Leseprobe
Medizinische Behandlungen im Umfeld der Kreuzzüge
Universität Würzburg - Institut für Geschichte Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften Seminar: Medizin im Mittelalter - WS 21/22 Essay von Markus Lüske
Befasst man sich wissenschaftlich mit der Medizin im Mittelalter, dann gelangen auch kriegerische Konflikte und ihr Umfeld in den Fokus der Untersuchungen. Auf der Grundlage einer arabischen Quelle soll in diesem Essay die Frage beantwortet werden, ob man zur Zeit der Kreuzzüge eine Überlegenheit der arabischen Medizin gegenüber der fränkischen Heilkunde konstatieren kann.
Die zu analysierende Quelle ist ein Auszug aus den Memoiren „Kitāb al-I'tibār“ („Buch der Belehrung durch Beispiele“1 ) des syrischen Ritters Usāma ibn Munqiḏ, der seine Erlebnisse aus der Zeit der Kreuzzüge in diesem Buch festhielt. Usāma war beduinisch-arabischen Ursprungs und kam am 04. Juli 1095 in Schaizar (Syrien) zur Welt. Er wurde in der Kriegs- und Jagdkunst unterwiesen und erhielt Unterricht in der arabischen Sprache, in Literatur und in der islamischen Religion.2 Hinweise auf eine medizinische Ausbildung sind weder in der untersuchten Quelle noch in der hier verwendeten Sekundärliteratur zu finden.
Usāma erlebte die Auseinandersetzungen mit den Kreuzrittern hautnah: Mit 24 Jahren führte er eine Offensive gegen die Kreuzfahrer an, ebenso in den Jahren 1129, 1135 und 1137. Im Frühjahr 1138 musste er seine Geburtsstadt Schaizar vor dem byzantinischen Kaiser Johannes II. Komnenos und „fränkischen“3 Truppen verteidigen.4 Er kämpfte aber nicht nur gegen Kreuzfahrer, sondern auch gegen muslimische Truppen. Dieser Umstand ist mit der Situation in Syrien zum Ende des 11. Jahrhunderts zu erklären, wo sich kleine und unabhängige syrische Emirate bekämpften und dazu sogar teilweise Bündnisse mit den Kreuzfahrern eingingen. Usāma ibn Munqiḏ begegnete den Kreuzfahrern aber nicht nur im Kampf, sondern auch in diplomatischer Funktion zu Friedenszeiten.5
Seit den 1160er Jahren widmete sich Usāma hauptsächlich seinem literarischen Werk, von dem das Kitāb al-I'tibār aus heutiger Sicht das bedeutendste ist.6 1188 starb er im Alter von 93 Jahren in Damaskus. Usāma ibn Munqiḏs Memoiren, die der Autor um 1183 niederschrieb, sind eine primäre erzählende Quelle und eventuell vergleichbar mit der Quellengattung der Heiligenlegenden. Sie gehören zu der als „Adab“ (Verhaltensregeln) bekannten Literaturgattung, die darauf abzielt, ihre LeserInnen zu unterhalten, aber auch zu belehren.7
Nach Philip K. Hitti gibt uns das Werk einen Einblick in die syrischen Methoden der Kriegsführung, des Handels und der medizinischen Praxis und führt sowohl in das muslimische Hofleben wie auch in das private häusliche Leben ein. Es bietet auch einen Einblick in die Denkweise der arabischen Ritter, wie sie mit den Kreuzfahrern als Freunde umgingen und wie sie gegen sie als Feinde kämpften.8 Usāmas Werk ist keine klassisch-arabische Autobiographie, sondern es handelt sich eher um anekdotische Erzählungen, die ihm gelegentlich auch durch Dritte zugetragen wurden. Dennoch kann mit Bezug auf den Wahrheitsgehalt den Geschichten ein gewisser historischer Kern nicht abgesprochen werden.9
