Leseprobe
Inhalt
1 Menschenwürde als leere Norm?
2 Menschenwürde als formal bedingungsreicher Wert
3 Würderealismus und Würdekonstruktivismus
3.1 Theoriespezifische Zusatzbedingungen
3.2 Kritik am Würderealismus und Würdekonstruktivismus
4 Entwürdigung der Debatte und Ausblick
5 Literaturverzeichnis
1 Menschenwürde als leere Norm?
Menschenwürde gilt in vielen Denkansätzen als zentraler Wert zur Begründung von Menschenrechten. Im deutschen Grundgesetz werden letztere unmittelbar aus der Würde des Menschen abgeleitet.1 Sie gilt als „Fundamentalnorm"2 und „absoluter Wert“3, als Reaktion auf die unsagbaren Grausamkeiten im Zweiten Weltkrieg und symbolisiert den politischen Willen der Gründungsnationen der UNO in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.4 Im Rahmen verschiedener bioethischer Debatten gewann der Begriff im deutschen Diskurs in der jüngeren Vergangenheit erneut an Bedeutung. Moralische Grenzprobleme, zum Beispiel ab welchem Zeitpunkt ein beginnendes menschliches Leben moralisch relevant ist, werden unter Berufung auf den Begriff ^Menschenwürde' zu klären versucht.5 Auffällig ist, dass sich in den Debatten gegensätzliche Positionen in ihrem Ausgangspunkt auf Würde stützen und zu konträren Ergebnissen gelangen.6 Das liegt daran, dass nicht klar ist, was mit ^Menschenwürde' gemeint ist. Eine große Bandbreite an verschiedenen Theorien darüber, wie der Begriff zu verstehen ist, kann dem keine Abhilfe schaffen, sondern verstärkt die Verwirrungen innerhalb der Debatte so weit, dass Panajotis Kondylis in einem begriffsgeschichtlichen Aufsatz zum Thema letztlich zu dem Schluss kommt, dass es sich bei ^Menschenwürde' um einen leeren Begriff handelt.7 Auch wenn die Menschenwürde als internationale Rechtsnorm weitreichend anerkannt wird und in der Alltagssprache analog dazu Verwendung findet, um soziale Missstände etwa als ^menschenunwürdige Verhältnisse' zu kennzeichnen, gibt die Vagheit des Begriffs Anlass seine rechtliche Begründungsfunktion kritisch in Frage zu stellen. Inwiefern Menschenwürde zur Begründung universeller Menschenrechte geeignet ist, ist Gegenstand dieser Arbeit.
Es wird zunächst versucht, die wesentlichen Konfliktlinien der Debatte aufzuzeigen und zu erklären, wie eine Ableitung von Menschenrechten aus Menschenwürde funktionieren kann. Um dies zu gewährleisten endet Kapitel 2 mit dem Aufstellen von vier notwendigen Kriterien, die ein Ansatz zur Definition von Menschenwürde erfüllen muss. Menschenwürde wird als Wert aufgefasst und die Auseinandersetzung ist unter anderem auf die basalere Debatte zwischen Werterealismus und Wertekonstruktivismus zurückzuführen. In Kapitel 3 wird dies kurz erläutert und in 3.1 für die entsprechenden Lager jeweils Sonderbedingungen aufgestellt, die sich aus den theorieeigenen Spezifika ergeben. In 3.2 werden die dargestellten Positionen auf Grundlage der erarbeiteten Bedingungen auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Welche Erkenntnisse für die Begründung von Menschenrechten erzielt werden konnten und was das für den weiteren Verlauf der Debatte bedeutet wird im Fazit resümiert.
