Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Struktur der Arbeit
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Innovationsforschung zu Adoption, Diffusion und Akzeptanz
2.1.1 Definition Innovation
2.1.2 Rogers Diffusionstheorie
2.1.3 Technologieakzeptanzforschung
2.1.4 Einfluss des Change Agents auf den Innovations- Entscheidungs- Prozess
2.2 Stand der Forschung von Gesundheitsinnovationen
2.2.1 Systemische Betrachtung
2.2.2 Implementierungsforschung
2.2.3 Consolidated Framework for Implementation Research
3. Der Markt der gesetzlichen Krankenversicherung
3.1 Innovationsförderung zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität
3.2 Gemeinsame und divergente Ziele der Stakeholder in der GKV
3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Kooperationen
3.4 Digitale Gesundheitsanwendungen
4. Methodik
4.1 Zielsetzung
4.2 Methodenwahl
4.3 Untersuchendes Datenmaterial
4.3.1 Dokumentenanalyse
4.3.2 Fallstudie Digitale Gesundheitsanwendungen
4.4 Rahmenstruktur zur Kategorienbildung
5. Datenauswertung
5.1 Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer
5.2 Pressemitteilung DGIM vom 22.03.2022
5.3 Bericht des GKV- Spitzenverband
5.4 Pressemitteilung des Spitzenverband Digitale Versorgung vom 15.03.2022
6. Diskussion der Kritikpunkte und Lösungsvorschläge
6.1 Preise
6.2 Zusatznutzen
6.3 Evidenz
6.4 Innovationsgrad
6.5 Prozess der Einbindung in den Behandlungsalltag
6.6 Digital Readiness im deutschen Gesundheitssystem.
6.7 Prozess des Fast- Tracks
7. Fallstudie Digitale Gesundheitsanwendungen
7.1 Analyse alternativer Zugangswege der digitalen Versorgung in die GKV
7.2 Analyse der Mental Health Apps
7.3 DiGA im Indikationsgebiet Psyche
7.3.1 DiGA des Unternehmens GAIA AG
7.3.2 DiGA des Unternehmens HelloBetter
7.3.3 DiGA des Unternehmens Selfapy
7.3.4 Invirto
7.3.5 somnio
7.3.6 Novego
7.3.7 Mindable
7.3.8 Nichtraucherhelden
7.4 Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Mental health Apps
7.5 Analyse der Onkologie Apps
7.6 Beurteilung und Interpretation
8. Limitationen
8.1 Datenerhebung
8.2 Kritische Auseinandersetzung der Methodendurchführung
9. Fazit
Anhangsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
BfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BPtK Bundespsychotherapeutenkammer
BV Med Bundesverband Medizintechnik
CFIR Consolidated Framework for Implementation Research
DiGA Digitale Gesundheitsanwendungen
DIGAV Digitale Gesundheitsanwendungen Verordnung
DVG Digitale Versorgung Gesetz
DVPMG Digitale–Versorgung–und–Pflege–Modernisierungs–Gesetz
EBM Einheitlicher Bewertungsmaßstab
GBA Gemeinsamer Bundesausschuss
GKV Gesetzliche Krankenversicherung
IQWIG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
MBO- Ä Berufsordnung Ärzte
NASSS Nonadaption, Abandoment, Scale-up, Spread, and Sustainability
pSVV patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen
PRO Patient Related Outcomes
RCT randomized controlled trial
TAM Technologieakzeptanzmodell
TK Techniker Krankenkasse
TRA Theorie überlegten Handelns
UTAUT zusammengefasstes Technologieakzeptanzmodell
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Kernkriterien
Tabelle 2 Rangfolge unternehmensbezogener Nutzwert
1 Einleitung
Zunächst führt die Verfasserin in das Thema und die Ziele dieser Arbeit ein.
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Mit dem Digitale Versorgungsgesetz (DVG) wurde die Zulassung von digitalen Gesundheitsinnovationen in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erleichtert. Zwar gibt es eine große Nachfrage in den App- Stores zu frei zugänglichen Gesundheits- Apps. Diese Nachfrage spiegelt sich jedoch nicht im GKV- System wider. Anhand der Verordnungsdaten aus dem DiGA- Bericht des GKV- Spitzenverband, sowie des DIGA- Report 2022 von der Techniker Krankenkasse (TK) lässt sich ablesen, dass es bisher kaum Ausbreitung von DiGA in der GKV gibt.1
Es liegen zur Annahme und Akzeptanz von digitalen Innovationen bereits viele Forschungsergebnisse und Modelle zur Erklärung individueller Entscheidungen zur Übernahme und Nutzung einer Innovation durch Individuen im privaten Markt vor.2 Anbieter von digitalen Gesundheitsinnovationen müssen jedoch für die Annahme ihrer Produkte und Dienstleistungen im GKV- System ein wesentlich tieferes Verständnis über Entscheidungsvorgänge der beteiligten Stakeholder erarbeiten, da Entscheidungsprozesse durch mehrere Beteiligte beeinflusst werden können. Diese systemische Betrachtung ist bisher vor allem in angloamerikanischen Gesundheitssystemen angewandt worden.3 In Deutschland ist diese Forschung weniger verbreitet. Am Beispiel der jahrelangen Hindernisse bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte erkennt man jedoch, dass allein die Sichtweise auf das Produkt und den einzelnen Kunden nicht ausreichend ist.4
Ziel dieser Arbeit ist es die Chancen und Herausforderungen von Anbietern digitaler Gesundheitsinnovationen im System der GKV herauszuarbeiten. Am Beispiel der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) werden besondere Anforderungen des GKV- Systems qualitativ herausgearbeitet. Darüber hinaus werden explorativ spezifische Faktoren eruiert. In der Fallstudie werden die gewählten Fälle zugelassener DiGA auf die Erfüllung der Anforderungen überprüft. An Beispielen erläutert die Verfasserin die mögliche Bewältigung der Herausforderungen, etwa durch alternative Zulassungswege. Abschließend werden Empfehlungen für DiGA- Hersteller herausgearbeitet und die derzeitigen Möglichkeiten für alternative Zulassungswege aufgezeigt.
Forschungsfrage: Welche Chancen und Herausforderungen haben Anbieter von DiGA im Markt der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland? Welche Anforderungen der Stakeholder aus dem GKV- System sollten Hersteller von DiGA für eine nachhaltige Unternehmensausrichtung in diesem reglementierten Markt beachten?
1.2 Struktur der Arbeit
Im 1. Kapitel wird in das Problem der Herausforderung von Innovationen und die Zielsetzung eingeführt. Das 2. Kapitel führt in die theoretischen Grundlagen in der Innovationsforschung. Diese wird gegenüber der Forschung zu Gesundheitsinnovationen abgegrenzt. Im 3. Kapitel werden die Rahmenbedingungen des GKV- Marktes für DiGA- Hersteller erläutert. Darauf folgt die Beschreibung der gewählten Methoden qualitative Dokumentenanalyse und Fallstudie im 4. Kapitel. Im 5. Kapitel erfolgt die Datenauswertung der Dokumentenanalyse und die Diskussion der daraus gefundenen Kritikpunkte im 6. Kapitel. Darauf folgt die Fallstudie im 7. Kapitel. Im 8. Kapitel reflektiert die Verfasserin die Limitationen dieser Arbeit. Mit dem 9. Kapitel schließt das Fazit ab.
2 Theoretische Grundlagen
Nachfolgend werden theoretische Grundlagen für die Untersuchung der DiGA erarbeitet.
2.1 Innovationsforschung zu Adoption, Diffusion und Akzeptanz
2.1.1 Definition Innovation
Zunächst wird Innovation im Rahmen der Fragestellung von digitalen Gesundheitsinnovationen in der GKV definiert. Medizin- Apps gab es bereits vor Einführung des Anspruchs auf DiGA und gelten im privaten Markt nicht mehr als Neueinführung.
