Aufgabe darf er aber unter gewissen Umständen selbst in das Grundrecht auf Leben eingreifen, da nicht jede Tötung eine Kerngehaltsverletzung darstellt.37

Der Staat darf dabei selbstverständlich keine Willkür walten lassen.38 Die Rechtsstaat­lichkeit verlangt es, dass derartige Eingriffe auf gesetzeskonforme Weise erfolgen. Eine erste wichtige Orientierung für die Legitimität solcher Eingriffe bietet, wie auch im Urteil des BVerfG angesprochen wurde, die Menschenwürde, welche folgend, mit Blick auf das Recht auf Leben, kurz skizziert wird.

V. Die Menschenwürde in der Bundesverfassung

1. Verankerung und Qualifikation

Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde ist in Art. 7 BV verankert. Der Schutz der Menschenwürde ist eng mit den Menschenrechten verbunden. Dies wird schon daran deutlich, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Art. 1 AEMR mit der Feststellung der Gleichheit an Würde aller Menschen beginnt. Auch das Kapitel «Grund­rechte» in der BV wird mit dem Schutz der Menschenwürde eingeleitet.

Die Menschenwürde ist das oberste Konstitutionsprinzip des Staates, was bereits an der erwähnten systematischen Stellung in der Bundesverfassung und der AEMR ersichtlich wird. Die ganze Rechtsordnung und Staatstätigkeit haben sich nach dem Schutz Men­schenwürde auszurichten.39

Die Lehre und Rechtsprechung verzichten bewusst darauf abschliessend festzulegen, was alles zur Würde des Menschen gehört.40 Es besteht ansonsten die Gefahr, dass bestimmte Menschenbilder geschützt werden, was zu einer Bevormundung oder gar zu einem Mei­nungsterrorismus führen kann.41

Umstritten ist auch, ob der Schutz der Menschenwürde von Art. 7 BV ein selbstständiges, justiziables Grundrecht darstellt, oder ob er lediglich als Grundsatz zu betrachten ist. Die h.L. und die Rechtsprechung des Bundesgerichts sprechen sich für die Selbstständigkeit von Art. 7 BV aus.42

2. Schutzbereich

Unbestritten ist zunächst, dass die Menschenwürde jedem Menschen voraussetzungslos zukommt.43

Der Schutzbereich von Art. 7 BV ist aus den oben genannten Gründen nicht genau zu bestimmen. Daher werden die von der Menschenwürde erfassten Schutzgüter in der Lehre und Rechtsprechung eher abstrakt und nicht abschliessend definiert. Das Bundesgericht schreibt über den Normgehalt von Art. 7 BV: „Er betrifft das letztlich nicht fassbare Ei­gentliche des Menschen und der Menschen und ist unter Mitbeachtung kollektiver An­schauungen ausgerichtet auf Anerkennung des Einzelnen in seiner eigenen Werthaftigkeit und individuellen Einzig- und allfälligen Andersartigkeit.“44 An dieser Definition ist er­kennbar, wie das Bundesgericht die Offenheit der Norm wahren will und deshalb nur wenig konkret wird.

Auch die Lehre spricht sich dafür aus, dass der Gehalt der Menschenwürde unbedingt offenbleiben und im konkreten Einzelfall jeweils neu definiert werden muss.45 Einigkeit besteht darin, dass die Menschenwürde die Subjektqualität des Menschen schützt, wie dies auch im Urteil des BVerfG ausgeführt wurde, und der Mensch daher nie zum blossen Objekt des Staates gemacht werden darf.46 Dieses Instrumentalisierungsverbot geht auf IMMANUEL KANT zurück, welcher forderte, dass der Mensch niemals als blosses Mittel zum Zweck gebraucht werden darf, sondern immer zugleich selbst Zweck der Handlung sein soll.47 Der Mensch soll m.a.W. aufgrund seiner Würde nie bloss als Objekt, sondern immer auch als Subjekt behandelt werden.48

Diese breit akzeptierte Formulierung ist jedoch nach wie vor sehr abstrakt und muss von Fall zu Fall konkretisiert werden. Aus diesem Grund lassen sich schwerlich Fallgruppen unter das Instrumentalisierungsverbot subsumieren. Die Verletzung von Art. 7 BV hängt von vielen Faktoren ab, wie den Absichten der Beteiligten, der Wirkung, sowie der Art, Dauer und Intensität der konkreten Handlungen.49

3. Kerngehalt

Der Schutzbereich von Art. 7 BV entspricht dem Kerngehalt, weshalb jede Einschrän­kung der Menschenwürde automatisch eine Verletzung von Art. 7 BV darstellen würde.50

4. Fazit

Festzuhalten ist zunächst, dass die Menschenwürde jedem Menschen unbedingt zu­kommt. Es kann daher bezüglich der dem Menschen zukommenden Würde beispiels­weise keine Rolle spielen, wie lange ein Mensch wahrscheinlich noch zu leben hat. Der­artige Abwägungen sind grundsätzlich unzulässig.

Weiter ist festzuhalten, dass die Menschenwürde, als oberstes Konstitutionsprinzip des Staates, wichtige Auswirkungen auf die ganze Rechtsordnung hat. Für den hier behan­delten Grundrechtskonflikt «Leben gegen Leben» ist besonders die konkretisierende Funktion der Menschenwürde bedeutend, welche sie bezüglich aller anderen Grundrechte wahrnimmt. Die Menschenwürdegarantie ist bei der Ermittlung von Schutzbereichen, der Bestimmung von Kerngehalten, der Beurteilung der Schwere eines Grundrechtseingriffes oder der Prüfung der Verhältnismässigkeit immer mitzudenken.51

Und schliesslich ist zu beachten, dass der Normgehalt von Art. 7 BV immer mit Blick auf den konkreten Einzelfall neu festgelegt und konkretisiert werden muss. Der Mensch darf dabei nicht zum blossen Objekt des Staates degradiert werden.