2 Menschenwürde als formal bedingungsreicher Wert
In diesem Kapitel wird versucht sich dem Begriff der Menschenwürde anzunähern, indem zunächst wesentliche Konfliktlinien der Debatte benannt und dargestellt werden. Um den vielen Uneinigkeiten entkommen zu können und Klarheit darüber zu erlangen, welche Ansätze zutreffend sind und welche nicht, wird nachvollzogen, wie üblicherweise die Ableitung von Menschenrechten aus der Menschenwürde funktioniert. Um eine gültige Deduktion zu gewährleisten werden Bedingungen aufgestellt, denen ein Verständnis von Menschenwürde standhalten muss.
Die Diskussion um Menschenwürde ist rangt sich um verschiedene Felder, sodass es schwierig ist, wesentliche Brennpunkte auszumachen. In unterschiedlichen Beiträgen werden die Konfliktlinien nur selten zweifach genannt. Uneinigkeit herrscht zunächst bei der Frage nach den Adressatinnen*Adres- saten der Menschenwürde, das heißt wem Würde zukommt und wem nicht. Der Punkt trifft unter anderem Debatten um die moralische Relevanz pränataler menschlicher Lebensformen, zum Beispiel im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik. Der Konflikt besteht darin, ob Würde etwas prinzipiell Gegebenes, also Nichtrelationales im Sinne einer spezieseigenen ontologischen Eigenschaft ist oder erworben werden muss, also relational ist und zugeschrieben wird. Umstritten ist auch, ob es ein ,mehr' oder ,weniger' an Würde gibt, also ob Würde abstufbar ist und zwischen Menschen in ,vollem' Sinne und ^sonstigen' menschlichen Lebensformen unterschieden werden muss.8 Wie der Adressatinnen*Adres- satenkreis bestimmt wird, hängt im Wesentlichen damit zusammen, wie der Inhalt der Würde bestimmt wird, was den Kern der Debatte darstellt und Bezug auf die anderen Konfliktlinien nimmt. Es gibt unterschiedliche klassische Kandidaten, wie Würde als natürliche Eigenschaft des Menschen, als Potential verschiedener Lebensformen, als besondere Fähigkeit oder als das Ergebnis von Leistung. Einige Auto- rinnen*Autoren stimmen darin überein, dass ein „universalistischer, die Gattung Mensch betreffender Begriff der Würde auf spezifisch menschliche Charakteristika verweisen muss.“9 Worin genau ein solches menschliches Spezifikum liegt, das die besondere Würde der menschlichen Lebensform rechtfertigen soll, ist ein weiterer Konfliktpunkt, der wiederum nur einen Teil der Debatte, nämlich innerhalb des nichtrelationalen Lagers, ausmacht.10 In anderen Positionen wird der Diskurs auf die bioethische Debatte heruntergebrochen und Würde als Platzhalterin für einen „Ethos des Bewahrens“ der pragmatischen Glücksmaximierung moderner pränataler ,Menschenoptimierung' gegenübergestellt.11 Es herrscht eine generelle Diskussion darum, „welche Maßnahmen mit dem Prinzip der Menschenwürde vereinbar sind und welche nicht.“12 Zusammengefasst ist in den Diskussionslandschaften weder zu erkennen, wem Würde zukommt, noch was Würde ist und auch nicht, welche konkreten Folgerungen aus dem Begriff ,Menschenwürde' gezogen werden können, außer der bestehenden Menschenrechte. Trotz aller Diskrepanzen kann Menschenwürde im Zusammenhang mit Menschenrechten als Grundbegriff' betrachtet werden, „der vor allem für die Idee und Bestimmung gleicher Rechte eine unersetzbare argumentative Rolle spielen soll“13. Davon ausgegangen, dass Rechte reziprok erteilt werden, ist Menschenwürde auf den ersten Blick nicht notwendig. Doch zielt die Funktion von Würde nicht nur auf das konkrete Festsetzen von Rechten, sondern auch auf die