Zur Illustrierung der fränkischen Heilkunst führt Usāma den Bericht des arabischen christlichen Arztes Ṯābit an, den sein Onkel zu den Franken sandte, um die dortigen Kranken zu behandeln. Seinen Bericht beginnt Ṯābit mit der Diagnose der Krankheiten (Geschwür am Bein eines Ritters, eine an Austrocknung leidende Frau); anschließend berichtet er von seinen Heilmethoden und ihren Wirkungen. Der Darstellung seines medizinischen Wissens wird das Auftreten des fränkischen Arztes gegenübergestellt. Die Heilverfahren des Arabers stellt dieser in Frage und im Gegensatz zum arabischen Arzt verzichtet er auf eine gründliche Untersuchung. Ohne zu zögern, lässt der fränkische Arzt die Beinamputation mit einem Beil durchführen, woraufhin der kranke Ritter augenblicklich stirbt.10
Dass die fränkischen Heilmethoden „gar seltsam“11 sind, zeigt auch der Bericht Ṯābits über die an Auszehrung leidende Frau. Derselbe fränkische Arzt glaubt nämlich, dass der Teufel in ihrem Kopf sei und lässt ihr zur Heilung die Haare abrasieren. Als dies nicht hilft, beharrt der Franke weiterhin darauf, dass der Teufel aus ihrem Kopf vertrieben werden müsse und schneidet ihr ein Kreuz in die Kopfhaut, welches mit Salz eingerieben wird. Auch die Frau stirbt auf der Stelle.12
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wolle Usāma mit diesen zwei Beispielen demonstrieren, wie rückständig die zum Teil von Aberglauben beeinflusste fränkische Medizin ist. Wie überlegen ist da die arabische Heilkunst, denn Ṯābit versteht es, auf der Grundlage der Säftelehre des Hippokrates bzw. der Humoralpathologie Galens bei seiner Diagnose und Therapie die Schmerzen der Patienten zu lindern.
Allerdings bin ich der Meinung, dass diese singulären Ereignisse nicht ausreichen, um Usāmas Intention dahingehend interpretieren zu können, dass er grundsätzlich die arabische Heilkunde für überlegen hält. Es ist davon auszugehen, dass solche Anekdoten unterhalten sollten, indem sie eine unzivilisierte Barbarei amüsant und mit Ironie schildern. „Dies war in einem dezidiert anti-fränkischen sozio-religiösen Klima, in dem Usāma seine Memoiren verfasste, sicherlich nicht unpassend.“13
An anderer Stelle räumt Usāma ibn Munqiḏ allerdings ein, dass er auch erfolgversprechende Heilverfahren der Franken gesehen habe. Er beschreibt, wie ein fränkischer Arzt die Wunden des Schatzmeisters des Königs von Jerusalem mit saurem Essig erfolgreich behandelt, nachdem dieser von einem Pferd getreten wurde, so dass dessen Bein dadurch an vierzehn Stellen eiterte. „Da schloß sich die Wunde, der Ritter gesundete und war wieder wie der Teufel.“14
Auch der Therapievorschlag für die Behandlung der Skrofulose (Hauterkrankung mit Halsdrüsengeschwulsten) bei einem syrischen Jungen durch einen fränkischen Arzt wird von Usāma zwar als seltsam bezeichnet, die Heilung auf der Basis einer Rezeptur aus Pottasche, Öl, Essig, geschmolzenem Blei, vermischt mit Butter ringt dem Erzähler sicherlich Respekt und Anerkennung ab und lässt die fränkische Heilkunst in einem positiven Licht erscheinen.15
Diese zwei Beispiele zeigen, dass auch in der fränkischen Medizin die Erkenntnisse der Humoralpathologie und der salernitanischen Schule bekannt waren und diese von erfahrenen Physici bzw. Medici angewendet wurden. Es gab also Parallelen in der okzidentalen und orientalen Heilkunst, weshalb ich der Meinung bin, dass man auf der Grundlage dieser Quellen nicht von einer Überlegenheit der arabischen Medizin sprechen kann, auch wenn Usāma dies suggeriert. Aus dem Blickwinkel der Empirie ist die Datenbasis auch nicht ausreichend, um die Gültigkeit der These von der arabischen medizinischen Überlegenheit zu bestätigen.