[...]


1 HORAZ, S. 572.

2 BIAGGINI, N 11 zu Art. 10 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 36 zu § 11; BGE 136 I 87 E. 4.2 S. 96 f.

3 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 - 1 BvR 357/05 -, Rz. 1-156.

4 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 1 ff.

5 Vgl. BGBl. I 2005 S. 78.

6 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 24 ff.

7 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 13.

8 Vgl. dazu BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 89 ff.

9 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 26.

10 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 27.

11 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 28.

12 Vgl. dazu BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 29.

13 Schutz der Menschenwürde.

14 Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

15 Wesensgehaltsgarantie.

16 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 35.

17 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 37 ff.

18 Einsatz der Streitkräfte.

19 Rechts- und Amtshilfe zwischen Bund und Ländern.

20 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 84.

21 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 85.

22 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 119 ff.

23 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 122 ff.

24 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 130.

25 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 137 f.

26 Zum Ganzen BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 140 ff.

27 BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 155.

28 BIAGGINI, N 5 zu Art. 10 BV; TSCHENTSCHER, BSK BV, N 6 zu Art. 10 BV; Vgl. auch Art. 3 AEMR.

29 KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 9 zu § 11; TSCHENTSCHER, BSK BV, N 9 zu Art. 10 BV.

30 BGE 98 Ia 508 E. 4b S. 515.

31 BIAGGINI, N 8a zu Art. 10 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 11 zu § 11; TSCHENTSCHER, BSK BV, N 13 zu Art. 10 BV.

32 TSCHENTSCHER, BSK BV, N 13 zu Art. 10 BV.

33 TSCHENTSCHER a.a.O.

34 BIAGGINI, N 8a zu Art. 10 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 11 zu § 11; MÜLLER, KSR, S. 128; TSCHENTSCHER, BSK BV, N 18 zu Art. 10 BV.

35 Vgl. dazu KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 34 f. zu § 11.

36 Zum Ganzen BIAGGINI, N 11 zu Art. 10 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 36 zu § 11; TSCHENT- SCHER, BSK BV, N 18 zu Art. 10 BV; Vgl. auch KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 36 zu § 11 zum absoluten Verbot der Willkürlichen Tötung.

37 KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 36 zu § 11.

38 KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH a.a.O.

39 Zum Ganzen BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 1 zu Art. 7 BV; BIAGGINI, N 4 zu Art. 7 BV; KIE- NER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 6 zu § 10; BGE 143 IV 77 E. 4.1 S. 82; BGE 132 I 49 E. 5.1 S. 54 f.

40 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 2 zu Art. 7 BV; BIAGGINI, N 5 zu Art. 7 BV; BGE 132 I 49 E. 5.1 S. 54 f.

41 Vgl. dazu NEUMANN, S. 153 ff.

42 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 1 zu Art. 7 BV; BIAGGINI, N 7 zu Art. 7 BV; KIENER/KÄLIN/WYT- TENBACH, N 6 zu § 10; BGE 143 IV 77 E. 4.1 S. 82; BGE 132 I 49 E. 5.1 S. 54 f.

43 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 9 f. zu Art. 7 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 7 zu § 10; MAST- RONARDI, SG-Komm BV, N 37 f. zu Art. 7 BV.

44 BGE 132 I 49 E. 5.1 S. 55.

45 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 3 ff. zu Art. 7 BV; BIAGGINI, N 6 zu Art. 7 BV; KIENER/KÄLIN/WYT- TENBACH, N 11 zu § 10; MASTRONARDI, SG-Komm BV, N 39 zu Art. 7 BV.

46 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 11 ff. zu Art. 7 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 8 zu § 10; MASTRONARDI, SG-Komm BV, N 32 f. zu Art. 7 BV; BVerfG, - 1 BvR 357/05 -, Rz. 121.

47 KANT, S. 63.

48 Vgl. BIAGGINI, N 5 zu Art. 7 BV.

49 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 14 zu Art. 7 BV.

50 BELSER/MOLINARI, BSK BV, N 63 zu Art. 7 BV; KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, N 20 zu § 10; MAST- RONARDI, SG-Komm BV, N 56 zu Art. 7 BV.

51 BIAGGINI, N 9 zu Art. 7 BV.

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Details

Titel
Staatliche Lizenz zum Töten? Wenn in einem Rechtsstaat das Recht auf Leben zur Disposition steht
Hochschule
Universität Luzern
Veranstaltung
Komplexe Grundrechtsverhältnisse
Note
5.5 (CH)
Autor
Jahr
2022
Seiten
39
Katalognummer
V1305846
ISBN (Buch)
9783346778321
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Recht auf Leben, Grundrechte, Finaler Rettungsschus, Menschenwürde, BV, PolG, MG, Polizeiliche Generalklausel, EGMR, EMRK, Bundesgericht, LuftSiG, ZAG
Arbeit zitieren
Nico Wullschleger (Autor:in), 2022, Staatliche Lizenz zum Töten? Wenn in einem Rechtsstaat das Recht auf Leben zur Disposition steht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1305846

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