Bestimmung entsprechender Rechtssubjekte.14 Wie genau Menschenrechte aus Menschenwürde abgeleitet werden können, ist selbst umstritten, das zugrundeliegende Muster ist jedoch bei einem Großteil der Ansätze gleich. Würde gilt als begründender Wert, Menschenrechte gelten als die zu begründende Norm. Die Norm muss aus dem Wert abgeleitet und durch diesen fundiert werden.15 In der gängigen Argumentation wird im ersten Schritt die Menschenwürde mit dem Menschen identifiziert und darüber eine Begründung für universelle Menschenrechte eröffnet. Anschließend muss begründet werden, warum Menschenrechte für alle Menschen gleich gelten, da Menschenrechte universell und egalitär sind. Diese Vorstellung muss sich bereits im Begriff der Würde finden.16
Um der Unübersichtlichkeit des Diskurses zu entgegnen ist es sinnvoll, die allen Positionen gemeine Ableitung der Menschenrechte aus der Menschenwürde auf ihre Vorannahmen hin zu untersuchen. Auf diese Weise können einige Positionen aussortiert werden, die mit diesen Annahmen nicht vereinbar sind. Der Erfolg einer möglichen Begründung von Menschenrechten über Menschenwürde wird im Wesentlichen vom Inhalt Letzterer bestimmt.17 Ohne hierbei eine bestimmte Position zu vertreten ist es sinnvoll, allgemeine Überlegungen zu den notwendigen Eigenschaften einer für das Vorhaben erfolgreichen Würdedefinition anzustellen. Sinn des Abschnittes ist es nicht, einen eigenen, weiteren Ansatz zu entwickeln, sondern Bedingungen aufzustellen, die eine Würdedefinition erfüllen muss, damit sie als Grundlage für Menschenrechte herhalten kann. Zu diesem Zweck wird das gängige Verfahren umgekehrt und Voraussetzungen des Wertes (Würde) formal aus der Norm (Menschenrechte) abgeleitet. Da es sich um Vorüberlegungen handelt und keine eigene Position gegeben wird, ist dieses Verfahren zwar nicht weniger zirkulär, dennoch unproblematisch, da versucht wird ein Raster zu erarbeiten, um vorhandene Theorien auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Beim Aufstellen der Bedingungen wird auf verschiedene Spezifika der Menschenrechte, wie sie von den Vereinten Nationen vertreten werden, eingegangen.
Einige Implikationen einer Würdedefinition ergeben sich aus dem universellen Anspruch der Menschenrechte. Diese sollen jedem Menschen gleichermaßen zukommen, entsprechend muss auch in jedem Menschen Würde vorhanden sein, aufgrund derer die Rechte der Einzelperson begründet werden können. Angesichts der Tatsache, dass es faktisch jedoch Personen gibt, die in komplett entwürdigenden' Verhältnissen leben müssen, wirft das ein Problem auf: Einerseits muss jeder Mensch an der Würde partizipieren, damit seine individuellen Rechte aus ihr abgeleitet werden können, andererseits ist es bei der hier diskutierten Ableitung Zweck der Menschenrechte, den Schutz von Menschenwürde zu garantieren. Die Gefahr besteht darin, dass vollkommen entwürdigte Menschen demnach nicht mehr unter den Schutz jener Rechte fallen, die den Verlust ihrer Würde eigentlich hätten verhindern sollen. Dementgegen kann Würde als unverlierbare Eigenschaft des Menschen angesehen werden, was hingegen fragwürdig macht, warum es dann Menschenrechte zu ihrem Schutz braucht. Menke und Pollmann versuchen dem zu entgehen, indem sie Würde als ein Potenzial begreifen, das in unterschiedlichem Maß verwirklicht sein kann. Es bleibt demnach immer eine unantastbare Restwürde, die sich in einer Form der Selbstachtung manifestiert.18 Das ist jedoch wenig überzeugend. Wird Würde in