Hauschildt und Salomo fassten die verschiedenen Definitionen von Innovation zusammen. In den meisten Definitionen wurde der Neuigkeitsbegriff angewandt.5 Dabei konstatieren sie: „Die Neuartigkeit muss wahrgenommen werden, Zweck und Mittel in einer bisher nicht bekannten Form verknüpft werden“,.. „sowie „sich auf dem Markt oder im innerbetrieblichen Einsatz zu bewähren“.6 Die Frage nach der Neuigkeit beurteilen sie in verschiedenen Dimensionen. Inhaltlich wird bewertet, was neu ist. Produktinnovationen können am Markt durch effektive Zielerfüllung neuer Zwecke oder bereits bestehender Zwecke in neuer Weise unterschieden werden. Prozessinnovationen können durch neue Faktorkombinationen die Zielsetzung effizienter erfüllen.7 DiGA werden im Rahmen dieser Arbeit sowohl als Produktinnovation, also das Produkt App, als auch als Prozessinnovation bewertet. Nicht nur das Produkt Medizin- App gilt hier als Innovation, sondern die DiGA als neuer Leistungsanspruch in der GKV und der dazugehörige Zulassungsprozess vor dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM). Auch für Leistungserbringer ist diese Behandlungsform eine Innovation, da die digitale Versorgung bisher nicht zum Standardrepertoire gehörte.8 DiGA sind Produkt- und Dienstleistungsinnovationen, insbesondere, wenn weitere Komponenten wie Ergänzung des Softwareprogramms dazukommen.9 Bereits Rogers betonte die Sichtweise der Innovationsempfänger.10 Die Neuartigkeit hängt von der subjektiven Wahrnehmung derer ab, die die Innovation betrachten.11 In dieser Arbeit wird die Innovation aus Sicht der Akteure im GKV System betrachtet. Dies sind Ärzte, Therapeuten, Patienten, aber auch die Krankenkassen. In Bezug auf die Fragestellung der Chancen und Herausforderungen werden in der Stakeholderanalyse deren Anforderungen betrachtet. Die starke Betonung auf Neuartigkeit lässt außer Acht, dass außerdem noch die Komponente des Nutzens für den Erfolg einer Innovation von Bedeutung ist.12 Daher werden Innovationsmerkmale in dieser Arbeit ebenfalls betrachtet.
2.1.2 Rogers Diffusionstheorie
Everett Rogers beeinflusste mit seinen Forschungen maßgeblich den Begriff der Diffusion von Innovationen. Er definierte diese als „process by which (1) an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system.“13
Rogers beschrieb aufgrund seiner Erkenntnisse das Modell der Adoptionsrate, die von den Innovationseigenschaften, des Innovations- Entscheidungs- Prozesses, der Kommunikationskanäle, die Art des sozialen Systems und von sogenannten Change Agents abhängig ist. Die Rate der Adoption misst die Geschwindigkeit, wie schnell eine Innovation von einem Individuum übernommen wird. Die aggregierte Adoptionsrate beschreibt den Diffusionsverlauf in einem sozialen System über die Zeit.14 Rogers stellte fest, dass fünf Attribute einer Innovation für eine hohe prozentuale Adoptionsrate der Innovation verantwortlich ist. Dies sind relativer Vorteil, Kompatibilität, Komplexität, Testbarkeit und Objektivität.15
2.1.3 Technologieakzeptanzforschung
Neben den Innovationseigenschaften sind die Merkmale der potenziellen Übernehmer einer Innovation relevant. Die sozioökonomischen Eigenschaften, persönlichen Werte und das Kommunikationsverhalten beeinflussen das Adopterverhalten.16 Mit Aufkommen der Computertechnologie entwickelte sich ein weiterer Zweig der Adoptionsforschung. Es wurden Modelle der Technologieakzeptanz entwickelt.17 Das Technologieakzeptanzmodell nach Davis nutzt die Theorie überlegten Handelns (TRA) als Grundlage. Die Verhaltensabsicht wird dieser Theorie zufolge durch die subjektive Norm, also was erwarten andere von der Technologie und wie ist deren Einstellung, sowie die innere Einstellung geprägt.18
Das grundlegende Technologieakzeptanzmodell (TAM) beinhaltet die Variablen wahrgenommene Nützlichkeit und wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit19
Es folgten Weiterentwicklungen des Modells, die ale auf die Verhaltensabsicht und tatsächliche Verhaltensintention des einzelnen Nutzers abzielen. Ausgehend von Rogers Adoptionskriterien, den Merkmalen des Adopters, ergänzten Venkathesh und Shih 2004 weitere Faktoren wie Haushaltseinkommen und externe Einflüsse, um die Nutzungsintensität von Computern nachzuweisen. Dieses Use- Diffusion Modell verband die Diffusionstheorie mit der Nutzungsabsicht.20
Außerdem fasste Venkathesh 8 von damals hervorgebrachten Akzeptanzmodellen zusammen. Es wurden die überschneidenden Elemente, sowie gemeinsame Theorien in das zusammengefasste Technologieakzeptanzmodell (UTAUT) einbezogen. Neben Rogers Diffusionstheorie und der Theorie of Planned Behavior wurden Modelle, die Adoptermerkmale beinhalten, berücksichtigt.21
Im Bereich Digital Health ist dieser Forschungszweig ebenfalls hoch relevant, wenn es um die Akzeptanz bestimmter digitaler Behandlungsmöglichkeiten geht. In einer Sekundäranalyse eines Mental health- Onlineprogramms konnten spezifische Einflussfaktoren, wie etwa die Glaubwürdigkeit der Informationsquelle, für die Nutzungsabsicht der Intervention nachgewiesen werden. Daraus lässt sich ablesen, welche Kundengruppen vom spezifischen App- Design angesprochen werden und welche Faktoren die Nutzungsabsicht fördern. Diese Forschung unterstützt die konkrete digitale Therapiegestaltung.22 Die Akzeptanzforschung konzentriert sich stark auf die Technologie und die Merkmale der Nutzer. Da die Fragestellung in dieser Arbeit sich jedoch auf fördernde und hemmende Faktoren im gesamten GKV- System bezieht, wird dieses Modell nicht explizit angewandt.
2.1.4 Einfluss des Change Agents auf den Innovations- Entscheidungs- Prozess
Die besondere Betrachtung von Innovationen im Gesundheitswesen ist in der Literatur seit Jahrzehnten dokumentiert. Bereits 1957 stellten Coleman und Menzel in der Studie „The Diffusion of an Innovation among Physicians“ die Wichtigkeit der Kommunikation durch fachlich angesehene Personen in der Berufsgruppe der Ärzte fest. Sie stellten fest, dass die Adoption eines bestimmten Medikaments durch ärztliche Kollegen, als Wissensträger und Beurteilung deren Verhaltens und Anpassung daran, beeinflusst wird.23
Ausgehend von Rogers Diffusionstheorie wandten Cain und Mittman 10 Merkmale für die Innovationsdiffusion an ein theoretisches Beispiel aus dem Gesundheitswesen an. Dabei betonten sie die Beeinflussung des Entscheidungsprozesses durch mehrere Stakeholder im Gesundheitssystem, die auch unterschiedliche Interessen haben können.24 Die Relevanz der Meinungsführer, die in sozialen Netzwerken aktiv sind und Einfluss auf Entscheidungen aufweisen, stellten sie ebenfalls klar. Sie wiesen jedoch darauf hin, dass es nicht immer frühe Übernehmer einer Innovation sein müssen. Wichtiger ist es, dass sie in der sozialen Zielgruppe als Experten wahrgenommen werden. In dieser Arbeit wird sowohl von der Entscheidung des Arztes für eine digitale Behandlungsmethode als Vertreter, als auch die direkte Patientenentscheidung zur Nutzung der App ausgegangen. Die Entscheidung über die Aufnahme einer App in das Leistungsrepertoire einer Krankenkasse ist in der Regel keine Einzelentscheidung, sondern eine kollektive Entscheidung unter Beteiligung mehrerer Experten.25
Rogers sieht den Prozess, wie eine Information über eine Innovation von einem Kenntnisträger der Innovation zu jemanden ohne Kenntnis weitergegeben, wird sowie die Beziehung zueinander ebenfalls bedeutend. Insbesondere bei einem Bezug aufgrund des gleichen sozioökonomischen Status übernimmt ein Individuum die Innovation des bereits bestehenden Adopters aus der gleichen Peer- Group eher als in heterophiler Beziehung zueinander. Neben der individuellen Informationsweitergabe zur Überzeugung zwischen Individuen fungieren Massenmedien zur Bekanntmachung einer Innovation in großen Gruppen.26 Wie wichtig die Kommunikation für den Diffusionsprozess ist, zeigen Untersuchungen, die festgestellt haben, dass viele Menschen eher durch andere, meist nahestehende Personen, zur Adoption überzeugt werden, als durch wissenschaftliche Studien über den Mehrwert einer Innovation. Dies beschreibt die Heterophilie, also Personen oder Gruppen mit ähnlichem Berufsstatus, Interessen aber auch sozialer und physischer Nähe, bei der eine effektivere Kommunikation durch eine gemeinsame Basis, zum Beispiel Fachverständnis vorliegt. Die Diffusion in einem sozialen System erfordert dabei nicht nur Homophilie, da ja Wissensträger einer Innovation, die noch Nichtwissenden überzeugen sollen. Am besten gelingt dies, wenn Homophilie in vielen Bereichen, aber nicht beim Verständnis der Innovation vorliegt.27
Rogers beschreibt in seiner Arbeit, wie Change Agents den Einfluss der Meinungsführer in der zu überzeugenden Gruppe nutzen, um die Zielgruppe besser bearbeiten zu können. Der Change Agent muss empathisch sein und die Kundenbedürfnisse verstehen und durch das diagnostizierte Problem zur Veränderung der Zielgruppe beitragen, indem der Innovations- Entscheidungsprozess aktiv angestoßen sowie die Verhaltensänderung in aktives Tun umgewandelt wird.28
Dieser Beziehungsaufbau, der über das reine Marketing hinausgeht, wird von Pharmafirmen bereits seit langem im Rahmen von Arztinformationskampagnen betrieben. Das sogenannte Key Opinion Leader-management, indem Pharmafirmen in den Beziehungsaufbau zu Ärzten, die in ihrer Gruppe hohen Einfluss auf das Verschreibungsverhalten in ihrer Gruppe haben, investieren, wird zunehmend kritisch gesehen. Deshalb schlagen Scher und Sett vor, mehr akademische Forschung zu fördern, statt das Geld in reine Meinungsbeeinflussung zu setzen. Die Forschungsförderung der Biowissenschaften generiert indirekt Wachstum in der Arzneimittelbranche.29 In dieser Arbeit soll herausgefunden werden, wer diese Rolle bei der Diffusion von digitalen Gesundheitsanwendungen übernehmen kann.