Die Parallelen in der Heilkunst lassen sich eventuell dadurch erklären, dass es in Palästina zur Zeit der Kreuzzüge zu einem Austausch medizinischen Wissens kam, wovon beide Seiten profitieren konnten. Zum Beispiel stellte der Johanniterorden Statuten auf, die zu medizinischen Standards im Jerusalemitaner Hospital wurden und die sich an arabischen Einrichtungen orientierten.16
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Überlegenheit der arabischen Medizin gegenüber der westlich-christlichen Medizin durch die hier zitierten Quellen nicht eindeutig belegt werden kann. Humoralpathologie und Miasmentheorie waren in beiden Welten bekannt und gelangten bei medizinischen Behandlungen zur Anwendung. Und im chirurgischen Bereich, der bis dato nur rudimentär entwickelt war, standen Okzident und Orient gleichsam am Beginn der Entstehung einer neuen medizinischen Disziplin.
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1 Usāma ibn Munqiḏ, Kitāb al-I'tibār. Die Erlebnisse des syrischen Ritters Usama ibn Munqiḏ. Unterhaltsames und Belehrendes aus der Zeit der Kreuzzüge. Übersetzt von Holger Preißler, Leipzig 1981.
2 Alexander Schauer, Muslime und Franken. Ethnische, soziale und religiöse Gruppen im Kitāb al-itibār des Usāma ibn Munqiḏ, in: Islamkundliche Untersuchungen 230, Berlin 2000, 10.
3 Als „Franken“ wurden in der islamischen Geschichtsschreibung generalisierend die westlichen bzw. europäischen Christinnen und Christen bezeichnet. Siehe Carolin Hestler/u.a., Die Kreuzzüge, Stuttgart 2018, 24.
4 Usāma ibn Munqiḏ, Kitāb al-I'tibār (Anm. 1), 281 f.
5 Carolin Hestler/u.a., Die Kreuzzüge, in: Jugendliche im Fokus salafistischer Propaganda. Unterrichtseinheiten und Unterrichtsmaterialen, hrsg. v. Landesinstitut für Schulentwicklung, Stuttgart 2018, 7–30, 24.
6 Schauer, Muslime und Franken. Ethnische, soziale und religiöse Gruppen im Kitāb al-itibār des Usāma ibn Munqiḏ (Anm. 2), 35.
7 o.A./Wikipedia, Kitab al-I'tibar 2021. https://en.wikipedia.org/wiki/Kitab_al-I%27tibar (09.02.2022), 1.
8 Usama Ibn Munqidh, Kitāb al-itibār. (Book of Instruction by Example). An Arab-Syrian Gentleman and Warrior in the Period of the Crusades. Übersetzt von Philip K. Hitti, New York 1999, 14.
9 Hestler/ u.a., Die Kreuzzüge (Anm. 5), 14.
10 Usāma ibn Munqiḏ, Kitāb al-I'tibār (Anm. 1), 149.
11 Ebd., 148.
12 Ebd., 149.
13 Schauer, Muslime und Franken. Ethnische, soziale und religiöse Gruppen im Kitāb al-itibār des Usāma ibn Munqiḏ (Anm. 2), 103.
14 Usāma ibn Munqiḏ, Kitāb al-I'tibār (Anm. 1), 150.
15 Ebd.
16 Thomas Gregor Wagner, Die Seuchen der Kreuzzüge. Krankheit und Krankenpflege auf den bewaffneten Pilgerfahrten ins Heilige Land (Würzburger medizinhistorische Forschungen Beiheft, 7), Würzburg 2009, 95.