einem stoischen Sinne als ,Ungebrochensein' - unter welchen Umständen auch immer - verstanden, stellt ihre Formulierung als unantastbar einen häufig unerfüllbaren Anspruch an jene, die tatsächlich starken Angriffen auf ihren Selbstwert ausgesetzt sind. Obwohl den Betroffenen intuitiv keine Schuld am Verlust ihrer Würde zugeschrieben wird, müsste eine Teilverantwortung daraus jedoch notwendig folgen. Fraglich ist auch, warum ein Mehr an Würde als das menschliche Minimum erstrebt werden soll. Um den genannten Problemen auszuweichen, müssen folgende Bedingungen aufgestellt werden: Da Menschenrechte für alle Menschen gelten sollen, muss jeder Mensch an einem unverlierbaren Minimum an Menschenwürde teilhaben (1). Unverlierbar heißt dabei, dass es an keine Bedingungen geknüpft sein darf, die nicht notwendigerweise von allen Menschen erfüllt wird. Das bedeutet, dass Menschenwürde entweder als etwas Menscheneigenes, allen Zukommendes erkannt werden muss oder in seiner Konstruktion alle Menschen einschließen muss. Weil es faktisch zu Handlungen kommt, die als Verletzungen der Menschenwürde verstanden werden und Menschenrechte diese verhindern sollen, muss es unterschiedlich starke Ausprägungen von Würde geben (2). Unter Berücksichtigung von Bedingung 1 ist dies bereits schwierig, da nicht einleuchtend ist, wie jemand zum Beispiel mehr oder weniger Mensch sein kann. Menschenwürde müsste also mehr sein, als bloß Mensch zu sein, aber muss sich auch notwendig aus dem Menschsein ergeben. Vergleichbar wäre Bedürftigkeit. Es ist etwas anderes bedürftig zu sein, als Mensch zu sein. Dennoch haben alle Menschen Bedürfnisse, manche Menschen jedoch stärkere als andere. Entsprechend könnten sie als ^bedürftiger' bezeichnet werden. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, inwiefern Würde mit dem Menschen identifiziert werden könnte, ohne dass sie sich auf Menschsein an sich beschränkt. Es gibt ein Minimum an Bedürfnissen, dass kein Mensch unterschreiten kann, aber es gibt auch unterschiedliche Ausprägungen. Dass Menschenrechte den Zweck verfolgen, den Schutz einer möglichst vollkommenen Würde zu garantieren impliziert außerdem, anders als bei Bedürftigkeit, dass es sich bei Würde um ein kumulatives Gut handelt, das heißt, je mehr Würde jemandem zukommt, desto besser ist das für die betroffene Person (3). Ansonsten wäre vor diesem Hintergrund nicht plausibel, welchen Zweck die Menschenrechte verfolgen, wenn ohnehin jedem Menschen in gleichem Maße Würde zukommt.
Mehr Aufschluss über den konkreten Inhalt dessen, was als Würde bezeichnet wird, gibt die Betrachtung der einzelnen Menschenrechte im Speziellen. Um die Menschenrechte extensional zu begründen, muss jedes Menschenrecht auf das Wesen der Würde zurückzuführen sein. Bei Betrachtung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ergibt sich dabei folgende Struktur: Die konkreten Rechte zielen auf die Sicherung von drei wesentlichen Aspekten ab, die sich gegenseitig stützen und an verschiedenen Stellen aufeinander verweisen. Aus diesen „Kernidealen" der Menschenrechte können in der Folge spezifische, an der Lebenswirklichkeit orientierte Handlungsregeln abgeleitet werden. Sie selbst müssen dem Begründungsmuster folgend jedoch Schlüsselaspekte der menschlichen Würde erfassen. Es handelt sich dabei um Sicherheit, Gleichheit und Freiheit. Sicherheit wird im Recht auf Leben ausgedrückt und all jenen Rechten, die darauf abzielen die Einzelperson vor staatlicher Willkür und Schädigung durch andere zu schützen. Damit wird gleichermaßen körperliche Unversehrtheit garantiert sowie der Schutz vor sozialer Verelendung und Armut. Rainer Forst weist darauf hin, dass das Üble an der Armut nicht die allgemeine Lebenssituation ist, sondern die strukturelle Ungleichbehandlung durch andere. 