Der Innovations- Entscheidungsprozess beginnt mit der Bewusstseinsbildung einer Innovation durch unbewusst oder bewusst aufgenommene Information. Die Neigung der selektiven Informationenaufnahme kann zum Beispiel bei einem Arzt, mit Präferenz der persönlichen Arzt- Patientenbeziehung im physisch anwesenden Setting präferiert, Produkterläuterungen über rein digitale Behandlungen nicht weiter interessieren. Die selektive Wahrnehmung bewirkt, dass das fehlende Ansprechen auf ein Bedürfnis keine weitere Suche in Gang kommt.30 Außerdem wirken die früheren Erfahrungen, die Innovationsneigung und Normen, an die sich der Entscheider halten muss, ebenfalls eine Rolle.31 Wenn eine technische Neuerung auf den Markt kommt, muss zusätzlich über Massenmedien Bewusstsein darüber geschaffen werden.32 Zur Abwägung der Vorteile und Nachteile informiert sich der Interessierte.33 In dieser Phase muss der Change Agent unbedingt „How-to“ Wissen, zum Beispiel über Produkterläuterungen oder kostenlose Testmöglichkeiten bereitstellen. Dies kann auch alternativ durch Testimonials von Meinungsführern, die im sozialen System anerkannt sind und ihre Erfahrungen anderen Mitgliedern des sozialen Systems mitteilen, geschehen.34
In der Wissensphase muss insbesondere bei komplexen Innovationen, wie die DIGA, das dahinterstehende Prinzip verstanden werden, damit der Sinn der Innovation nachvollzogen und die richtige Handhabung ausgeführt wird. Auch diese Aufgabe sollte der Change Agent möglichst individuell ausfüllen.35 In der Überzeugungsphase bildet sich affektiv die langfristige innere Einstellung auf Grundlage der präferierten Innovationsmerkmale.36 In dieser Phase sollte der persönliche Austausch mit Gleichgesinnten über die persönlichen Erfahrungen, wie etwa in Workshops mit anderen Teilnehmern, gefördert werden.37 Damit positiv Überzeugte das Handeln kommen, sollten Change Agents Handlungsanreize zur Nutzung der Innovation geben und Die positive Entscheidung wird durch kostenlose Testmöglichkeiten gefördert. Dies kann alternativ auch durch Testimonials von Meinungsführern mit Anerkennung im sozialen System durch den Change Agent unterstützt werden.38 Rogers definiert das soziale System als „eine Gruppe von miteinander verbundenen Einheiten, die gemeinsam Probleme lösen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.“39
In dieser Arbeit gehören zur untersuchenden Einheit alle Akteure des Systems in der GKV, die sich mit der digitalen Versorgung der Versicherten auseinandersetzen. Inwieweit ein gemeinsames Ziel vorliegt, wird in der Stakeholderanalyse untersucht.
2.2 Stand der Forschung von Gesundheitsinnovationen
Dem deutschen Gesundheitssystem wird wenig Innovationsfreude nachgesagt. Bis eine Innovation in das System gelangt kann es mitunter viele Jahre dauern40
2.2.1 Systemische Betrachtung
Nicht nur in Deutschland, sondern auch in abweichenden Gesundheitssystemen mit anderer Rechtsgestaltung wurden vor allem systemseitige Innovationsbarrieren festgestellt. So stellte Kelley. in einer qualitativen Übersichtsstudie in Kanada fest, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) vor allem durch Fehlanreize von Leistungserbringern ihre digitalen Produkte an Kliniken und Ärzte nicht verkaufen können. Das Finanzsystem belohnt keine effiziente Versorgung, sondern Abrechnung nach Fällen.41
Warum die Annahme und Verbreitung von Innovationen im Gesundheitswesen nicht mit anderen Branchen verglichen werden kann, liegt am komplexen System der Akteure. Kowatsch. befragte während der Covid- 19 Krise im Jahr 2020 Experten nach Enablern und Barrieren von digitalen Innovationen im Gesundheitswesen. Die Ergebnisse unterteilten sie in 3 Einflussebenen, sowie einer Technologie und Innovationsebene. Auf der Technologieebene sind etwa technische Standards und Interoperabilität oder konkrete Eigenschaften der Innovation als Barriere oder Enabler einzuordnen.42 Die Makroebene umfasst das Gesundheitssystem etwa mit Bereichen wie Gesetze und Regularien, Erstgattungsregelungen, Planung von Evidenzbasierung.43 Die Mesoebene zeigt Barrieren oder Enabler bedingt durch die regionale Infrastruktur (wie regionale Abweichungen im Behandlungssetting, Abrechnungs- und Dokumentationsausprägungen, die Einstellung der Gruppe der Gesundheitsprofessionen zu Innovationskultur und das Vertrauen in digitale Lösungen , sowie Unterstützung für einen Wandel verschiedener Organisationen.44 Die Mikroebene zeigt Faktoren individueller Herkunft auf, wie beispielsweise die Einstellung des Arztes zu digitalen Gesundheitsprodukten und Dienstleistungen, oder der individuelle Charakter des End- Users.45 Auf der Makroebene wurden mehr Barrieren und auf der Mesoebene mehr Enabler identifiziert.46 An dieser Studie wird erkennbar, dass die reine Betrachtung von Diffusionsfaktoren nach Rogers unzureichend ist. Die Verfasserin konzentriert sich daher auf Rahmenmodelle, die alle drei Ebenen neben der reinen Betrachtung des Adopters und der Innovationseigenschaft einbezieht.
2.2.2 Implementierungsforschung
Das Modell der Diffusion nach Rogers wird von Gesundheitswissenschaftlern als zu passiv angesehen, da damit nur eine zufällige Verbreitung in einem System beschrieben wird. Aufgrund der Erfahrung von gescheiterten Innovationseinführungen in Gesundheitsorganisationen entwickelte sich die Implementierungsforschung. Das Modell der Dissemination erweitert die passive ungesteuerte Diffusion. Nach Grimshaw bedeutet Dissemination eine planvolle Informationsverbreitung mit dem Ziel, dass klinische Interventionen umgesetzt werden, die kosteneffizient gewünschte Ergebnisse zustande bringen. Die Implementation beinhaltet darüber hinaus nicht nur strategische Kommunikation, sondern auch die Berücksichtigung von Barrieren bei der gewünschten Verhaltensänderung der Gesundheitsprofessionen.47 Die Adoptions- und Diffusionstheorie von Rogers wurde um Forschungsergebnisse zu Innovationen im Gesundheitssystem erweitert, da diese nur auf Adoption durch Einzelentscheidungen und mit geringer Komplexität in der Entscheidungsbefugnis abzielt. Die Autoren um Greenalgh entwickelten auf Basis einer Sekundäranalyse von 28 früheren Rahmenwerken zur Implementierung neuer Technologien im Gesundheitswesen, sowie 2 Fallstudien das NASSS- Framework. Es dient zum Screening von 7 Bereichen und eine Einstufung jeden Bereichs in Komplexitätsstufen. Zentral wird die Chance zur Adoption von technologischem System in der Praxis und Implementationsplanung in einer Organisation mit Beurteilung der Komplexität sowie Maßnahmen zu deren Reduktion beurteilt.48 Dieses Rahmenwerk bezieht mehrere Ebenen ein, betont jedoch die technische Beurteilung und die Einstufung von Komplexität. Es ist eher zur Einschätzung einer konkreten Maßnahme und zur Komplexitätsreduzierung geeignet.49 Jedoch wird hier die Stakeholder- Perspektive in zu geringem Umfang betrachtet. Einige Implementierungsforscher haben außerdem neben der Betrachtung von Interventionseigenschaften in ihr Modell den Kontext mit aufgenommen, da nicht nur die Eigenschaften einer Intervention oder Innovation den Implementierungserfolg bestimmen. Der Kontext umfasst alle Faktoren, die diesen Erfolg oder Misserfolg mitbestimmen und sind unter anderem auf der Ebene der Gesellschaft, politischem System sowie auf Individualebene zu finden.50
2.2.3 Consolidated Framework for Implementation Research
Ein weitverbreitetes Rahmenwerk ist das Consolidated Framework for Implementation Research (CFIR). Damschroeder und Kollegen haben aus 19 Theorien der Innovations- und Implementierungsforschung das CFIR zur Untersuchung der förderlichen und hinderlichen Faktoren unter Einbezug des Kontextes bei der Einführung von Innovationen entwickelt. Es wird vor allem bei der Umsetzung und Evaluation komplexer Interventionen mit verschiedenen Stakeholdern auf der Mikro- Meso- und Makroebene im medizinischen Bereich angewandt.51 Grundlage war das Modell von Greenalgh aus 2004, das zusätzlich 18 weitere Theorien in die Rahmenwerkentwicklung einbezog.52 Das Modell bezieht 5 Domänen ein. Die Eigenschaften einer Intervention oder Innovation bezieht sich auf die Wahrnehmung der Stakeholder von den Eigenschaften wie relativer Vorteil, Erprobbarkeit, Belastbarkeit, Kompatibilität und Infrastruktur.53 Die Merkmale der Intervention lassen sich aus den 5 Attributen nach Rogers ableiten: Der relative Vorteil beschreibt den subjektiv wahrgenommenen Vorteil der Innovation gegenüber der bisherigen Lösung. Dies muss nicht immer ein wirtschaftlicher Mehrwert, sondern können auch soziale Vorteile der Innovation sein.54 Wenn die Innovation mit den Werten, Erfahrungen und Bedürfnissen des Übernehmers einer Innovation übereinstimmt besteht Kompatibilität.55 Inwieweit eine Innovation als einfach oder schwierig von den meisten Mitgliedern eines sozialen Systems verstanden wird, wird durch Komplexität beschrieben.56 Innovationen, die getestet werden können, werden eher angenommen, da die potenziellen Käufer ihre Unsicherheit ohne oder mit geringen Kosten reduzieren können.57 Die Beobachtbarkeit beschreibt die Sichtbarkeit der Innovationsauswirkungen. Dieses Attribut erklärt auch die Konzentration von sichtbaren Innovationen bestimmten Netzwerken.58
Der äußere Kontext wird durch die Autoren unterschiedlich, je nach Art des zu untersuchenden Kontextes beschrieben. Die Verfasserin bezieht sich bei der Beschreibung auf das 3 Ebenen Modell von Schwartz und Busse (2003) mit der Makroebene, das das Gesundheitssystem beschreibt. Die Mesoebene beschreibt den inneren Kontext, die die Gesundheitseinrichtungen und Organisationen umfasst.59 Im komplexen Gesundheitssystem arbeiten die Ebenen nicht komplett unabhängig voneinander, weshalb in dieser Arbeit alle Ebenen berücksichtigt werden.
Da in dieser Arbeit Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nicht nur als Produktinnovationen, sondern im Kontext der Leistungseinführung in die GKV als zusammenhängender Prozess von der Entwicklung und Vermarktung einer DiGA, über die Verschreibung vom Arzt bis zur Therapiebegleitung und Evaluation angesehen wird, wendet die Verfasserin angepasst auf die Forschungsfrage das CFIR Framework zur Erfassung der Anforderungen auf allen Ebenen an.
3 Der Markt der gesetzlichen Krankenversicherung
Die Rahmenbedingungen der GKV werden erläutert, da sie sich vom privaten Gesundheitsmarkt unterscheiden.
3.1 Innovationsförderung zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität
Zur nachhaltigen Tragfähigkeit der Beitragszahlergemeinschaft ist das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V bei der Leistungserbringung von allen Beteiligten zu beachten.
Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben „Anspruch auf eine „bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung“ § 70 Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V).60 Die Ausgestaltung obliegt in der Regel den ermächtigten Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) nach § 91 SGB V. Die darunter beteiligten Selbstverwaltungspartner, dies sind sowohl die Leistungserbringer als auch der GKV- Spitzenverband. Diese regeln die kollektivvertragliche Versorgung durch Aushandlung von Verträgen.61 Da es in der GKV zwar einen Leistungsrahmen in der Regelversorgung durch das Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V) gibt, der jedoch nicht abschließend ist,62 wird das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit zur evidenzbasierten Nutzenbewertung vom GBA für die Entscheidung zur Kostenerstattung neuer Behandlungsmethoden beauftragt.63 Krankenkassen sind die Vertreter der Beitragszahlergemeinschaft und müssen für eine gerechte und wirtschaftliche, verschwendungsfreie Ressourcenallokation sorgen, sowie sind der Beitragssatzstabilität nach § 71 SGB V verpflichtet.
Somit sind 2 Rahmenbedingungen maßgebend für den GKV- Markt. Zum einen muss die Wirtschaftlichkeit und Qualität eingehalten werden. Zum anderen besteht in der GKV eine Kultur des Konsensfindens.
Damit auch neue und innovative Versorgungsformen in die Regelversorgung gelangen, wurde seit dem Jahr 2015 der Innovationsfonds nach § 92a SGB V gegründet. Dieser wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) geführt. Dort werden jährlich über den Innovationsausschuss Förderungen für bestimmte Themen bekanntgegeben. Aktuelle Themenfelder mit digitalem Bezug sind: Einbindung von digitalen Technologien im Versorgungsalltag und Digitalisierung bei der Heilmittelerbringung.64
Produktinnovationen und Studien für Medizinprodukte, sowie zum Nachweis positiver Versorgungseffekte im Sinne von § 139e Abs.2 SGB V können jedoch nicht gefördert werden.65 Eine Ausnahme besteht nur in Fällen, deren Produktinnovation bereits ausgereift ist und nur „Mittel zum Zweck“ der neuen Versorgungsform ist. Diese darf aber noch nicht in der Regelversorgung etabliert sein.66 Für bereits gelistete DIGA ist damit kein Förderprojekt möglich.
Weitere Innovationsförderungen finden durch Selektivverträge nach § 73b SGB V durch Krankenkassen statt. Durch den Direktvertrag mit der Krankenkasse ist eine vorherige Aushandlung zwischen allen Selbstverwaltungspartnern, wie es beim Kollektivvertrag üblich ist, nicht notwendig. Diese Verträge sind allerdings befristet und an Zielsetzungen wie die Evaluation der Wirtschaftlichkeit – und des Qualitätserfolgs gebunden, da der Zweck eine Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Qualität ist. Es bestehen 3 Arten von Selektivverträgen. Dies sind: § 140a SGB V Besondere Versorgung, § 137f SGB V Disease Management Programme, § 63ff SGB V Modellvorhaben.67 Es besteht bei den Krankenkassen ein Verwaltungsaufwand, da Vertragsbestandteile, die sonst in der Kollektivversorgung vorliegen, aus der Gesamtvergütung herausgerechnet werden müssen. Andererseits besteht hier die einzigartige Möglichkeit, zum Beispiel mittels Routinedaten der Krankenkassen die Evidenz im Rahmen der Evaluation nachzuweisen.68
3.2 Gemeinsame und divergente Ziele der Stakeholder in der GKV
Zunächst sind die Stakeholder, die nach Definition von Freeman (1984) Einfluss auf die Zielerreichung haben, zu identifizieren.69 Bedingt durch die Dreiecksbeziehungen von Patienten, Kostenträger und Leistungserbringern ergibt sich ein veränderter Einfluss der Stakeholder auf die Adoption und Diffusion von DiGA. Daher werden die Interessen der Stakeholdergruppen eingeordnet, um deren Einflussmöglichkeiten auf die Adoption und Diffusion nachzuvollziehen.