19 Diese findet ihre Abwehr im zweiten Aspekt, der Gleichheit. Sie steht bereits im ersten Artikel als Gleichheit an Rechten und wird in den meisten Menschenrechten erneut aufgegriffen und spezifiziert, zum Beispiel im Recht auf Partizipation oder auf gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit. Nur unter Bedingung von Gleichheit und Sicherheit kann für alle Menschen auch der dritte Aspekt, Freiheit, in gleichem Maße gelten, da sich sonst einerseits aus struktureller Unterdrückung andererseits aus Angst vor willkürlicher Schädigung ein Hemmnis dieser ergibt. Freiheit kommt in verschiedenen Entfaltungsrechten zum Ausdruck, wie der freien Wahl der*des Partnerin*Partners, und steht ebenfalls an prominenter Stelle bereits im ersten Artikel. Für alle drei Aspekte gilt, dass sie zum einen am Anfang der Menschenrechte als erstrebtes Ideal postuliert werden, zum anderen im weiteren Verlauf ihre Spezifizierung anhand von konkreten Normen finden. Während sich in den spezifischen Menschenrechten vor allem ein politisches Projekt abbildet, das durch die formulierten Ansprüche Gestaltungsräume beschreibt, müssen die abstrakteren Ideale direkt auf die Würde zurückzuführen sein. Da Sicherheit, Freiheit und Gleichheit sich wechselseitig bedingen, können sie in einem Kriterium zusammengefasst werden. Dies ermöglicht die anderen beiden Ideale auch aus Theorien abzuleiten, die ihren Fokus nur auf einen der drei Aspekte legen. Würde muss insofern etwas mit den genannten Werten zu tun haben, als dass sie in ihrer Entfaltung proportional daran gekoppelt ist. Auf die höchste Stufe entfaltete Würde kommt also den Menschen zu, wenn sie (4) möglichst frei, möglichst gleich und dabei möglichst sicher sind. Dieser Verweis auf den Inhalt der Würde ist bei ihrer Bestimmung in jedem Fall zu beachten, damit ein Begründungszusammenhang mit den existierenden Menschenrechten hergestellt werden kann.
Die Bedingungen, denen eine Definition der Menschenwürde standhalten muss, wenn aus ihr Menschenrechte abgeleitet werden sollen, lauten folglich:
(1) Jeder Mensch hat an der Würde teil.
(2) Es gibt verschieden starke Ausprägungen von Menschenwürde.
(3) Je mehr Würde ein Mensch innehat desto besser ist das für die*den Betroffene*n.
(4) Würde verlangt zu ihrer Entfaltung Sicherheit, Gleichheit und Freiheit der Menschen.
Die Aufzählung der genannten Kriterien ist offen für Ergänzungen. Es handelt sich dabei um notwendige Bedingungen, die sich aus den Implikationen der verbreiteten Idee von Menschenrecht ergeben und entsprechend deren Grundlage bilden. Werden diese Bedingungen nicht erfüllt, kann ein System, dass die aktuellen Menschenrechte auf Grundlage der Menschenwürde behauptet nicht mehr kohärent sein. Umgekehrt bedeutet eine vollständige Erfüllung der Kriterien jedoch nicht, dass eine Ableitung von Menschenrechten auf Grundlage der Würde zwangsläufig erfolgreich ist. Hingegen ergeben sich weitere Sonderbedingungen die nur auf spezielle Theorien zutreffen aus den strukturellen Anforderungen dieser. Da sich der größte Teil der Debatte zwischen einem Würderealismus und einem Würdekonstruktivismus abspielt, sollen solche Sonderbedingungen in Kapitel 3.1 aufgestellt werden.
3 Würderealismus und Würdekonstruktivismus
Da Würde als Wert aufgefasst werden kann, ist es möglich die Vielzahl unterschiedlicher Positionen auf eine basalere methaethische Debatte zurückzuführen. Würde als potentiell universell mit Angehörigen der Spezies ,Mensch‘ verknüpfter Wert kann möglicherweise ähnlich einer biologischen Eigenschaft naturalisiert werden. Es wird in solchen Positionen implizit davon ausgegangen, dass Werte an sich in der Welt vorhanden sind und Würde als ein Wert Menschen automatisch, aufgrund ihrer Natur zukommt. Demgegenüber steht die Ansicht, dass, ebenso wie Werte allgemein, auch Würde etwas Konstruiertes ist und die Zuschreibung zu den entsprechenden Adressatinnen*Adressaten im Rahmen der Konstruktion erfolgt. Die Debatte um die Beschaffenheit und den Inhalt der Menschenwürde ist also eng verknüpft mit der Debatte zwischen Werterealismus und Wertekonstruktivismus. 20
Der Werterealismus umfasst jene Positionen, die davon ausgehen, dass es Werte als etwas Objektives, in der Welt real Vorhandenes gibt.18 Dieser Ansatz wurde insbesondere von Thomas Nagel stark gemacht.19 Auf Würde bezogen bedeutet das, dass Würde als eine natürliche, wertvolle Mitgift qua Menschsein aufgefasst wird. Diese Position wird im Folgenden als Würderealismus bezeichnet. Um einen Eindruck über die Argumentationsmuster von Vertreterinnen*Vertretern eines Würderealismus zu erlangen, wird im folgenden die Position Robert Spaemanns dargestellt. Diese ist weder besonders populär, noch dominiert sie das beschriebene Lager. Für eine würderealistische Position ist sie jedoch exemplarisch. Spaemann argumentiert aus einer theologischen und anthropologischen Perspektive und stellt heraus, dass Menschenwürde nur über Religion postuliert werden kann, zu ihrer höchsten Ausprägung jedoch über menschliches Vermögen gelangt. Spaemann behauptet die Würde als ontologisches Merkmal, das historisch Ausdruck in einer inneren Ruhe, Kraft oder Seinsmächtigkeit findet, wie sie zum Beispiel im Verzicht auf Macht zu Vorschein kommt.20 Die Kopplung des Würdebegriffs an den Menschen als solchen taucht erst mit der Stoa beziehungsweise dem dicht darauffolgenden Christentum auf. Der Grund dafür kann für Spaemann nicht in der Spezieszugehörigkeit selbst liegen, da Würde nicht nur Selbstzweck für sich, sondern Selbstzweck schlechthin bedeutet. Dass der Mensch für sich selbst das höchste Wesen auf der Erde darstellt macht den Wert vom Subjekt abhängig. Entsprechend wäre der Mensch nichts Besonderes, sondern nur für sich selbst besonders. Diese Position erachtet Spaemann jedoch nicht als zufriedenstellend.21 Er folgert aus der Subjektivität des Wertes, dass ein leidfreier Mord an einer Person ohne Angehörige kein moralisches Problem darstelle, außer es würden zwei weitere Möglichkeiten berücksichtigt. Die erste ist, dass der Mensch seinen physischen Tod überdauert und entsprechend nach dem Sterben darunter leiden kann. Die zweite Möglichkeit ist, dass es einen Gott gibt, dem das Leben jedes einzelnen Menschen an sich wertvoll ist. Aus letzterem ergibt sich für Spaemann eine Kostbarkeit des Menschen an sich und Würde erhält eine ontologische Dimension indem sie jedem