Das Fraunhofer- Institut für Innovationssystemforschung führte von 2012 bis 2013 eine Innovationssystem- Studie durch Befragung von Akteursvertretern im deutschen Gesundheitswesen durch.70 Aufgedeckt wurden die Konfliktfelder Macht, Geld, Wettbewerb und Arbeitsorganisation/ Bürokratieabbau Das größte Konfliktfeld Geld mit dem Ziel wirtschaftlicher Erfolg auf der Seite der Hersteller steht der Beitragssatzstabilität nach § 71 SGB V und dem dahinterstehenden Ziel der Versicherten der Begrenzung finanzieller Belastung gegenüber. Daneben stehen Leistungserbringer ebenfalls mit dem Ziel wirtschaftlichem Erfolg der rationierten Verwendung Versichertengelder gegenüber. Darunter subsummiert sich das Ziel der Angestellten im Gesundheitswesen nach angemessener Belohnung- Diese stehen ebenfalls dem Ziel der Wirtschaftlichkeit den Krankenversicherungen und indirekt den Versicherten gegenüber. Andererseits wirkt der Wettbewerb in den Bereichen Leistung und Qualität, sowie Preis positiv auf die Ziele einer effizienten Gesundheitsversorgung, sowie Wirtschaftlichkeit.71 In der GKV soll eine gerechte Allokation der Ressourcen ohne übermäßige Belastung der Beitragszahlergemeinschaft erzielt werden. Mit der Vermeidung von Über- Unter- und Fehlversorgung, Einhaltung von Qualitätsstandards kann dieses Ziel erreicht werden. Eine Fehlversorgung besteht in Bereichen, wo ein bestimmtes Qualitätsmaß nicht eingehalten wird,72 In den Qualitätsrichtlinien des GBA für bestimmte Leistungsbereiche sind Struktur- Prozess- und Ergebnisqualität vorgeschrieben73
Bereits zu Beginn eines Projektes sollten Digital Health- Anbieter die Interessen der Stakeholder miteinbeziehen. Wenn wichtige Erkenntnisse und Anforderungen beachtet werden, kommt es im weiteren Verlauf zu einer wertschätzenden Zusammenarbeit. Einige Schnittstellen ergeben sich erst im Laufe des Projekts. Durch interaktive Zusammenarbeit können sich sogar die Rollen ändern.74 Außerdem sind die Verhandlungspartner beider Seiten spätestens bei den DiGA- Preisverhandlungen aufeinander angewiesen. Die Entscheidungskompetenzen für nähere Bestimmungen hat der Staat auf die Selbstverwaltungspartner übertragen, die in Verhandlungen, wie am Beispiel DiGA- Preisverhandlungen, Konsens schaffen müssen.75 Zwischen den Akteuren gibt es auch Ziele, die beide verfolgen. Die Leistungserbringer und Krankenkassen sind etwa beide an Prävention mit Krankheitsvermeidung, Vernetzung und Effizienz interessiert. Leistungserbringer wollen wiederum weniger Bürokratie. Die Akteure sollten bei gemeinsamen Zielen Kooperationen eingehen.76 Dies birgt Innovationspotenzial.77 In dieser Arbeit werden daher Ansatzpunkte für Kooperationsmöglichkeiten zwischen DiGA- Herstellern und den Stakeholdern aufgezeigt.
3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Kooperationen
Das Gesetz gegen Bestechlichkeit im Gesundheitswesen (§ 299a StGB) gibt vor, dass eine Einflussnahme heilberuflicher Entscheidungen gegen Übervorteilung jeglicher Art, ob materiell oder immateriell zu unterlassen ist. Auch sozialversicherungsrechtlich (§ 128 SGB V) und berufsrechtlich (§ 29, § 30 Musterberufsordnung- Ärzte) dürfen Hilfsmittelerbringer keine Zuwendungen für die Verordnung von Medizinprodukten an Leistungserbringer geben. Das Kooperationsverbot gilt auch für den Vertriebsweg über Vermittler, die im Rahmen der Videotelefonie Verordnungen ausstellen.78 Neben diesen Gesetzen besteht außerdem das Heilmittelwerberecht, Wettbewerbsrecht und EU- Recht, die bestimmten Einschränkungen im Rahmen der Kooperation zwischen Herstellern und Leistungserbringern vorsehen. Der Bundesverband Medizintechnologie (BV Med) hat in einem Kodex Medizinprodukte die diversen tangierenden Gesetze in Compliance- Regeln zur Empfehlung für alle Beteiligten an dem Medizinproduktevertrieb ausgeführt.79 Zusammengefasst bestehen 4 Grundsätze: Es darf eine Zuwendung an Leistungserbringer nicht zur Steigerung des Umsatzes erfolgen, etwa als Bedingung für Geld- oder Sachmittel. Sollte eine Zahlung, etwa aufgrund ärztlicher Referententätigkeit bei einem Kongress des Medizinprodukteherstellers, erfolgen, muss dies äquivalent gegenüber der Leistung sein. Überhöhte Honorare können als Beeinflussung ausgelegt werden. Die Zahlung muss außerdem dokumentiert und offengelegt werden.80 Im Rahmen von Selektivverträgen können Krankenkassen mit Leistungserbringern und Medizinprodukteherstellern mehrseitige Verträge mit dem Zweck der Versorgungsverbesserung schließen. In diesem Rahmen können Leistungserbringer mit den zusammengeschlossenen Medizinprodukteherstellern zum Zweck der Vertragserfüllung kooperieren.81
3.4 Digitale Gesundheitsanwendungen
Gesundheits- Apps gelten als digitale Güter, da diese nicht physisch ausgegeben werden. Sie sind sowohl als Produkt, als auch als Dienstleistung anzusehen. Ökonomisch gesehen ist die Bereitstellung der reinen Software mit geringen Grenzkosten verbunden, da diese einmal produziert beliebig oft über einen kostengünstigen Weg vertrieben werden können.82 Die Dienstleistung allerdings ist bis auf automatisierbare Elemente der Therapie mit laufenden Kosten verbunden. Insbesondere die Anforderungen in Bezug auf Wirksamkeitsstudien, Datenschutz und Zertifizierungen bewirken hohe Kosten. Die Unsicherheit, ob sich die DIGA- Zulassung rentiert, versuchen die Anbieter daher auf den Preis aufzuschlagen.83
Zunächst können Hersteller einen freien Preis setzen. Dies ist der tatsächliche Preis und gilt bis zur Vergütungsvereinbarung zwischen dem GKV Spitzenverband und den Herstellerverbänden oder bei Nichteinigung vor der Schiedsstelle nach § 134 SGB V beschieden worden ist. Die Schiedsstelle kommt zum Einsatz, wenn innerhalb von 9 Monaten keine Einigung zwischen den Vertragsparteien vorliegt. Der vereinbarte Preis gilt ab dem 13. Monat nach Aufnahme ins das DiGA- Verzeichnis. Dies gilt bei späterer Einigung oder Schiedsstellenspruch auch rückwirkend.84 Ab dem 13. Monat gilt somit ein Höchstpreis nach der nachfolgenden beschriebenen Systematik: Zunächst ordnen die Hersteller Ihre DiGA einer Festbetragsgruppe zu. Dies sind erstens die 17 Indikationsgruppen und zweitens die Einteilung in medizinischem Nutzen oder Nachweis für patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen (pSVV). Somit können bis zu 34 Höchstbetragsgruppen entstehen. Der Höchstpreis wird für die ersten 2000 Verordnungen einer DiGA nicht angewandt.85 DiGA mit künstlicher Intelligenz oder DiGA für seltene Erkrankungen werden in einer gesonderten Auffanggruppe und nicht den Höchstbetragsgruppen zugeordnet.86
Der Höchstpreis wird zum Berechnungsstichtag, der auf den 1. April und 1. Oktober jeden Jahres festgesetzt wurde, auf Grundlage des tatsächlichen Tagespreises aller DiGA der jeweiligen Gruppe, neu ermittelt. Der Tagespreis errechnet sich aus dem tatsächlichen Preis des Herstellers dividiert durch die im Verzeichnis angegebene Verordnungsdauer. Die meisten Anwendungen werden für 90 Tage je Verordnung ausgegeben. Einzelne Anwendungen werden gegen Einmalzahlung ohne zeitliche Beschränkung ausgegeben. Für diese wird eine 365-tägige Dauer zugrunde gelegt.87
In Höchstbetragsgruppen mit mehr als 4 DiGA erfolgt eine Reduktion nach statistischer Berechnung eines 80 Prozent- Quantils. Bei weniger als 4 DiGA in einer Gruppe gilt ein Höchstbetrag von 85 Prozent des Prognoseintervalls nach vorgegebener statistischer Methode. Vorläufig zugelassene DiGA werden weiter auf 80 Prozent des gruppenspezifischen Höchstbetrages reduziert.88 Ab der 10001. Verordnung einer DiGA wird ein 25 Prozent- Abschlag auf Berechnungsgrundlage des Höchstpreises einer Gruppe.89 Bei Anwendung von Künstlicher Intelligenz in der DiGA und bei DiGA für Seltene Erkrankungen gilt der tatsächliche Preis ohne Einordnung in eine Höchstbetragsgruppe. Bei DiGA mit einem Schwellenwert in Höhe von maximal 750.000 Euro Jahresumsatz rollierend und einem tatsächlichen Preis von maximal 25 Prozent des Durchschnittspreises aller zugelassener DiGA erfolgt keine Preisverhandlung.90
4 Methodik
Die Verfasserin analysiert zunächst die Anforderungen der Stakeholder, sowie die Entwicklung des Systems im Laufe der Zeit ab der ersten Gesetzesanpassung (DIGAV- Änderungsverordnung). Außerdem führte sie ein Interview mit einer DIGA- Expertin einer gesetzlichen Krankenkasse, um einen Praxiseinblick in das digitale Versorgungsmanagement in der GKV zu erlangen. Als letzten Schritt betrachtet sie in einer Fallstudie, inwieweit Stakeholderanforderungen bereits umgesetzt wurden. Außerdem werden Chancen und Herausforderungen der Vermarktung über den DIGA- Zulassungsprozess, sowie Fallbeispiele mit erfolgreichen alternativen Zugängen aufgezeigt.