Menschen qua Menschsein zukommt, von Gott verliehen.22 Dies stellt jedoch nur das Minimum an Würde dar, das einem Menschen zukommen kann. Der Rest ergibt sich aus der potentiellen Sittlichkeit der Menschen. Diese können sich, im Gegensatz zu nicht-menschlichen Tieren, den natürlichen Zweckzusammenhang aneignen, in dem sich die Dinge ursprünglicher Weise befinden. Diese Eigenschaft befähigt sie sich selbst zu relativieren und, zumindest in Freiheit, die Interessen anderer in einem Rechtfertigungsdiskurs zu berücksichtigen. In der Folge sind Menschen nicht nur befähigt Umwelt zu konstruieren, sondern sich in den Hintergrund zu rücken und so als Umwelt zu denken. Die Fähigkeit zur eigenen Relativierung macht den Menschen zu etwas Absolutem und lässt ihn als potentiell sittliches Wesen zum ^absoluten Selbstzweck' avancieren. Aus diesem Grund kommt dem Menschen nach Spaemann Würde zu.23 Daraus folgt, dass Würde zwar ungleich verteilt ist, aber niemand keine Würde hat. Es bleibt laut Spaemann immer ein Teil Restwürde bestehen. Die Ungleichheit ergibt sich aus dem individuellen Verhalten der Personen. Größte Würde kommt dabei jenen zuteil, die am meisten Verantwortung für ihre Umwelt übernehmen und ihre eigenen Interessen nicht an erste Stelle setzen.24 Kernthese würderealistischer Positionen ist, dass Menschenwürde dem Menschen auf beliebige Weise als ontologische Eigenschaft zugeschrieben wird. Spaemann argumentiert in diesem Sinne gleich zweifach. Einerseits plädiert er dafür, dass jedem Menschen Würde zukommt aufgrund einer besonderen Wertschätzung durch Gott, andererseits ist Menschenwürde das Produkt der potenziellen Sittlichkeit von Menschen. Ähnliche Eigenschaften werden in anderen würderealistischen Positionen angeführt.
Der Wertekonstruktivismus dagegen verneint die Existenz objektiver Werte und argumentiert dafür, dass es sich bei Werten immer um ein Konstrukt handelt, das sich zum Beispiel kulturspezifisch etabliert hat oder aus den rationalen Überlegungen von Akteurinnen*Akteuren ergibt.25 Als klassische Vertretende hierfür können Christine Korsgaard oder John Rawls angeführt werden. Auf Würde bezogen bedeutet das, dass es sich hierbei zum Beispiel um ein sinnvolles theoretisches Konstrukt handelt, auf deren Grundlage Menschenrechte begründet werden können. Diese Position wird im folgenden als Würdekonstruktivismus bezeichnet.
[...]
1 Vgl. GG I. Art.1, Abs.1-2.
2 Pollmann/Menke (2008), 132.
3 Gosepath/Menke (2005), 569.
4 Vgl. Pollmann/Menke (2008), 132; Gosepath/Menke (2005), 569; Lohmann (S. 2011), 34.
5 Vgl. Leist (2005), 597 f.
6 Vgl. Kunzmann (2011), 31.
7 Vgl. Kondylis (1992).
8 Vgl. Pollmann/Menke (2008), 134 f.; Niederberger (2018), 84; Spaemann (1987), 78 f.
9 Pollmann/Menke (2008), 138.
10 Vgl. ebd.
11 Vgl. Kunzmann (2011), 34.
12 Knoepffler (2011), 11.
13 Gosepath/Menke (2005), 567.
14 Vgl. ebd., 567 f.
15 Vgl. Leist (2005), 599.
16 Vgl. ebd., 600.
17 Ebd., 601.
18 Vgl. Cremonini (1996), 437.
19 Vgl. Nagel (1992).
20 Vgl. Spaemann (1987), 84ff.
21 Wenn dem so wäre, könnte man ihn nicht dem Würderealismus zuordnen.
22 Vgl. Spaemann (1987), 87f.
23 Vgl. ebd., 88ff.
24 Vgl. Spaemann (1987), 91.
25 Vgl. Bagnoli (2020), 1.