4.1 Zielsetzung
Aufgrund dessen, dass DIGA eine neue Leistung in der GKV sind, wird der qualitative Ansatz zur Entdeckung möglicher weiterer Erfolgs- oder Misserfolgsfaktoren gewählt. Das Ziel ist nämlich keine quantitative Beurteilung, sondern die Valenz, also die Ausprägung von Bewertungen; und Kontingenz, also in welchem Zusammenhang bestimmte Aussagen der Stakeholder gemacht werden.91
In dieser Arbeit werden die Gesetzesrahmen und Strukturen des GKV- Systems in den Kontext der Ziele von marktwirtschaftlich agierenden Digital Health Unternehmen gesetzt. Die Beantwortung der Frage nach den Chancen und Herausforderungen ergibt Anpassungsmöglichkeiten an den GKV- Markt für DIGA- Hersteller.
4.2 Methodenwahl
Die qualitative Inhaltsanalyse erfolgt sowohl regelgeleitet mit deduktiven Kategorien92 anhand des CFIR- Frameworks, als auch hermeneutisch. Bei der hermeneutischen Interpretation ist das Ziel, den Kontext des zu untersuchenden Sachverhalts zu verstehen.93 Die Regelgeleitetheit der auf Theorie gestützten Kategorien sowie nichtreaktive Analyse der bereits vorliegenden Dokumente machen die Forschung mit gleichen Ergebnissen wiederholbar und damit reliabel.94 Ergänzend wurde ein problemorientiertes Interview mit einer DIGA- Expertin der TK in Bezug auf mögliche Kooperationen mit Krankenkassen in die Analyse miteinbezogen. Die Anforderungen der Stakeholder werden im Rahmen einer Fallstudie anhand von zugelassenen DiGA untersucht.
4.3 Untersuchendes Datenmaterial
4.3.1 Dokumentenanalyse
Die empirische Inhaltsanalyse wird Grundlage bereits gewonnenen Textmaterials zur Interpretation der Zielabsichten der Stakeholder mit offiziellen Dokumenten durchgeführt95 Vorteil von Sekundärdaten ist, der einfache öffentliche Zugang und somit Nachvollziehbarkeit, kein intersubjektiver Einfluss bei der Erhebung der Daten durch die der Forscherin und damit Wiederholbarkeit anhand des Datenmaterials durch andere Forscher, sowie kostengünstige Beschaffung.96 Relevante Dokumente sind offizielle Stellungnahmen der Kostenträger und Leistungserbringer seit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs des Digitale–Versorgung–und–Pflege–Modernisierungs–Gesetz (DVPMG), sowie DIGAV- Änderungsverordnung Jahr 2021. Sie stellen die Grundgesamtheit dar und gelten daher als repräsentativ.97 Es wurde jedoch auf eine Stichprobe von 4 Dokumenten eingegrenzt, um sowohl nur relevante Inhalte ohne Redundanzen zu erhalten, aber gleichzeitig auch alle Stakeholdergruppen abzubilden. Die Verfasserin hat auf Patientenseite nur die Stellungnahme der BAG- Selbsthilfe gefunden. Die Stellungnahme bezog sich ausschließlich auf die Forderung eines barrierefreien Zugangs von DiGA. Es konnten keine Stellungnahmen der Patientenvertretung zu den vieldiskutierten Argumenten der anderen Stakeholder bei den Themen Qualität, Datenschutz und Preissetzung auseinander.98 Diese Gruppe wird daher nicht einbezogen.
Zur Erfassung des gesamten Kontextes wurden für die weiteren Domänen Sekundärquellen wie Statements in Fachzeitschriften und Studien zur Akzeptanz, sowie Internetquellen einbezogen.
Folgende Dokumente wurden inhaltlich mittels Kategoriensystem analysiert:
Vertretung aller gesetzlichen Krankenkassen:
Bericht des GKV- Spitzenverbandes über die Inanspruchnahme und Entwicklung der Versorgung mit Digitalen Gesundheitsanwendungen gemäß § 33a Abs. 6 SGB V; S. 10- 2299
Vertretung der DIGA- Hersteller:
Pressemitteilung des Spitzenverband Digitale Versorgung vom 15.03.2022, S. 1-2100
Interessenvertretung der Internisten/ Hausärzte:
Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) vom 03.02.2022101 Interessenvertretung der Psychotherapeuten Vertretung der Psychotherapeuten:
Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zum Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege, 25.03.2021; S. 9- 11102
4.3.2 Fallstudie Digitale Gesundheitsanwendungen
Nach Robert K. Yin eignen sich Fallstudien, um ein aktuelles Phänomen zu erklären . Dies gilt insbesondere, wenn noch kaum wissenschaftliche Literatur darüber vorliegt. Fallstudien beantworten Fragen nach dem Wie und Warum und der Forscher hat keinen Einfluss auf das Phänomen.103 Zur aktuellen Debatte um DiGA liegen noch keine spezifischen Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Fragestellung zu Chancen und Herausforderungen von DiGA vor.
Beispielhaft werden an einer Gruppe zugelassener DiGA aus dem Mental Health und Onkologie Bereich die Umsetzung der Forderungen im Rahmen einer eingebetteten Fallstudie evaluiert. Die Fachinformationen aus der Beschreibung im DIGA- Verzeichnis des BfARM nach § 139e Abs. 1 SGB V, sowie ergänzend Unternehmenswebseiten und Fachnachrichten, werden auf die kritischen Faktoren hin untersucht.104
4.4 Rahmenstruktur zur Kategorienbildung
Das CFIR Construct Table, das vom CFIR-Forschungsteam des North Campus of Research der Universität Michigan auf der Internetseite zur Verfügung gestellt wird, wird zur Kategorisierung in der Dokumentenanalyse genutzt.105
Zentraler Ausgangspunkt ist die Frage der Chancen und Herausforderungen der neuen Leistung DIGA. Die nachhaltige Implementierung von DIGA in den Versorgungsalltag hängt von hindernden und fördernden Faktoren ab. Diese werden mit dem Konzept CFIR in den 5 Domänen kategorisiert.
Im Framework sind 39 Ausprägungen zur Untersuchung dieser 5 Domänen aufgeführt, die jedoch je nach Kontext nicht alle abgefragt werden müssen. Anwender können Anpassungen, das heißt Reduzierungen und / oder Ergänzungen je nach Fragestellung vornehmen. In einem Review der CFIR – Studien schlagen die Autoren um Damschröder darüber hinaus Verbesserungen vor. Die Implementationsergebnisse erfassen Indikatoren, wie Adoption, Implementation und Nachhaltigkeit. Ein nachhaltiger Erfolg ist einer kurzfristigen Implementierung vorzuziehen.106 Die Autoren um Damschröder unterscheiden außerdem Implementierungsdeterminanten und Innovationsdeterminanten. Ebenfalls sind die Innovationsergebnisse zu unterscheiden. Diese beschreiben Erfolgs- oder Misserfolgsfaktoren, die sich auf den Innovationsempfänger (Patient), Innovationsanbieter (Gesundheits- App Hersteller) und den Entscheidungsträger (Arzt, Therapeut) der Innovation auswirkt.107 Nachfolgend werden die 5 Domänen an die Fragestellung angepasst und definiert:
Der äußere Kontext ist der Rahmen der Untersuchung. In Bezug auf die Implementierung von DiGA werden statt user needs, die Anforderungen der Stakeholder als äußerer Rahmen gesetzt.
Diese werden in Dokumentenanalysen von Stellungnahmen der Stakeholder zu Gesetzesvorhaben und Änderungen im Preisfestsetzungssystem ermittelt. Leitplanke des äußeren Rahmens sind die Grundsätze zu Wirtschaftlichkeit und Qualität nach § 12 SGB V, sowie die Ausbalancierung mit dem neu eingebundenen Ziel der Innovationsintegration.
Darauffolgend untersucht die Verfasserin den inneren Kontext. Im Rahmen der Fragestellung sind dies die Standpunkte der Interessengruppen und ihre Normen und Grundhannahmen, sowie Bereitschaft zur Umsetzung.
Die Domäne Merkmale eines Individuums werden hier bei den DIGA- Adoptern Ärzte und Therapeuten eruiert.
Die Domäne Merkmale/ Eigenschaften einer Intervention bezieht sich hier auf die Eigenschaften einer DIGA, sowie die Eigenschaften des Einbezugs einer DIGA in die Versorgung. Diese Domäne wird nachfolgend durch nähere Überprüfung in einer Fallstudie untersucht.
Abschließend skizziert die Domäne Prozess die bisherige Implementierung der neuen Leistung DIGA. Besonderes Augenmerk wird auf die Anpassung der DIGA- Hersteller an neue Anforderungen gelegt.
5 Datenauswertung
Zunächst werden die grundlegenden Einstellungen, sowie Kritikpunkte aufgeführt.
5.1 Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer
Die hauptsächliche Auseinandersetzung fand mit der Einstellung zu den Merkmalen der Innovation statt. Die BPTK forderte in Ihrer Stellungnahme vom 25.03.2021 ein strengeres IT- Sicherheitskonzept und die Überprüfung der Einhaltung durch den BfARM. Diese Forderung wird mit der Pflicht des Vorliegens eines Sicherheitskonzepts ab dem 01.01.2023, die über die DIGAV- Änderungsverordnung geregelt wurde, umgesetzt108 Auch die Dokumentation von DIGA- App- Änderungen beim BfARM fordert sie, die ebenfalls über die Änderungsverordnung umgesetzt wird. Änderungen109 Ein großer Kritikpunkt ist die unzureichende Evidenz bei den DiGA im Erprobungsjahr und lehnen diese im Rahmen der Regelversorgung komplett ab. Einer Verlängerung der Erprobungsmöglichkeit wurde ebenfalls abgelehnt. Diese Kritik fand kein Eingang in die Gesetzgebung zur DIGAV. Hinsichtlich der DIGA- Erstattung appelliert die BPtK an eine ressourcengerechte Allokation der Versichertengelder nur für DIGA mit nachgewiesenem Nutzen. Außerdem fordern sie eine Erweiterung des Anspruchs für DIGA mit Wirksamkeitsnachweis um Hardwarebereitstellung, da sonst einige Personengruppen in der Teilhabe und in der Versorgung benachteiligt werden. Dieser Kritikpunkt wurde bisher weder von der GKV noch von den DIGA- Herstellern aufgenommen. Da die Bereitstellung eines Smartphones oder eines Laptops auch soziale Bedürfnisse abdeckt, würde die Zuständigkeit möglicherweise nicht bei der GKV, sondern in der Sozialhilfe liegen. Bei der Wahl der Behandlungsart wollen die Psychotherapeuten die Therapiefreiheit wahren, indem die Entscheidung des Einsatzes digitaler Angebote bei ihnen obliegt. Dabei betonen sie, dass eine Videobehandlung von einem wohnortnahen Psychotherapeuten begleitet werden sollte. (vgl. Anhang III)
5.2 Pressemitteilung DGIM vom 22.03.2022
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin plädiert ebenfalls für eine Begleitung digitaler Behandlung unter ärztlicher Kontrolle. Sie fordert zudem unbegrenzte Testmöglichkeiten für Ärzte, um die Eignung für den Patienten festzustellen und ihm gegebenenfalls diese zu erklären. Außerdem wünschen sich die Internisten eine größere Bandbreite, unter anderem Apps mit internistischer Indikation. Die Apps sollten an das Setting im Übergang von stationärer zu ambulanter Behandlung anpassbar sein. (vgl. Anhang IV)
5.3 Bericht des GKV- Spitzenverband
Der GKV- Spitzenverband sieht Potential der DIGA zur medizinischen Versorgungsverbesserung, Jedoch stehen demgegenüber viele Kritikpunkte bei der aktuellen Umsetzung gegenüber. Das aktuelle Zulassungsverfahren von DIGA in die Regelversorgung mit der Möglichkeit im Rahmen des Fast- Track- Verfahrens ohne vorherigen Wirksamkeitsnachweis sollte aus Sicht der GKV geändert werden. Die freie Preisbildung im Erprobungsjahr von DiGA ohne belegten Nutzen, sowie willkürliche Höhersetzung des Preises von DIGA, die vorher auf dem freien Markt erheblich günstiger waren und die Erstattungsregelung von eingelösten Freischaltcodes ohne Nachweis des tatsächlichen Nutzens ist für die GKV ebenfalls nicht nachvollziehbar. Da die Preise von einzelnen DiGA erheblich teurer als der Durchschnitt sind, konzentrieren sich die Kosten auf wenige Indikationen. Apps aus der Gruppe der Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten etwa verursachen einen höheren Kostenblock als andere Indikationen mit wesentlich höheren Verordnungszahlen.
Die Angebotsbreite konzentriert sich auf Indikationen mit hoher Prävalenz. Insbesondere bei der Indikation Psyche sind viele Apps gelistet. Außerdem analysierte der GKV- Spitzenverband das Verordnungsverhalten im Berichtsjahr bis 30.09.2021. Die Verordnungen konzentrierten sich überwiegend auf die 3 Arztgruppen Hausärzte, HNO- Ärzte und Orthopäden. Bei den Fachärzten wurden hauptsächlich homogene indikationsäquivalente Verordnungen Ihres Fachbereichs festgestellt. Die Hausärzte verordneten mit zirka einem Drittel der Verordnungssumme am meisten DiGA und aus verschiedenen Indikationsgruppen. Außerdem wurden in einigen Ballungsgebieten, wie den Großstädten Berlin Hamburg und dem Bundesland NRW mehr Apps verschrieben als in Flächenländern. Die GKV bemängelt den Innovationsgrad von Apps, wie etwa Selbsthilfemanuals, bei denen eine Leitlinie in die App übertragen wurde. (vgl. Anhang I)
5.4 Pressemitteilung des Spitzenverband Digitale Versorgung vom 15.03.2022
Der Spitzenverband Digitale Versorgung reagierte prompt auf die Kritik aus dem GKV- Bericht und stellte die Leistung als digitales Format an sich als Innovationsleistung dar. Sie sehen sehr wohl einen Nutzen, wie etwa Adährenzstärkung und vereinfachte Verlaufskontrollen für Ärzte durch digital erstellte Arztberichte, die durch die digitale nutzerfreundliche Erfassung lückenloser sind.
Außerdem argumentierte der Verband zur GKV- Kritik der fehlenden Evidenz von vorläufig gelisteten DiGA, dass beim Antrag schon Hinweise für einen tatsächlichen Nutzen gegeben werden müssen. Die endgültige Evidenz können viele vorläufig gelistete DIGA im Erprobungsjahr belegen. Ohne dieses Verfahren würde das DIGA- Angebot erheblich geringer sein. Zum größten Kritikpunkt, den Kosten, kam vom Spitzenverband Digitale Versorgung keine Erklärung. (vgl. Anhang II)
6 Diskussion der Kritikpunkte und Lösungsvorschläge
Nachfolgend werden kritische Punkte aus der Dokumentationsanalyse diskutiert. Außerdem werden mögliche Handlungsvorschläge gegeben.
6.1 Preise
Vom GKV Spitzenverband der Krankenkassen bemerkte Anmerkungen zur Preisgestaltung. Es konnte nicht nachvollzogen werden, warum willkürlich die Preise nach Aufnahme in das DIGA- Verzeichnis so stark erhöht wurden. So eine Erhöhung wird bei Unkenntnis der Hintergründe als unfair wahrgenommen. Preiserhöhungen werden nur dann als fair wahrgenommen, wenn auf der Seite des Verkäufers Kostenerhöhungen vorliegen, die den Käufern als Begründung offengelegt werden.110 Außerdem kritisierten die Kassen, dass die DIGA am freien Markt einen viel günstigeren Preis haben. Dieser wird als Ankerbeispiel genommen. Käufer orientieren sich an Referenzen. Ein Referenzpreis beeinflusst demnach ebenfalls die Wahrnehmung der Preisfairness.111 Nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip des § 12 SGB V orientiert sich die GKV ebenfalls an die Referenz der analogen Behandlung. Höhere Kosten für die gleichen Behandlungen, nur in digitaler Form, werden bei Fehlen eines zusätzlichen Nutzens als nicht gerecht wahrgenommen.
Da GKV- spitzenverband, die Preise nach Ablauf des Erprobungsjahrs verhandelt, sollte durch den DIGA- Hersteller die Preisfestsetzung transparent erläutert werden. Außerdem sollten die preisbestimmenden Faktoren Zusatznutzen, Evidenz und Innovationsgrad bereits in der App- Entwicklung berücksichtigt werden, um die Preisgestaltung zu begründen.
6.2 Zusatznutzen
Der zusätzliche Nutzen müsste nachgewiesen werden. In der Diskussion um die Konzepte zur Vergütung von DIGA wurde das vorgeschlagene Value- Based Pricing vom Vorsitzenden der DIGA- Schiedsstelle Prof. Wasem mit der Begründung abgelehnt, dass der Fast- Track Prozess vor den Preisverhandlungen dieses schwierig mache. Da keine Abstufungen bei positiven Versorgungseffekten gemacht werden, kann eine intensive Prüfung eines Zusatznutzens, wie es etwa bei innovativen Arzneimitteln auf Grundlage des AMNOG gemacht wird, nicht mehr in dem Umfang nachgeholt werden.112 Außerdem gestaltet sich eine Nutzenbewertung für die DIGA schwierig, da im Zulassungsprozess sehr unterschiedliche Studiennachweise erlaubt sind. Der Zulassungsprozess müsste also bereits einheitliche Studiendesigns fordern. Darüber hinaus sollte Wasem zufolge nicht nur das Outcome, also der Wert einer Behandlung gezahlt werden, sondern auch die hohen Entwicklungskosten. Die Unternehmen werden bei der Preissetzung diese Kosten mit einpreisen, um ihr Risiko zu minimieren. Anisa Idris von Ada Health betonte darüber hinaus, dass der Datenschutz ebenfalls ein Hindernis für dieses neue Preismodell sei.113
[...]
1 vgl. Techniker Krankenkasse (2022a).
2 vgl. Shih, Chuan-Fong / Venkatesh, Alladi (2004), S. 60.
3 vgl. Greenhalgh, Trisha u.a. (2017).
4 vgl.Hauschildt, Jürgen (2016), S. 239.
5 vgl.Hauschildt, Jürgen (2016), S.5.
6 ebenda, S. 5.
7 vgl.ebenda (2016), S. 6.
8 vgl.ebenda (2016), S. 6.
9 vgl.ebenda (2016), S. 7.
10 vgl.Rogers, Everett M. (2003), S. 5.
11 vgl.Hauschildt, Jürgen (2016), S. 17.
12 vgl. ebenda (2016), S. 23, S. 79.
13 Rogers, Everett M. (2003), S. 36.
14 vgl.ebenda (2003), S. 221, S. 222.
15 vgl.ebenda (2003), S. 220.
16 vgl. ebenda, S. 287.
17 vgl. Davis, Fred D. / Bagozzi, Richard P. / Warshaw, Paul R. (1989), S. 982.
18 vgl.ebenda (1989), S. 984, S. 985.
19 vgl.ebenda (1989), S. 985.
20 vgl. Shih, Chuan-Fong / Venkatesh, Alladi (2004), S. 60, S. 64- 65.
21 vgl. Venkatesh, V. u.a. (2003), S. 424- 426.
22 vgl. Apolinário-Hagen, Jennifer u.a. (2022), S. 1-3.
23 vgl.Coleman, James / Katz, Elihu / Menzel, Herbert vgl. (1957), S. 253-270.
24 vgl. Cain, Mary / Mittman, Robert vgl. (2002), S. 5- 6.
25 vgl.Rogers, Everett M. (2003), S. 403.
26 vgl.Rogers, Everett M. (2003), S. 18.
27 vgl.ebenda (2003), S. 19-20.
28 vgl.ebenda (2003), S. 368- 370.
29 vgl. Scher, Jose U. / Schett, Georg (2021), S. 119, S.121- 122.
30 vgl.Rogers, Everett M. (2003), S. 169- 171.
31 vgl.ebenda (2003), S. 170.
32 vgl.ebenda (2003), S. 173.
33 vgl.ebenda (2003), S. 172.
34 vgl.ebenda (2003), S. 173.
35 vgl.ebenda (2003), S. 173.
36 ebenda (2003), s. 174- 175.
37 vgl.ebenda (2003), S. 175- 176.
38 vgl.ebenda (2003), S. 176- 177.
39 ebenda (2003), S. 23.
40 vgl. Versicherungswirtschaft heute (2019).
41 Vgl.Kelley, Leah Taylor u.a. vgl. (2020), S. 10.
42 vgl. Schlieter, Hannes u.a. vgl. (2022), S. 2f.
43 vgl. ebenda vgl. (2022), S. 4.
44 vgl. ebenda vgl. (2022), S. 4.
45 vgl. ebenda vgl. (2022), S. 5.
46 vgl. ebenda vgl. (2022), S. 2, s. 4.
47 vgl.Grimshaw, Jeremy M. u.a. (2002), S. 241.
48 vgl. Greenhalgh, Trisha u.a. (2017).e367
49 vgl. ebenda. e367
50 vgl.Craig, Peter u.a.S. 5 . (2018), S. 5.
51 vgl. Damschroder, Laura J. u.a. vgl. (2009), S. 3-5.
52 vgl.Damschroder, Laura J. u.a. (2009), S. 16.
53 vgl.Rogers, Everett M. (2003), S. 15- 16.
54 vgl.ebenda (2003), S.15.
55 vgl.ebenda (2003), S. 15.
56 vgl.ebenda (2003), S. 16.
57 vgl.ebenda (2003), S. 16.
58 vgl.ebenda (2003), s. 16.
59 vgl. Borgetto, Bernhard (2011), S. 294.
60 vgl.Bundesgesundheitsministerium (2016).
61 vgl.Bundesgesundheitsministerium (2021b)., online
62 vgl. Bundesgesundheitsministerium (2016).
63 vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss (o.J.).
64 vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss- Innovationsausschuss (2022).
65 vgl. Innovationsfondsausschuss beim GBA (2021), S. 9., online
66 vgl. ebenda, S. 10.
67 vgl.AOK - Bundesverband (2021a).
68 vgl.ebenda (2021a).
69 Vgl.Freeman, R. Edward vgl. (1984), S. 46.
70 vgl.Heyen, Nils B. / Reiß, Thomas vgl. (2013), S. 37f.
71 vgl. Heyen, Nils B. / Reiß, Thomas (2013), S. 42, 43.
72 vgl. Augurzky Boris / Beivers, Andreas / Straub, Nils (2016), S. 254.
73 vgl. ebenda, S. 250.
74 vgl. Concannon, Thomas W. u.a. (2019), S. 459f.
75 vgl. Hartmann, Anja (2010), S. 341.
76 vgl.ebenda (2014),S. 43,S. 44.
77 vgl. Heyen, Nils B. / Reiß, Thomas vgl. (2014), S. 169.
78 vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung (2022), S. 3.
79 vgl. Bundesverband Medizintechnologie e.V. (2020), S. 1.
80 vgl. Bundesverband Medizintechnologie e.V. (2017).
81 vgl. Braun, Julian (2016), S. 680.
82 vgl. Peters, Ralf vgl. (2010), S. 1- 3.
83 vgl.TK- DIGA- Expertin (2022).
84 vgl. SGB V- Gesetzliche Krankenversicherung (2022).
85 vgl. Schiedsstelle nach § 134 Abs. 3 SGB V (2021), S. 10.
86 vgl.ebenda (2021), S. 14.
87 vgl.ebenda (2021), S. 10- 11.
88 vgl.ebenda (2021), S. 11.
89 vgl.ebenda (2021), S. 12.
90 vgl. Schiedsstelle nach § 134 Abs. 3 SGB V (2021), S. 12- 14.
91 vgl.Kromrey, Helmut / Roose, Jochen / Strübing, Jörg (2016), S. 323.
92 vgl.ebenda (2016), S. 314.
93 vgl. Knassmüller, Monika / Vettori, Oliver vgl. (2007), S. 304.
94 vgl.Kromrey, Helmut / Roose, Jochen / Strübing, Jörg (2016), S. 372.
95 vgl. Kromrey, Helmut / Roose, Jochen / Strübing, Jörg (2016), S. 311.
96 vgl. ebenda vgl. (2016), S. 101- 103, S. 372.
97 vgl.ebenda (2016), S. 378.
98 vgl. BAG Selbsthilfe e.V. (2020).
99 vgl.GKV- Spitzenverband (2022).
100 vgl. Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. (2022).
101 vgl. Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (2022).
102 vgl. Bundespsychotherapeutenkammer (2021), S., 9– S. 11.
103 vgl.Yin, Robert K. vgl. (20]10), S. 8f.
104 vgl.BfARM (2022e).
105 vgl.CFIR Research Team University of Michigan (2022).
106 vgl. Damschroder, Laura J. u.a. (2022), S. 3-4.
107 vgl. Damschroder, Laura J. u.a. (2022), S. 4, S. 7- 8.
108 vgl. Bundesgesundheitsministerium (2021a), § 4 DIGAV i.V.m. Anlage 1.
109 vgl. ebenda, § 18 DIGAV.
110 vgl. Kahneman, Daniel / Knetsch, Jack L. / Thaler, Richard H. (1986), S. 298.
111 vgl. ebenda, S. 297.
112 vgl. Ärzteblatt.de (2021).
113 vgl. ebenda.